167. Kapitel
Tia dachte an ihr zu Hause.
An das zu Hause, in dem sie aufgewachsen war. Dieses Haus, in dem sie nur mit ihrer abuelita gelebt hatte.
Zugegeben, jetzt, wo sie zurückdachte, hatte Tia schon eine seltsame Kindheit gehabt. Schon früh hatte sie Anzeichen gezeigt, dass sie eine Hexe war und es war eigentlich ein tägliches Ereignis, dass etwas durch die Luft flog oder plötzlich ein Eigenleben entwickelte.
Tia hatte ihre Zeichnungen immer so verzaubert, dass sie sich bewegten. Der Zauber war nie wirklich mächtig gewesen und war meistens nach ein paar Stunden abgeklungen, obwohl Carla sich sicher war, dass sich einige der Figuren noch immer hin und wieder bewegten, wenn auch nie, wenn man hinsah.
Tias abuelita hatte diese Magie einfach akzeptiert, ohne sie wirklich zu verstehen. Sie hatte Tia nicht verflucht oder Angst vor ihr gehabt. Sie hatte Tia trotzdem geliebt und sie unterstützt, obwohl sie anders war.
Das einzige, vor dem Carla in dieser Zeit Angst gehabt hatte, waren andere Menschen gewesen. Menschen, die Tia nicht verstanden und die ihr vielleicht genau wegen dieser Fähigkeiten Leid zufügen wollten.
Also hatte Carla ihre Enkelin beschützt und sie behütet in ihrem Haus aufgezogen, sie selbst unterrichtet und ihr alles beigebracht, das Tia wissen musste.
Damals war das normal für Tia gewesen und nachdem sie in einer Welt voller Zauberer aufgewachsen war, die ebenfalls alle zu Hause unterrichtet worden waren, war es Tia nie in den Sinn gekommen, dass sie eine sonderbare Kindheit gehabt hätte.
Eigentlich erinnerte Tia sich immer gern an ihre Kindheit zurück. Selbst in Hogwarts hatte sie sich immer auf ihr zu Hause gefreut bei ihrer abuelita und mit einer heißen Tasse Kakao.
Wie sehr Tia sich einen heißen Kakos wünschte.
In ihrer Vorstellung saß sie an einem warmen Kamin und zeichnete in ihrem Skizzenbuch. Sie zeichnete ihre abuelita und obwohl sie sie schon lange nicht mehr gesehen hatte, konnte Tia sich noch genau daran erinnern, wie sie aussah.
Carla saß in ihrem Traum ihr gegenüber und las. Carla hatte viel gelesen und in so vielen verschiedenen Sprachen. Nicht immer nur Spanisch, sondern auch Englisch und einige Zeit lang hatte Carla versucht, Italienisch zu lernen, hatte es aber nicht wirklich geschafft.
In der Ecke stand ein Weihnachtsbaum, wunderbar geschmückt mit roten und blauen Ornamenten und Kugeln und Kerzen brannten.
Es war warm.
Tia war in einer Decke gekuschelt und konnte den Stoff schon beinahe spüren.
Carla blätterte eine Seite um. Das Blatt machte kein Geräusch.
Carla schien wohl Tias Blick bemerkt zu haben und blickte von ihrem Buch auf. „Ist alles in Ordnung, querida?"
Tia hatte schon beinahe vergessen, dass ihre abuelita sie immer so nannte. Es war schon so lange her, dass sie ihre Großmutter gesehen hatte.
„Ich weiß nicht", gestand Tia, „Ich träume."
„Das tust du, Tia", bestätigte Carla, als wäre es etwas absolut Normales, „Frohe Weihnachten."
„Frohe Weihnachten", erwiderte Tia, aber es klang mehr wie: „Fr-Fr-Frohe Weih-Weihnachten."
Ihr war zu kalt, obwohl es in dem Raum mollig warm war.
Vor ihren Augen verschwand Tias zu Hause und sie war wieder in einem Wald.
Sie saß nahe eines Feuers, das warm brannte, aber es war nicht warm genug, um die eisigen Klauen der Kälte von ihr fern zu halten und auch die Mäntel und Decken, die Tia um sich geschlungen hatte, konnten das nicht erreichen.
Es war Dezember – es war Weihnachten, aber es fühlte sich nicht wie Weihnachten an. Es war zu kalt und in dieser Kälte fragte Tia sich, ob es überhaupt noch Hoffnung gab.
Sie spürte ihre Finger nicht mehr und an ihrer Nase schien ein Tropfen Rotz gefroren zu sein. Wenn sie schielte, konnte sie ihre Nase sehen und sie war so rot, wie die Nase von Rudolph, el pequeño reno. Tia hatte diese Geschichte nie gemocht.
Nachdem sie das Haus der Dursleys verlassen hatten, hatten sie nicht erwartet, dass der Winter sie überrumpeln würde. Sie waren nicht unvorbereitet gewesen – jedenfalls nicht vollkommen. Sie hatten Decken und Pullover und warme Kleidung und ein Zelt gekauft, aber es keiner hätte sie auf diese Kälte vorbereiten können. Es war, als wären sie verrflucht und es wurde einfach nicht warm, egal, wie sehr sie es versuchten mit Feuer und Wärmezauber.
Tia war lieber wieder in ihrem Traum – in ihrem warmen zu Hause in London.
Sie verband eigentlich nur gute Erinnerungen damit und sie hatte von Leuten gehört, die ungern über die Ferien nach Hause gefahren waren.
Agnes zum Beispiel – Agnes war in einem Waisenhaus aufgewachsen und da wunderte es Tia nicht, dass sie lieber in Hogwarts geblieben wäre. Oder Harry, der bei den Dursleys wohl auch nie wirklich ein zu Hause gefunden hatte. Tias Einschätzung von den Dursleys war, dass sie auf den ersten Blick sehr seltsam wirkten, aber das tat wohl jeder, mit dem Tia sich besser verstand. Harry hatte bestimmt seine Gründe gehabt, warum er nicht gerne Zeit mit seiner Familie verbracht hatte.
Aber Tia war immer gern bei Carla gewesen und deswegen war sie auch immer sehr enttäuscht gewesen, wenn das nicht möglich gewesen war. Derzeit war Carla sicher in Spanien bei ihrer Familie. Dieser Zaubererkrieg war kein Ort für Muggel und besonders dann nicht, wenn man mit einem der Meistgesuchten verwandt war.
Plötzlich legte sich eine kalte Hand auf Tias Stirn und riss sie wieder aus ihren Träumen. „Alles in Ordnung?" Es war Agnes, die Tia besorgt ansah, aber Tia brauchte einen Moment, um zu verstehen, wo sie war. Sie war wieder im Wald in dieser Kälte. Aber sie spürte die Kälte kaum noch. Sie war wohl resistent geworden oder einfach nur so taub ihr gegenüber, dass Tia sie nicht mehr spürte. Egal, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war – Tia war das nur Recht. Sie hasste Kälte. Hatte sie schon immer.
Carla hatte immer gesagt, dass das die spanischen Wurzeln waren. Tia war nicht dazu gemacht, im kalten England zu leben, obwohl ihr Vater, Remus, ein Engländer war. Außerdem war Remus ein Werwolf und damit wie auch Agnes eher kälteresistent. Tia wünschte sich, sie hätte diese Eigenschaft von ihm geerbt. Sie würde nur liebend gerne ihren Geruchssinn oder ihre Stärke abgeben oder von ihr aus auch ihr gutes Gehör, nur um dieser Kälte standhalten zu können.
Stumpf bemerkte Tia, dass sich etwas auf ihre Schultern legte – noch eine Decke von Agnes – aber sie war schon wieder in ihren Fieberträumen versunken.
Sie war wieder in ihrem zu Hause. Es war wieder warm. Carla war wieder bei ihr.
Plötzlich veränderte sich die Umgebung und Wind peitschte Tia ins Gesicht und unter ihr sah Tia die fernen Lichter von London.
Sie war auf einen Besen und klammerte sich an Konstantin. Als sie über die Schulter zurückblickte, waren dort Todesser – sie wurden wieder verfolgt.
„Oh, gut! Du bist wieder wach!", rief Konstantin panisch, „Du bist von einem Lähmzauber getroffen worden – du bist einige Zeit weg gewesen, ich habe uns kaum auf den Besen halten können!"
„Was?", stammelte Tia und sah sich verwirrt um, „Aber... wo sind die anderen?"
„Wir haben uns aufteilen müssen, hast du das vergessen?", fragte Konstantin gestresst und blickte kurz über die Schulter zurück, „Bitte sag nicht, dass du auch noch von einem Verwirrungszauber getroffen worden bist – ich brauche dich einsatzbereit, sonst werden wirr beide –"
Ein grüner Lichtstrahl. Ein Aufschrei in der Ferne, den Tia als ihren eigenen erkannte und Konstantin sackte einfach mitten im Satz zusammen und fiel vom Besen.
Tia griff noch nach seinem Umhang, aber dieser Riss und sie hielt nur einen Fetzen lapislazuliblauen Stoff in der Hand, während Konstantins Leiche in die Tiefe stürzte.
Und plötzlich war da direkt vor ihr ein Gebäude und Tia konnte den Besen nicht rechtzeitig unter Kontrolle bringen und raste direkt in die Mauer. Sie schloss die Augen und wartete auf den Aufprall, aber dieser kam nicht.
Stattdessen spürte sie unter sich eine weiche Matratze. Es war warm. Es war leise.
Tia öffnete die Augen und hatte einige Schwierigkeiten damit. Ihr Kopf pochte, als wäre sie tatsächlich gegen eine Steinmauer geflogen, aber das war nur ein Traum gewesen. Sie hatten Harry schon vor Monaten in Sicherheit gebracht.
Die Decke war weiß. Tia brauchte einige Momente, bevor sie ihren Kopf drehen konnte und sie erkannte verwirrt, dass sie in einem Krankenhauszimmer von St. Mungos war.
Zwei weitere Betten standen im Zimmer, aber diese waren leer.
Aber Tia konnte nicht im St. Mungos sein. Dieses stand unter dem Einfluss der Todesser und es wäre Wahnsinn, sie hierher zu bringen. Selbst, wenn sie so krank war, dass sie im Sterben lag, würden Konstantin und Agnes sie niemals hierhin bringen. Es würde einem Todesurteil gleich kommen, da konnte sie auch an Krankheit sterben.
Jemand betrat den Raum. Es war Liza und sie blieb einen Moment lang überrascht an der Tür stehen, bevor sie warm lächelte und zu Tia kam.
Liza war sehr hübsch und sie sah gesünder aus, als Tia sie in Erinnerung hatte. Die Reisen durch verschiedene Wälder und ohne Dusche hatten sie alle gezeichnet, aber Liza war sauber und trug saubere Kleidung, die kein einziges Mal geflickt waren. Es war die Uniform der Heiler von St. Mungos.
„Gut, du bist wach", lächelte Liza, „Wie geht es dir?"
„Ich habe Kopfschmerzen", gestand Tia ruhig, „Warum bin ich hier?"
Das Lächeln gefror in Lizas Gesicht und Tia erkannte sofort, dass etwas nicht stimmte.
„Erinnerst du dich nicht?", fragte Liza besorgt, „Du... wir... letzten Vollmond..."
Tia versuchte sich daran zu erinnern, was passiert war, aber da war nichts. Warum war sie im St. Mungos? Und warum waren ihre Arme mit Verbänden verbunden und da war auch einer in ihrem Gesicht.
„Agnes hat dich angegriffen", gestand Liza leise, „Sie wollte es bestimmt nicht und sie wollte dich sicher nie verletzen – Agnes wollte dich nie verletzen. Sie hat dich geliebt."
„Was?", stammelte Tia verwirrt. Das klang nicht richtig.
„Wir haben einen Fehler gemacht und Agnes... sie... sie hat nicht gewusst, was sie tut und sie hat dich angegriffen. Wir haben versucht, das schlimmste zu verhindern, aber... sie hat dich gebissen... es tut mir leid."
Tia blinzelte nur verwirrt. Das war so nicht passiert. Andererseits wusste Tia nicht mehr, was wirklich passiert war Alles war so verwirrend.
„Wie geht es Agnes?", fragte Tia stattdessen. Es musste ihre schrecklich gehen, wenn sie Tia verletzt hatte.
„Agnes... sie...", stammelte Liza und holte tief Luft, „Konstantin hat sie umbringen müssen. Sie... hat nich aufgehört, dich... und wir... er... sie..."
Tia hörte das Meer. Es rauschte. Der Raum drehte sich.
Dann war der Raum verschwunden und sie stand in einem Büro in Hogwarts. Aber es war nicht irgendein Büro – es war das Büro von Remus, ihrem Vater.
Tia sah sich um und es war noch alles genauso, wie sie es in Erinnerung hatte und dort, an dem Schreibtisch – da war Remus und er sah sie erwartungsvoll an.
„Komm schon", ermutigte er sie und Tia bemerkte, dass sie ihren Zauberstab in der Hand hielt. Sie waren wohl mitten in einer Übungsstunde.
„Expelliarmus!" Nichts passierte.
Remus seufzte enttäuscht und sah Tia ernst an. „So funktioniert das nicht", sagte er kühl, „Du wirst es nie schaffen."
„Ich bin mir sicher, dass –", versuchte Tia sich zu verteidigen, aber Remus unterbrach sie barsch.
„Ich bin sehr enttäuscht von dir, Tia. Ich habe mir mehr von meiner Tochter erwartet!"
„Aber... ich..."
„Ich wünschte mir, du wärst nicht meine Tochter!", sagte Remus kühl und dieser Satz schien sich immer wieder zu wiederholen wie ein Echo, aber ein Echo wurde normalerweise immer leiser. Aber Remus sprach immer lauter und es wurde so oft zurückgeworfen, dass sich die Stimmen überschnitten und ein schrecklicher Gesang entstand.
Tia schlug die Hände auf die Ohren, als es zu laut wurde, aber es wurde immer lauter und lauter. Tia hatte das Gefühl, ihre Trommelfelle müssten zerspringen und ihr Kopf hämmerte, aber es hörte nicht auf. Es wurde nur lauter und lauter.
Und Tia wünschte sich zurück in den kalten Wald. Zurück in die kalte Realität, Hauptsache das hier hörte auf. Aber was war noch real? Tia wusste es nicht. Alles überschnitt sich, ihre Erinnerungen waren verschwommen und sie wusste nicht, ob nicht das hier die Realität war und alles andere nur Einbildung.
Tia wollte nur zurück in den Wald. Tia wollte nur Ruhe und sie wollte, dass das aufhörte.
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