166. Kapitel
Diese wenigen Worte von Sirius reichten aus, um Tia wenigstens ein bisschen Erleichterung zu schaffen. Agnes lebte. Sirius lebte. Alles war gut. Sie hatten beide überlebt und obwohl nicht sicher war, ob sie beide auch unverletzt waren, so hatte Sirius nicht so geklungen, als wäre Agnes tödlich verwundet und auch Sirius schien noch bei Kräften zu sein. Sie hatten wieder einmal Glück gehabt.
„Okay, Kon, Tia – ihr geht und holt die beiden ab", schlug Liza vor und Tia war überrascht, dass sie ihr so etwas zutraute. Ja, sie war ziemlich gut im Apparieren, aber das bedeutete noch lange nicht, dass die Gregorovich-Geschwister ihr eine so wichtige Aufgabe zutrauten.
Konstantin tat das offenbar auch nicht.
„Was ist mit dir?", fragte er an Liza gewandt und schien selbst überrascht davon, dass seine Schwester vorschlug, Tia mitzuschicken, statt ihr.
„Agnes ist gebissen worden – ich habe es gesehen", erklärte Liza leise und Tia zuckte instinktiv zusammen, als sie das hörte. Ein Werwolfbiss war niemals eine gute Sache und normalerweise bedeutete es, dass man sich mit Lykanthropie ansteckte und sich selbst einmal jeden Vollmond verwandelte, aber dann erinnerte sich Tia daran, dass Agnes schon ein Werwolf war und ein doppelter Werwolf zu sein klang unlogisch.
„Ja, und? Sie ist schon ein Werwolf", fiel auch Konstantin auf.
„Das ändert nichts daran, dass sich diese Wunden nur mit Hilfe von außen schließen werden (jedenfalls, wenn sie noch diesen Monat zuwachsen sollen...) – ich bereite den Trank schon vor, während ihr geht – husch, husch!" Liza scheuchte sie mit einer Handbewegung aus dem Haus, die Tia von ihrer abuelita kannte und Konstantin und Tia hatten keine Zeit, sich dagegen zu wehren, als Liza hinter ihnen schon die Tür schloss und sie einen Moment lang stumm nebeneinander vor dem Haus standen, bevor sie stumm, aber synchron zu gehen begannen und die Grenze verließen, die das Haus umgab. Jegliche Schutzzauber waren in einem Kreis um das Gebäude herum aufgezogen worden und sie traten darüber, um apparieren zu können.
Agnes war noch immer ein Werwolf – natürlich war sie das, immerhin würde sie sich erst zu Sonnenaufgang zurückverwandeln – aber trotzdem fühlte Tia sich in ihrer Gegenwart wohler. Agnes roch noch immer nach sich selbst. Es war dieser vertraute Geruch ihrer Schwester, der Tia versicherte, dass sie ihr nichts tun würde. Denn Agnes würde Tia nicht verletzen – jedenfalls nicht mit Wolfsbanntrank.
Sirius sah aus wie... wie er selbst... als Mensch... nicht als Hund...
Aber Agnes wirkte verängstigt und als Tia darüber nachdachte, war das eigentlich ziemlich offensichtlich, immerhin fühlte Agnes sich als Werwolf nicht wohl und nun war sie von ihren Freunden umgeben, die sie als das Monster sahen, das Agnes in sich selbst sah. Tia fand nicht, dass Agnes wie ein Monster aussah, obwohl ihr Fell von Blut klebte und um ihr Maul ebenfalls Spuren von einem blutigen Massaker zurückgeblieben waren. Außerdem deutete die Leiche eines Mannes darauf hin, dass Agnes den Werwolf umgebracht hatte – der Mann war zwar wieder menschlich, aber Tia vermutete, dass das der Werwolf gewesen war, nachdem er nackt war und Werwölfe nach der Verwandlung nackt waren. Sie erkannte ihn nicht.
Agnes hatte also den Werwolf umgebracht und das in einem Zustand, den man als „beinahe-menschlich" bezeichnen konnte. Tia fühlte Mitleid mit ihr. Agnes hatte jemanden getötet und zwar auf eine Weise, die viel privater, viel intimer und viel näher war, als ein einfaches „Avada Kadavra".
„Agnes." Tia wusste nicht, ob es Agnes helfen würde, wenn sie einfach ihren Namen aussprach, aber sie hatte einmal gehört, dass es Menschen half, jemanden zu vertrauen, wenn man häufig den Namen benutzte. Tia hatte das noch nie nachweisen können, aber das Gegenteil hatte sie auch noch nicht bewiesen, also ging sie einfach einmal davon aus, dass es Agnes helfen würde, wenn man sie bei ihrem Namen nannte.
Agnes reagierte nicht auf ihren Namen, aber Tia war sich nicht sicher, wie sie überhaupt hätte reagieren sollen. Als Werwolf war Agnes nicht in der Lage, zu sprechen und ihre Gestik und Mimik waren eingeschränkt beziehungsweise an ihre tierische Form angepasst, sodass Tia sich nicht sicher war, ob es nicht sogar ein ausgezeichnetes Zeichen war, dass Agnes sie nicht angefallen und umgebracht hatte. Sie wirkte ihnen gegenüber auch nicht feindselig oder gefährlich. Sie wirkte wie eines dieser Tiere, die sich so benahmen, als wären sie Menschen, aber letztendlich sollte man nicht vergessen, dass es noch immer Tiere waren.
Trotzdem trat Tia vorsichtig einen Schritt auf Agnes zu. Agnes wich zurück.
„Agnes, können wir näher kommen?", fragte nun auch Sirius und Tia fiel auf, dass auch er ihren Namen benutzte, also hatte sie nicht ganz Unrecht gehabt, wenn Sirius diese Methode auch benutzte. Er hob auch noch seine Hände in die Luft, um zu signalisieren, dass er unbewaffnet und keine Gefahr war.
Konstantin trat ebenfalls einen Schritt vor. Agnes knurrte. Er ging lieber wieder zurück.
„Agnes, wir müssen hier weg", Tia fühlte sich in diesem Wald nicht mehr sicher – es war zwar nicht klar, ob der Werwolf sie absichtlich gefunden hatte oder ob das nur ein Zufall gewesen war, aber sie sollten sich nicht zu lange hier aufhalten, um zu verhindern, dass sie noch einmal angegriffen wurden, wobei Tia diese Angreifer bemitleiden würde, immerhin war Agnes als Werwolf bei ihnen.
„Können wir überhaupt mit ihr apparieren, wenn sie in dieser Form ist?", fragte Konstantin und Tia verfluchte sich selbst – daran hatte sie nicht gedacht.
Vielleicht konnte man mit Werwölfen gar nicht apparieren und sie mussten am Morgen zurückkommen. Aber Tia wollte Agnes nicht alleine lassen – nicht nach allem, das sie in dieser Nacht durchgestanden hatte.
„Remus und ich sind einmal mit James appariert, während er als Hirsch... und betrunken...– wisst ihr was, ist eigentlich gar nicht so wichtig", beruhigte Sirius sie, obwohl Tia diese Geschichte gerne gehört hätte, „Auf jeden Fall sollte es keinen Unterschied machen, ob man mit einem riesigen Hirsch oder einem riesigen Werwolf disappariert."
Das klang logisch.
Wenn das möglich war, gab es für Agnes keinen Grund mehr, nicht mit ihnen zu kommen.
„Agnes, wir haben dafür keine Zeit", schimpfte Tia sie also streng – sie hasste es, wenn Agnes in dieser aufopferungsvollen und verunsicherten Stimmung war, „Agnes, du bringst uns gerade alle in Gefahr, weil du nicht apparieren willst – ist das wirklich dein Ziel?"
Agnes konnte nicht antworten. Natürlich konnte sie nicht antworten. Aber keine Antwort war auch eine Antwort, oder nicht? Tia nahm es jedenfalls als Zustimmung auf.
„Das habe ich mir gedacht", sagte sie streng und hoffte, dass sie Agnes' Schweigen richtig interpretiert hatte, „Also... kommt jetzt her! Wir apparieren zusammen!"
Tia streckte ihre Hand aus und wartete darauf, dass Agnes auf sie zukam. Sie wusste nicht, was sie erwarten sollte und sie wusste auch nicht, was sie tun sollte, sollte Agnes sich weigern, aber dazu kam es gar nicht, denn Agnes näherte sich ihr langsam. Vielleicht hätte Tia normalerweise Angst gehabt, wenn sich ein so großes Tier wie ein Werwolf ihr näherte, aber nicht in diesem Fall.
In diesem Fall roch dieser Werwolf nach einer vertrauten, geliebten Person. In diesem Fall war etwas in den Augen des Werwolfs, das so menschlich war, dass Tia sich gar nicht vorstellen konnte, dass das wirklich Agnes war.
In diesem Fall hatten die Augen des Werwolfs die Farbe von Agnes' Augen – eisig blau und kühl, aber Tia hatte in diesen Augen immer nur einen Blick von Liebe und Zuneigung gesehen.
Tia legte vorsichtig eine Hand auf Agnes' Schulter. Ein Werwolf hatte Fell, das vielleicht nicht so war wie das einer Katze oder eines Hundes oder eines echten Wolfes, aber es war Fell, das so weich war, wie menschliche Haare, aber kürzer und am ganzen Körper. Agnes' Körper war warm. Tia spürte ihre Muskeln. Sie musste in dieser Form noch stärker sein, als in ihrer menschlichen.
Und als Tia mit ihr apparierte, war es nicht einmal so, als würde sie mit einem riesigen, schrecklichen Monster apparieren. Sie apparierte einfach nur mit Agnes.
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