47. Kapitel

Carla holte Tia wie jedes Jahr vom Bahnhof ab, aber dieses Jahr schien sie erstaunlich angespannt zu sein.

Tia hatte ihr Alicia vorgestellt und sofort hatte Carla ihr angeboten, über den Sommer einmal zu ihnen zu kommen. Nachdem sich Tia von allen ihren Freunden verabschiedet hatte, ging sie schon mit Carla zum Auto, aber sie fand es schade, dass Fred und George beide nicht aufzufinden waren und sie nicht auch zu denen beiden auf Wiedersehen sagen konnte.

„Ist etwas passiert?", fragte Tia ahnungslos.

Nein, querida, wie kommst du darauf?", fragte Carla, aber Tia sah, dass sie log.

„Wenn du mir nicht sagen willst, was wirklich los ist, dann kannst du mir das ruhig sagen", Tia sah ein wenig enttäuscht aus dem Autofenster, „Du musst mich nicht anlügen."

Carla war einen Moment still, bevor sie seufzte. „Ich weiß, querida, es tut mir leid. Du wirst es sehen, wenn wir zu Hause sind."

Als Carla das Auto vor ihrem Haus parkte, war ihr Nachbar im Garten. Tia kannte nur seinen Nachnamen – Mr Baselitz, aber sie kannte ihn schon, seit sie bei ihrer Großmutter wohnte und in all diesen Jahren hatte sie noch nie ein freundliches Wort von ihm gehört.

„Seht mal, wer zurück ist", seine hämische Stimme erinnerte Tia an Snape, wenn er mit Leanne sprach, „Der Freak ist wohl wieder zu Hause! Hat das Irrenhaus dich auch schon rausgeworfen?"

Carla legte eine Hand auf ihre Schulter und führte Tia direkt zur Haustür. Anders, als erwartet schloss Carla sie aber nicht auf, sondern die wohl schon offene Haustür auf und führte Tia hinein. Carla ließ niemals die Tür einfach so offen, wenn sie das Haus verließ – niemals.

Tia wollte direkt in die Küche gehen, aber Carla hielt sie noch zurück und sah sie ernst an.

„Tia, wenn du gleich da hineingehst, bitte hör uns einfach zu und sei verständnisvoll", bat Carla ihre Enkelin.

„Wie soll ich Verständnis zeigen, wenn ich nicht einmal weiß, worum es geht?", fragte Tia verwirrt und runzelte die Stirn, „Du weißt, ich hasse Rätselspiele, abuelita. Warum sagst du mir nicht einfach, was los ist?"

„Weil es kompliziert ist", seufzte Carla und führte Tia in die Küche.

Tia war tatsächlich überrascht, als sie Professor Lupin dort sitzen sah, einen Orangen-Ingwer-Salbei-Tee in der Hand und er lächelte sie müde an, als sie einen Moment stehenblieb, um die Umgebung zu analysieren.

„Hallo, Professor", begrüßte Tia ihn, „Schön Sie wiederzusehen."

Lupin schien etwas sagen zu wollen, aber Tia holte sich einfach selbst eine Tasse aus einem Kasten und schenkte sich aus der Kanne Tee selbst einen ein, bevor sie sich auf einen Stuhl setzte, als wäre nichts Ungewöhnlich an der ganzen Situation.

„Tia, wir müssen mit dir reden", meinte Carla sanft und setzte sich ebenfalls.

„Das sagst du schon die ganze Zeit, aber du redest nicht", bemerkte Tia, „Es kommen Wörter aus deinem Mund, aber du sagst nichts..."

„Ich weiß – ich will nur nicht, dass du die ganze Situation falsch verstehst und durchdrehst", gab Carla endlich zu.

„Ich bin mir nicht einmal sicher, was diese ganze Situation überhaupt sein sollte. Ich weiß nur dass ihr beide euch kennt und dass es um etwas ziemlich Unangenehmes gehen muss, sonst würdest du es mir einfach so sagen..."

„Damit hast du wohl den Nagel auf dem Kopf getroffen", meinte Lupin ruhig.

Anstatt zu erklären, legte Carla ein Foto auf den Tisch und nachdem Tia Lupin und Carla misstrauisch angesehen hatte, lehnte sie sich vor, um es anzusehen.

Es zeigte ihre Mutter und zu ihrer Überraschung Lupin, wie sie nebeneinander waren und in die Kamera lächelten. Sie sahen beide jünger aus, als wären sie kaum älter, als Tia selbst.

„Was hat das zu bedeuten?", fragte Tia verwirrt.

Lupin wollte nicht länger warten. Entweder sie nahm es positiv auf oder nicht, so oder so würde Tia sich bestimmt erst darauf einstellen müssen, dass er  ihr Vater war.

„Tia, dieser Mann, den deine... deine Mutter, Eva vor Jahren kennengelernt hat... dieser Mann, den sie nur eine Nacht gekannt hat und dieser Mann, von dem sie... von dem sie schwanger geworden war... das... das war ich", brachte Lupin endlich hervor und er meinte in Tias Kopf nahezu die Zahnräder rattern zu sehen.

„Du bist mein Vater", meinte sie und Lupin war sich nicht sicher, ob sie angeekelt, fröhlich, neugierig oder entsetzt klang – irgendwie war das im Moment ziemlich schwer zu sagen. Tias Gesicht verriet nichts und ebenso wenig ihre Stimme.

„Ja", meinte Lupin sicher und erwartete schon, dass Tia zu schreien beginnen würde, vielleicht weinen. Wahrscheinlich würde sie ihn hassen, aber er hoffte, dass er irgendwann ein Vater für sie sein konnte.

„Oh", machte Tia, „Seit wann wisst ihr es?"

„Vor den Weihnachtsferien hat deine Großmutter mich gesehen und mich sofort erkannt", erzählte Lupin, „Dieses Foto hat sie von deiner Mutter."

„Und warum sagt ihr es mir erst jetzt?", fragte Tia und runzelte die Stirn.

„Wir haben es für besser empfunden, wenn du es nicht weißt, solange Remus dein Lehrer ist", meinte Carla sanft, „Aber nachdem er gekündigt hat, ist er jetzt nicht mehr dein Lehrer..."

„Klingt plausibel", bemerkte Tia.

„Tara, nachdem ich deine Mutter kennengelernt habe, wollte ich wirklich nicht einfach so aus ihrem Leben wieder treten, aber sie hat mir nicht nur die falsche Adresse von ihrem Ferienhaus gegeben, sodass ich sie in London nicht besuchen habe können, sondern ich habe sogar Spanisch gelernt, damit ich eventuell nach Spanien gehen könnte, um sie dort zu suchen, aber dann sind James und Lily gestorben – Harrys Eltern... Sie sind meine Freunde gewesen und danach... danach war es mir nicht mehr wichtig, sie zu sehen. Es war beinahe so, als wäre diese Liebe gar keine gewesen..." Lupin klang so, als würde er sich über sich selbst lustig machen.

„Diese Effekte haben Veela auf andere Leute", nickte Tia und Lupin erbleichte.

„Ve-Veela?", stammelte er und sah zur Bestätigung zu Carla.

Carla nickte. „Meine Mutter war eine Veela. Meine Tochter ist zum Viertel eine Veela und hat schon immer gewusst, diese Talente einzusetzen."

„Oh, wow...", meinte Lupin und lehnte sich zurück, „Und ich habe gedacht, ich wäre wirklich verliebt."

„Nein", Tia schüttelte den Kopf, „Und so leid es mir tut, ich denke nicht, dass Eva in dich verliebt war..."

„Oh", machte Lupin wieder, „Auf jeden Fall wollte ich nicht, dass du ohne Vater aufwächst."

„Schon gut, du kannst nichts dafür", Tia zuckte mit den Schultern, aber Lupin schien die Bedeutung ihrer Worte nicht ganz verstanden zu haben.

„Weißt du, Tara, hätte ich gewusst, dass du existierst, dann wäre ich natürlich für dich dagewesen und hätte ich gewusst, dass Eva dich im Stich gelassen hat, dann wäre noch immer ich dagewesen und ich verstehe, dass du wütend auf mich bist, aber –"

„Das bin ich nicht", unterbrach Tia ihn, „Ich verstehe, warum du bis jetzt noch nicht da warst – du hast nichts von mir gewusst. Wie denn auch? Eva ist ja nicht mit dir in Kontakt geblieben und du hast nicht einmal wissen können, dass ich in England wohne, weil meine Mutter aus Spanien kommt."

„Eigentlich habe ich eine ganze Rede vorbereitet, um dich zu überzeugen, dass ich auch ein guter Vater sein kann, aber du zerstörst gerade den ganzen Sinn davon!"

„Entschuldigung?"

„Remus wird einige Zeit bei uns verbringen – nicht lange", erzählte Carla, „Ich will, dass ihr beide euch kennenlernt", sie sah beide streng an, „Remus – du hast versprochen, ein Vater zu sein. Vergiss das nicht nach ein paar Jahren. Tia – das ist dein Vater. Du hast noch nie ein Elternteil gehabt, aber ich bin mir sicher, du kannst das Beste daraus machen. Und jetzt raus aus meiner Küche – alle beide! Ich fange mit dem Kochen an!"

Sie scheuchte die beiden aus ihrer Küche raus und schloss die Tür hinter ihnen.

„Warum setzen wir uns nicht irgendwo hin und reden?", schlug Lupin vor, „Ich habe das Gefühl, als müsste ich dein ganzes Leben nachholen. Ich habe noch so viel über dich zu lernen!"

Sie setzten sich nach draußen auf die Treppen, wo die warme Sommersonne die Betonstufen aufgewärmt hatte und sie sich an die Wand lehnen konnten.

„Du magst also am liebsten Schokolade und scharfes Essen", riet Lupin.

„Alle Fuegos essen scharf", erzählte Tia und es fiel ihr erstaunlich leicht mit Lupin zu reden, „Es ist unsere geheime Superkraft. Selbst in Spanien ist die Familie meiner abuelita bekannt dafür gewesen, dass ihre Essen immer extrem scharf waren, darum haben ihre Freunde immer ungern bei ihnen gegessen."

„Gut, dass deine Oma jetzt Essen kocht", Lupin sah unsicher hinein und lachte nervös.

„Keine Sorge, normalerweise kocht sie weniger scharf, wenn Gäste hier sind, aber ich würde trotzdem vorsichtig sein. Meine Großmutter will Sie bestimmt an scharfes Essen gewöhnen!"

Lupin stockte. „Remus", meinte, „Du kannst mich ruhig Remus nennen. Oder auch... D-dad, wenn du das willst..."

Einen Moment war es still zwischen ihnen, bevor Tia leise antwortete: „Danke, R-remus, aber ich denke, du verstehst nicht ganz, wie unmöglich es für mich ist, dich D-dad zu nennen." Die Worte waren ungewohnt in ihrem Mund. Dad... Vater... Mom... Mutter... Alles Wörter die sie eher selten verwendete und wenn sie es tat, dann meinte sie meistens die Eltern von anderen. Es war auch ungewohnt, ihren alten Professor beim Vornamen zu nennen, aber andererseits war er nicht mehr ihr Professor, also kam sie damit noch eher klar.

„Ich denke, ich verstehe ganz genau", lächelte Remus, „Muss seltsam sein, auf einmal einen Vater zu haben..."

Sie blickten stumm in die Ferne, aber es war eine angenehme Stille, die von Tia unterbrochen wurde: „Meine Freunde und meine abuelita nennen mich Tia."

„Das ist mir schon aufgefallen, aber ich kann mir nicht erklären, warum", lachte Remus, „Tara ist doch schon so ein kurzer Name! Warum ihn noch weiter abkürzen und dann auch noch so, dass er eigentlich nichts mehr mit dem Namen zu tun hat?"

„Meine abuelita hat damit begonnen, als Eva mich zu ihr gebracht hat", erklärte Tia, „Sie hat mich damals noch nie gesehen, aber sie hat meinen Namen gekannt. Es war eine Zeit, wo meine Großmutter und meine Mutter nur hin und wieder telefoniert hatten und natürlich war meine abuelita bei meiner Geburt dabei. Mein vollständiger Name ist Tara Isabel Apate Carla Peloma. TIA setzt sich aus den Anfangsbuchstaben meiner ersten drei Namen zusammen – Tara, Isabel und Apate – das sind meine Namen, die Eva mir gegeben hat; Carla, nach meiner Großmutter und Peloma nach meiner Ur-Großmutter."

„Darum also Tia", murmelte Remus, „Und auf einmal ist alles logisch."

„Außerdem denke ich, meine Oma wollte einfach nicht den Namen benutzen, den Eva mir gegeben hat und hat versucht einen anderen zu finden", Tia zuckte mit den Schultern und Remus verkniff sich ein Grinsen.

„Tia", begann Remus vorsichtig, „Ich... ich weiß, ich bin nicht der perfekte Vater... ich bin ein Werwolf, ich habe so ziemlich gar keine Mittel, ich kann mir keine neue Arbeit suchen und ich bin ein Mann von der Gesellschaft ausgestoßen und jetzt bin ich dein Vater!", Remus lachte laut auf – er konnte seinen eigenen Worten nicht glauben, aber Tia hörte ihm geduldig zu und wartete darauf, dass er sagte, was er sagen wollte, „Vielleicht... vielleicht solltest du dir überlegen, meine Verwandtschaft mit dir geheim zu halten. Es wäre bestimmt besser für dich..."

„Nein, danke", lehnte Tia ruhig ab, „Ich denke, ich weiß selbst, was besser für mich ist."

Sie sagte es in einem solchen desinteressierten und gleichgültigen Ton, dass Remus sich für einen Moment in eine frühere Zeit zurückversetzt fühlte – damals, als seine besten Freunde herausgefunden hatten, was es wirklich mit ihm auf sich hatte und warum er jeden Vollmond verschwand. Sie waren genauso verständnislos gewesen, warum sie nicht mehr seine Freunde sein sollten.

Bei dem Gedanken lächelte Remus, und er schüttelte den Kopf.

La comida esta lista!", rief Carla plötzlich von drinnen.

„Das Essen ist fertig", übersetzte Tia und stand auf, „Ich hoffe, es gibt Paella."

„So, wie es riecht, erfüllen sich wohl deine Wünsche", bemerkte Remus, und Tia musste zugeben, dass der Geruchssinn ihres Vaters wohl noch besser sein musste, als der ihre, denn sie konnte zwar das Essen riechen, aber noch nicht genau sagen, welches Gericht es war.

Und wenn Tia es bis jetzt noch nicht wirklich verstanden hatte, dann realisierte sie jetzt, dass Remus wohl wirklich ihr Vater war... sie hatte einen Vater.

„Kommst du?", Remus stand schon bei der Tür und sah sich nach ihr um. Tia war noch an der Stelle, wo sie ihn überrascht anstarrte, bevor sie sich aus ihrer Gedankenwelt riss.

„Klar doch, ich komme", meinte sie fröhlich und folgte ihm ins Haus – ihrem Vater.

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