93. Kapitel
Am Weihnachtstag begann der Tag für Tia früh. Sie war einer der ersten, die hinunter zum Frühstück gingen, aber außer ihr waren auch noch Remus und Mrs Weasley auf den Beinen. Während Mrs Weasley schon fleißig am Herd ein wunderbares Weihnachtsfrühstück herbeizauberte, las Remus am Tisch in einem Buch und als er hörte, wie sie die Küche betrat, sah er auf.
„Frohe Weihnachten, Tia", wünschte er ihr lächelnd.
„Frohe Weihnachten", meinte Tia und setzte sich an den Tisch, „Und frohe Weihnachten, Mrs Weasley."
Mrs Weasley murmelte einen Weihnachtsgruß, sah Tia aber nicht einmal richtig an, sondern hielt ihren Blick starr auf das Essen gerichtet, als könnte es jeden Moment verbrennen. Tia machte das nichts aus – sie wusste, dass Mrs Weasley sie nicht sonderlich leiden konnte, aber das hinderte sie natürlich nicht daran, höflich zu bleiben.
Einen Moment lang herrschte Stille, dann begannen Remus und Tia gleichzeitig zu sprechen: „Danke für die Schokolade..." Sie beide verstummten, schauten sich einen Moment perplex an, bevor sie zu lachen begannen. Sie hatten sich gegenseitig verschiedene Sorten Schokolade zu Weihnachten geschenkt, wie es schien und waren sich wieder einmal ähnlicher, als man meinen konnte.
Mit der Zeit kamen mehr Leute in die Küche, um zu Frühstücken und um den Tisch versammelten sich einige Leute.
Liza und Charlie kamen aus dem Krankenhaus, nachdem Charlie Liza davon überzeugt hatte, dass Mr Weasley auch einige Zeit ohne sie zurechtkommen würde und mit ihnen kam Lizas Bruder Konstantin. Auch Tonks und Moody schlossen sich der Weihnachtsgesellschaft an und im ganzen Haus hörte man die Leute, die aufwachten sich gegenseitig „Frohe Weihnachten" wünschen. Als der Großteil wach war und beim Frühstück saß und Mrs Weasley Toast, Speck und Eier verteilte, läutete es plötzlich.
„Wie oft soll ich denn noch sagen – nicht läuten!", fluchte Sirius, als er aufsprang, sobald er seine Mutter oben kreischen hörte. Remus und Tia folgten seinem Beispiel – ihre empfindlichen Gehöre wollten Mrs Black so schnell wie möglich zum Schweigen bringen, während Mrs Weasley ging, um die Tür zu öffnen, aber mit ihrem Zauberstab in der Hand.
Es war Weihnachten und alle, die gesagt hatten, dass sie kommen würden waren schon anwesend, also konnte sie sich nicht erklären, wer noch fehlte.
Misstrauisch öffnete Mrs Weasley vorsichtig die Tür und stand vor einer älteren Frau, die ihn bekannt vorkam. Ihre Haut war ein wenig faltig, aber noch perfekt gebräunt, ihre Haare zum größten Teil schwarz, aber mit vielen grauen Strähnen und ihre Augen waren dunkel und intelligent. Sie war, trotz ihres Alters noch immer hübsch anzusehen, wie Mrs Weasley auffiel, aber im ersten Moment konnte sie sich nicht erklären, wie diese Frau denn zu diesem Haus gekommen war, denn sie kannte sie nicht.
„Bin ich hier richtig?", fragte die Frau sofort mit einer ernsten Stimme, „Remus hat mir nur die Adresse gesagt – ich suche Grimmauldplatz Nummer zwölf."
„Ja... ja, da sind Sie richtig", stammelte Mrs Weasley verwundert, bevor sie sich räusperte, „Wer... wer sind Sie?"
„Mein Name ist Carla Fuego und man hat mir gesagt, dass ich hier meine Enkelin finden kann."
Tia, die gerade mit Sirius und Remus Mrs Black endlich zum Schweigen bringen konnte, horchte bei dem Klang der Stimme ihrer Großmutter auf. Ihr Blick glitt zur Tür, aber bevor sie ihre abuelita sah, roch sie ihren vertrauten Geruch nach Chili und Orangen.
„Abuelita!", rief Tia überrascht und glücklich, bevor sie aufsprang, um ihre Großmutter an der Tür zu begrüßen. Sie huschte an Mrs Weasley vorbei zu Carla, um sie stürmisch zu umarmen.
„Da ist sie ja!", Carla lächelte, als sie ihre Enkelin nach so langer Zeit wieder in den Arm schließen konnte, „Querida! Bist du gewachsen?"
Tia antwortete ihr nicht, sondern ging nur einen Schritt zurück, um ihre Großmutter genauer anzusehen. Die Zeit in Spanien hatte ihr wohl gutgetan, denn ihre Haut war noch dunkler, als Tia es in Erinnerung hatte und sie sah gesund und munter wie immer aus. „Warum bist du hier?", fragte Tia stattdessen und legte den Kopf schief.
„Remus hat mich eingeladen, über Weihnachten hier zu bleiben", erklärte Carla geduldig, „Er hat das alles mit Professor Dumbledore und Sirius abgesprochen und für die Ferien bleibe ich hier."
„Und dann gehst du wieder nach Spanien?", fragte Tia ein wenig bedrückt und Carla strich ihr liebevoll über die Wange.
„Denk jetzt nicht an die Zukunft, querida. Wichtig ist das Hier und Jetzt", tröstete Carla ihre Enkelin, „Wollen wir hineingehen? Ich bin die englische Kälte nicht mehr gewohnt."
„Daran kann man sich nicht gewöhnen", schnaubte Tia, die, obwohl sie in England aufgewachsen war, noch immer empfindlich Kälte gegenüber war, als würde sich ihre spanischen Wurzeln auf eine irrationale Weise durchsetzen wollen.
Mrs Weasley war noch immer perplex, als Carla und Tia zusammen das Haus betraten, aber sie hatte sich schon zusammengereimt, dass das Tias Großmutter war. Wage konnte sie sich daran erinnern, wie sie Tia und Carla einmal in der Winkelgasse begegnet war und damals hatte sie beide für freundlich empfunden. Bisher hatte sie sich gar nicht mehr an das kurze Treffen erinnern können, aber jetzt kam das alles wieder zurück und sie erinnerte sich, wie sympathisch ihr Tia gewesen war und sie war sogar verwundert gewesen, dass jemand so freundliches mit Fred und George befreundet war. Vielleicht hatte sie das Mädchen ja doch zu früh in eine Schublade gesteckt, nur weil sie mit einem ihrer Söhne zusammen war.
Remus und Sirius hatte mit respektablen Abstand Tia die Chance gegeben, ihre Großmutter als erstes zu begrüßen und hatten die Wiedervereinigung mit einem Lächeln beobachtet, aber nun, als Carla das dunkle Haus betrat, zogen die beiden sofort den Blick der älteren Dame auf sich.
„Remus, Sirius", sie lächelte tatsächlich, als sie die beiden sah, „Meine Jungs – kommt her."
Die beiden ließen sich das nicht zweimal sagen, sondern ließen sich nur allzu gerne in eine Umarmung schließen.
„Wer ist das?", Harry war gekommen und hatte verwundert beobachtet, wie Sirius sich von dieser fremden Dame umarmen ließ, als wäre sie seine Mutter, obwohl er wohl seiner wirklichen Mutter – Mrs Black niemals so umarmt worden war. Carlas Blick legte sich auf den Jungen und Harry erkannte sofort die Ähnlichkeiten, die sie mit Tia teilte. Natürlich sah man Tia, wenn man genau hinsah an, dass sie Remus' Tochter war, aber die Ähnlichkeiten mit Carla waren erschreckend.
„Du musst Harry Potter sein", bemerkte Carla mit einem Lächeln im Gesicht und Harry zuckte ein wenig zusammen – natürlich kannte sie seinen Namen. Jeder kannte seinen Namen.
„Ich habe nie die Chance gehabt, mich zu bedanken", Harry sah überrascht auf, als Carla das zu ihm sagte.
„Bedanken?", wiederholte er. Warum sollte sichirgendjemand bei ihm bedanken? Seiner Meinung nach war er eine Gefahr für alle, die in seiner Nähe waren.
„Du hast doch den Basilisken besiegt, der Tia versteinert hat, oder nicht?", erinnerte sich Carla, „Dafür bedanke ich mich."
„Das... oh... das war doch gar nichts", winkte Harry ab und wurde ein wenig rot.
Carla musterte ihn und ihr Blick erinnerte Harry ein wenig an Professor McGonagall.
„Mein Name ist Carla Fuego – ich bin Tias Großmutter", stellte sie sich vor und hielt ihm die Hand die, die Harry sofort schüttelte – sie hatte einen kräftigen Händedruck, aber nicht so, dass es wehtat.
„Freut mich", Harry nickte und vermied Augenkontakt. Diese Frau war ziemlich einschüchternd, obwohl Harry wusste, dass sie ein Muggel war.
„Wir sind alle in der Küche", meinte Remus, „Es gibt gerade Frühstück."
„Dann essen wir!", Carla scheuchte die beiden Männer vor sich her, „Ihr beide sehr so abgemagert aus – esst ihr überhaupt, wenn ich nicht in der Nähe bin?"
„Wir essen genug, Carla", versprach Remus, aber er lächelte.
„Das hoffe ich für euch", Carla hielt Sirius und Remus drohend ihren Zeigefinger ins Gesicht, „Sonst komme ich wieder aus Spanien hierher und sorge persönlich dafür, dass ihr beide esst."
Tia führte ihre Großmutter in die Küche und einige sahen neugierig zu ihr, als die fremde Frau den Raum betrat, aber Carla schien die Blicke gar nicht zu bemerken, sondern bewahrte ihre Haltung und behielt stolz ihren Kopf oben.
„Darf ich vorstellen – Carla Fuego", stellte Remus die ältere Dame lächelnd vor.
„Sie wird über Weihnachten hier bei uns bleiben", Sirius legte einen Arm über Carlas Schulter, aber sie schüttelte ihn mit einer einzigen fließenden Bewegung ab.
„Willst du etwas essen?", fragte Tia ihre Großmutter, „Ich weiß doch, du magst das Essen in Flugzeugen nicht."
„Es gibt gerade Frühstück", meinte Mrs Weasley, die Carla mit einer unsicheren Miene ansah. Diese Frau war wunderschön, das musste sie zugeben und man sah die Ähnlichkeiten zu Tia, aber dennoch war etwas an dieser Frau, das Mrs Weasley an Professor McGonagall erinnerte – etwas Strenges und Ernstes.
„Machen Sie sich keine Umstände, Señora, ich komme schon zurecht. Ich möchte keine Umstände machen", scheuchte Carla sie sofort weg.
„Nein, nein, Sie machen keine Umstände", versprach Mrs Weasley sofort, „Setzen Sie sich. Sie sind lange gereist?"
„Carla kommt gerade aus Spanien", erklärte Remus, bevor Carla selbst antworten konnte.
„Wer kommt aus Spanien?", in diesem Moment kamen Fred und George in die Küche, wohl mitten in der Planung einer ihrer Streiche, aber als George das hörte, vermutete er, dass es um Tia ging und war sofort bereit, sie zu verteidigen, wenn es nötig war, aber stattdessen erblickte er dort eine ältere Version von Tia.
„Mrs Fuego!", begrüßte er sie überrascht.
„Nenn mich doch Carla, George", verlange sie und zog ihn in eine mütterliche Umarmung, „Wie geht es dir, mein Junge?"
„Ganz gut", stammelte George verwirrt, „Was machst du hier?"
„Ich besuche meine Enkelin", schnaubte Carla, „Das scheint einige hier zu verwundern."
„Nun, Sie sind ein Muggel", zeigte Fred geradeheraus auf und George stieß ihm leicht in die Seite, aber Carla schien alles andere als verunsichert von dieser Aussage.
„Du musst Fred sein", bemerkte Carla, „Tia hat viel von euch beiden erzählt."
„Hat sie das?", George grinste seine Freundin schelmisch an, diese aber wurde gegen aller Erwartungen nicht rot, sondern grinste nur zurück und erwiderte: „Natürlich nur Schlechtes."
„Macht euch langsam fertig – wir fahren bald los", bat Mrs Weasley ihre Kinder und unterbrach damit die Unterhaltung.
„Du auch, querida, zieh dir etwas Schönes an, wir fahren in die Stadt", wandte sich Carla an ihre Enkelin.
„Ihr kommt nicht mit?", fragte George überrascht, „Wir wollten Dad im Krankenhaus besuchen."
„Ich glaube nicht, dass ich wirklich willkommen wäre", wisperte Tia ihrem Freund leise zu, damit Mrs Weasley sie nicht hörte.
„Keine Sorge, George, wenn ihr zurück seid, wartet Mittagessen auf euch. Tia und ich werden auf dem Markt einige Gewürze besorgen – das englische Essen kann ich nicht sehen!"
„Oh nein", murmelte Remus, „Vergesst Brot und Milch nicht..."
„Jetzt reiß dich zusammen, Remus, ein wenig Schärfe ist gesund", tadelte Carla ihn mit strengem Blick, aber ihre Augen funkelten belustigt, „Warum kommst du nicht mit, Sirius? Ich habe gehört, du bist schon einige Zeit hier eingesperrt?"
Sirius öffnete schon freudig den Mund, wohl um zuzustimmen, aber Mrs Weasley kam ihm zuvor: „Nein! Was ist, wenn ihn jemand sieht?"
„Unsinn", schnaubte Carla, „Wenn er in meiner Nähe ist, wird sowieso jeder nur Augen für mich haben. Niemand wird ihn in seiner Hundegestalt erkennen!"
„Nein, sie hat Recht", seufzte Sirius enttäuscht, „Dumbledores Anweisungen. Es ist schon ein Fehler gewesen, dass ich am Anfang vom Jahr sie zum Bahnhof begleitet habe."
„Dumbledore weiß nicht immer alles besser", winkte Carla unzufrieden ab, „Er sollte es besser wissen, als dich hier einzusperren!"
„Hinterfragen Sie etwa Dumbledores Entscheidungen?", fragte Mrs Weasley warnend, als wäre es schon Hochverrat an Dumbledore selbst.
„Señora Weasley, ich bin durchaus in der Lage, selbst für mich zu denken und ich weiß, dass es auf Dauer nicht gesund ist, jemanden einzusperren, auch wenn es nur in einem Haus ist. Besonders nicht für jemanden wie Sirius."
„Abuelita, ist schon in Ordnung", versuchte Tia die angespannte Stimmung ein wenig zu lockern, „Ich bin mir sicher, Dumbledore hat seine Gründe."
„Aber die sind sicher nicht gut genug", murmelte Carla leise, nur für Tia und Remus hörbar, „Dann eben nur wir beide, oder?"
Es herrschte eine angespannte Stimmung, als die Weasleys aus dem Krankenhaus zurückkamen.
Carla stand schon am Herd und Sirius half ihr beim Kochen, obwohl er vermutlich nur versuchte, das Essen so unscharf wie möglich zu würzen, damit Carla sie nicht alle innerlich verbrannte. Beide arbeiteten ohne Magie – etwas, auf das Carla großen Wert legte und Sirius hinterfragte es nicht lange, sondern schnitt Gemüse und rührte in Töpfen einfach händisch und ausnahmsweise einmal ohne Zauberei.
Molly war etwas überrascht, die ältere Frau tatsächlich beim Kochen anzutreffen, obwohl Carla dies schon angekündigt hatte, aber sie hatte nicht erwartet, dass sie es tatsächlich durchziehen würde.
Das Haus roch würzig und man konnte schon allein am Geruch erkennen, dass Carla spanisch gekocht hatte.
Molly betrat als erstes die Küche und Carla sah über die Schulter zu ihr, lächelte und meinte: „Das Essen ist bald fertig. Es braucht nur noch ein paar Minuten. Agnes, Tia – wollt ihr schnell den Tisch decken?"
Agnes, die mit Sirius im Haus geblieben war, während alle anderen ins Krankenhaus gefahren waren, widersprach Carla nicht, sondern begann zusammen mit Tia Teller auf den Tisch zu stellen.
„Das riecht himmlisch", lobte Konstantin, der hinter Molly in die Küche kam, „Was ist das?"
„Paella – typisch spanisch", erklärte Carla kurz, „Agnes hat auch einen Kuchen gebacken."
„Paella?", fragte Liza, die ebenfalls zum Essen gekommen war, „Was ist das?"
„Meeresfrüchte, Hühnchen, Reis und Gemüse – alles in einem Topf", erklärte Tia, „Alles, was gut ist, zusammengemischt."
„Es ist Tias Lieblingsessen", erklärte George und legte einen Arm um ihre Schultern, „Und es schmeckt wirklich – ihr müsst es probieren."
„Natürlich müssen sie das", schnaubte Carla, „Außer natürlich, sie wollen hungern."
Alle versammelten sich um den Tisch herum und außer den Weasleys, Harry und Hermine waren auch Remus, Tonks, Sirius und die beiden Gregorovich-Geschwister, Liza und Konstantin anwesend. Carla schöpfte allen und zuerst waren die meisten von ihnen noch etwas misstrauisch, aber nachdem sie erst einmal probiert hatten, aß jeder von ihnen. Molly war die letzte, die einen Löffel voll aß und sie war positiv überrascht von dem Rezept.
Einige Zeit aßen sie schweigend, bis Molly schließlich doch über ihren Schatten hinwegsprang, Carla ansah und höflich fragte: „Haben Sie etwas dagegen, mir das Rezept zu geben, Carla?"
Einige am Tisch waren überrascht von der Weasley-Mutter, aber Carla ließ sich das nicht anmerken und behielt Haltung. „Natürlich", Carla nickte und lächelte, „Das Rezept ist schon seit Generationen in meiner Familie. Mein Vater hat es mir beigebracht und ich habe es auch schon meiner Tochter und meiner Enkelin weitergegeben."
„Apropos Eva...", Remus verzog das Gesicht, als würde er das Thema, das er nun ansprechen musste überhaupt nicht ansprechen wollen, aber er wusste, dass er es musste, „Hast du es ihr schon gesagt, Carla?" Sein Blick huschte zu Tia und sofort wusste diese, dass sie gemeint war und neugierig sah sie zwischen Remus und Carla hin und her.
„Was ist?", fragte sie und legte den Kopf etwas schief.
Carla räusperte sich und stand auf, ohne ein Wort zu sagen, ging zu ihrer großen Handtasche, kramte einen Moment darin herum, bevor sie einen Brief hervorholte. Sie ging zum Tisch zurück, setzte sich langsam und sah ihre Enkelin einen Moment an, bevor sie ihr den Brief hinhielt.
Tia zögerte einen Moment, bevor sie die Hand ausstreckte, um den Brief an sich zu nehmen. Die Adresse von dem Haus, in dem sie mit ihrer abuelita gewohnt hatte war in feiner, sauberer Schrift auf der Rückseite zusammen mit ihrem vollständigen Namen geschrieben. Tia drehte ihn um, um zu sehen, wer der Absender war und erstarrte, als sie den Namen ihrer Mutter las – Eva Carla Olivia Constance Jones. Sie hatte eigentlich gar nicht gewusst, dass ihre Mutter einen ebenso langen Namen hatte, wie sie, auch wenn sie gewusst hatte, dass es Brauch in ihrer Familie war, den Kindern so ewige Namen zu geben. Und dann war da noch der Nachname, Jones. Natürlich hatte Tia gewusst, dass ihre Mutter einen Engländer geheiratet hatte, aber diesen Namen zu lesen, machte die gesamte Situation irgendwie... fix. Einen Moment lang dachte sie daran, was gewesen wäre, wenn ihre Mutter ihren Vater – Remus, nicht verlassen hätte. Würde sie jetzt „Lupin" heißen? Würde Tia zusammen mit ihrer Mutter und Remus wohnen, hätte sie dann überhaupt einen solchen Kontakt zu Carla, wie sie ihn jetzt hatte? Vermutlich nicht, aber die Traumvorstellung von einer funktionierenden Familie war doch verlockend – jetzt war Familie für Tia nur ein auseinandergerissener Begriff – ihre Mutter war mit jemand anderen verheiratet, hatte andere Kinder, die sie liebte; ihr Vater war ihr noch größtenteils fremd und obwohl sie Remus mochte, wusste sie noch nicht genau, ob sie ihn wie einen Vater liebte. Sie wusste nicht einmal, was es bedeutete, einen Vater zu lieben. Es war etwas sehr Abstraktes für sie und deswegen vermied sie es auch, daran zu denken; und dann war da noch Carla, ihre Großmutter, die sie großgezogen hatte, die aber mehr als nur eine Oma war – sie war Mutter, Vater und Freund gewesen in der Zeit, in der es zu riskant war, Tia auf eine öffentliche Schule gehen zu lassen – in einer Zeit, vor Hogwarts, vor Remus, vor dem Familienchaos. Damals, als es für Tia ganz normal gewesen war, nur mit Carla aufzuwachsen, weil sie es einfach nicht anders gekannt hatte.
Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie den Brief öffnete und sie wusste, dass jeder Blick am Tisch auf sie gerichtet war, aber in diesem Moment ignorierte sie es. Es war nicht direkt ein Brief – es war nur eine Weihnachtskarte. Ziemlich kitschig mit einem Rentier auf der Vorderseite und auf der Rückseite, wo normalerweise Platz für einige Worte war, hatte Eva nur unterschrieben, als hätte sie nicht gewusst, was sie überhaupt schreiben sollte. Vielleicht war es ihr die Mühe auch nicht wert gewesen, aber andererseits hatte sie sich die Mühe gemacht, überhaupt etwas zu schicken.
Tia war verwirrt. Jahrelang war sie ohne Mutter aufgewachsen und auf einmal bekam sie eine Weihnachtskarte von ihr.
„Entschuldigt mich bitte", murmelte sie, stand auf und eilte aus der Küche. Auf dem Weg hinaus warf sie die Karte ins Kaminfeuer, das wärmend prasselte und das Papier wurde innerhalb von Sekunden zerfressen.
„Ich sehe nach ihr", sagte Remus leise und stand ebenfalls auf. Carla warf ihm einen kurzen Blick zu, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie ihn aufhalten sollte oder nicht, aber dann wurde ihr Blick weich und sie nickte.
Remus fand seine Tochter in dem Zimmer, das sie sich mit Hermine und Ginny teilte. Sie saß auf ihrem Bett, weinte aber nicht, sondern sah nur furchtbar verloren aus.
Als Remus das Zimmer betrat, sah sie auf, blickte aber schnell wieder auf ihre Hände, die in ihrem Schoß gefaltet waren.
Remus zögerte einen Moment, bevor er vorsichtig fragte: „Darf ich reinkommen?"
Remus wusste, dass seine Tochter ihn gehört hatte, aber einen Moment schien sie so zu tun, als hätte sie es nicht, bevor sie langsam nickte. Remus ging langsam zu ihr – ein wenig unsicher, was er tun sollte. Er hatte nicht wirklich viel Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten, ein Vater zu sein. Es war niemals ein Plan von ihm gewesen aus Angst, dass sein Fluch auch seine Kinder beeinflussen könnte und das tat es auch bis zu einem gewissen Grad und Remus verfluchte sich selbst immer wieder dafür.
Natürlich kamen vielleicht auch Vorteile mit der Verwandtschaft zu einem Werwolf – verbesserte Sinne zum Beispiel, aber andererseits würde Remus es sich niemals verzeihen, dass er Tia die Chance genommen hatte, normal zu sein – jedenfalls so normal, wie man als Hexe sein konnte. Mit normaler Familie, normalen Eltern, normalen Eigenschaften und nicht solchen Eigenarten, wie zu Vollmond nicht schlafen zu können. Er verfluchte sich auch dafür, dass sie wegen ihm schon so häufig auf ihr unsauberes Blut angesprochen worden war – und zwar auf keine sonderlich höfliche Art und Weise. Natürlich waren auch noch Veela in ihrer Familie, aber er war ein Werwolf – um einiges schlimmer, als eine Veela.
Remus war ehrlich gesagt froh, dass sie nicht noch mehr Eigenarten eines Werwolfs übernommen hatte. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn sie sich ebenso verwandelt hätte zu Vollmond, wie er es tat. Niemand wäre bei ihr gewesen.
Natürlich konnte es sein, dass man den Fluch an sich nicht weitervererben kann, aber Remus hatte auch die Theorie, dass es daran lag, dass Tia in ihrer Familie auch noch nicht-magisches Blut hatte. Die Muggelgene ihrer Mutter könnten dominant genug sein, um die Verwandlung zu unterdrücken. Aber Remus wusste nicht, was passieren würde, wenn er mit einer Hexe ein Kind bekommen würde. Was würde dann mit diesem Kind sein? Vielleicht war das auch der Grund, warum er Tonks immer und immer wieder von sich wegstieß, obwohl er sie so nah wie möglich bei sich haben wollte.
„Ich verstehe das alles nicht", gestand Tia und Remus setzte sich langsam auf ihr Bett. Einen Moment war er unsicher, aber dann griff er doch nach ihrer Hand und hielt sie und Tia drückte sie fest, als wäre er der Anker, der sie auf dem Boden hielt.
„Meistens kann man solche Sachen auch nicht verstehen", erklärte Remus langsam, unsicher, ob seine Worte wirklich die waren, die Tia in diesem Moment hören wollte, „Die wenigsten Leute verstehe so etwas."
„Aber...", stammelte Tia, „Aber das macht alles keinen Sinn. Sie hat mich weggegeben und auf einmal will sie mich wieder kennenlernen? Warum?"
„Weil du ihre Tochter bist", schlug Remus vor, „Weil du einen Teil von ihr in dich trägst."
„Dann hätte sie mich eben nicht weggeben sollen", schnaubte Tia und in ihren Augen funkelte ein Feuer, das Remus nur selten sah – Tia war wütend.
„Ich will Eva nicht verteidigen, aber sie ist jung gewesen. Jetzt ist sie älter, reifer und vielleicht hat sie bemerkt, was für einen Fehler sie gemacht hat. Welchen Fehler sie gemacht hat, als sie ein so wunderbares, freundliches, hübsches Mädchen wie dich weggegeben hat."
„Was soll ich tun?", Tia sah ihrem Vater direkt in die Augen, „Antworten oder sie weiterhin ignorieren?"
„Was willst du denn?", fragte Remus, „Es ist deine Entscheidung und ich würde beide Schritte von dir verstehen – wenn du sie kennenlernen wölltest, oder nicht."
Tia überlegte einen Moment lang. „Ich... ich sehe Mrs Weasley und ich sehe, wie sie ihre Kinder liebt", begann sie und Remus nickte, sagte aber nichts, „Ich sehe andere Mütter, die ihre Kinder lieben – die Eltern von Alicia oder Leanne... dann gibt es noch Katies Familie – die sind schrecklich. Aber..."
Remus erwartete schon, dass sie sagte, dass sie ihre Mutter kennenlernen wollte und er hätte es tatsächlich verstanden – Kinder brauchten Mütter.
„...aber Eva ist nicht meine Mutter", Tia überraschte Remus damit, aber dieser versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, „Ich habe meine Familie – ich habe dich, meine abuelita, ich habe George und Katie, Leanne... vielleicht auch Alicia oder alle anderen. Sie sind meine Familie und ich habe sie mir vielleicht selbst zusammengesucht, aber sie ist meine."
Remus lächelte und breitete die Arme aus, um Tia die Chance zu geben, selbst zu entscheiden, ob sie ihr umarmen wollte oder nicht und sie tat es. Und Remus drückte seine Tochter fest an sich.
„Wir sind deine Familie", stimmte er ihr zu, „Und wir verlassen dich nicht. Versprochen."
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