159. Kapitel
Tia verbrachte viel Zeit allein in einem unaufgeräumten Zimmer. Dort saß sie, sobald sie wieder in der Lage war, mit ihrem Bein aufzutreten, stundenlang auf dem Boden und zeichnete.
Sie redete nicht mehr viel, kam nur zu den Mahlzeiten aus dem Zimmer und schlich bis spät in die Nacht hinein noch herum und zeichnete.
Zeichnen war etwas, mit dem Tia sich auskannte. Menschen waren kompliziert. Menschen waren seltsam. Zeichnen war schon immer gleich gewesen – schon seit sie ein kleines Kind gewesen war, zeichnete Tia immer das, was sie sah. Sie war noch nie wirklich eine kreative „Künstlerin" gewesen – sie sprach von sich selbst auch nicht von einer Künstlerin. Sie zeichnete nur, um Erinnerungen zu behalten, anstatt Fotos zu machen. Skizzenbücher voller Erinnerungen und dazu konnte man auch noch ihren persönlichen Fortschritt sehen, als einfache Skizzen zu wunderschönen, ausgearbeiteten Arbeiten wurden. Mit Kohle und ihrem Block bewaffnet konnte Tia es mit der Welt aufnehmen – aber am liebsten aus diesem ehemaligen Schlafzimmer von Leannes Eltern aus.
Tia war lieber allein, denn wenn sie unter Menschen war, bemerkte sie die ganze Zeit, was diese bedrückte. Es ging niemanden mehr wirklich gut.
Tia wusste nicht, warum, aber es ging niemanden mehr gut und niemand war mehr wirklich glücklich. Alle lächelten nur noch gefühlslos vor sich hin und obwohl Tia schrecklich darin war, Gesichtsausdrücke zu interpretieren, so wusste selbst sie, dass jedes Lachen falsch und gekünstelt war. War das schon lange so? Hatte Tia es nur bisher noch nie bemerkt? Sie wusste es nicht – woher sollte sie das auch wissen, offenbar redete niemand mit ihr. Warum hatte sie davor nicht bemerkt, dass Agnes und Sirius gehen wollten? Hatte es Anzeichen dafür gegeben? Ja, Agnes und Sirius waren viel zu zweit gewesen und sie waren auch bevor Konstantin, Liza und Tia sie gefunden hatten, zu zweit unterwegs gewesen. Sirius schien Agnes auch auf eine Weise zu verstehen, wie es sonst niemand tat – nicht einmal Tia, obwohl das einzige, das sie sich wünschte, Agnes war. Agnes – wieder glücklich, wieder so cool und super, wie Tia ihre große Schwester kannte. Aber offenbar war Agnes überhaupt nicht mehr in Ordnung. Sie hatte mehrere Zusammenbrüche gehabt, hatte Panik bekommen, weil Chambers „Abschaum" gesagt hatte, hatte Angst vor der Dunkelheit und schien angespannter, als sonst.
Sie war gefangen gewesen – genaues wusste selbst Tia nicht genau. Aber vielleicht verstand Sirius sie so gut, weil er selbst jahrelang ein Gefangener gewesen war.
Auf jeden Fall verstand Tia die Welt nicht mehr und es verwirrte sie. Tia war häufig verwirrt und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte.
Sie hatte Heimweh. Sie sehnte sich nach ihrer abuelita, nach ihrem zu Hause in London, nach spanischem Essen... vielleicht auch nach Hogwarts, nach Remus, nach George... es war alles einfacher gewesen.
Natürlich hatte Tia sich eingebildet, dass sie nichts anderes brauchte, außer Konstantin, Liza und dann auch noch Agnes und Sirius, aber seit Agnes und Sirius fort waren, fühlte sie sich seltsam einsam. Sie wollte doch nur, dass alle wieder zusammen waren. Dass Agnes und Fred zusammen mit George und ihr im Scherzartikelladen waren und Scherze machten, die Tia nicht verstand. Dass Carla sie auf Spanisch daran erinnerte, wie man einen Mann am schnellsten bewegungsunfähig machte. Dass Remus in den Scherzartikelladen kam und George erst einmal einen Schritt von Tia wegging, weil er in Remus' Gegenwart etwas nervös war, aber es nie lange aushielt und dann doch immer einen Arm um Tia legte.
Sie wollte, dass Ron, Harry und Hermine im Laden waren und wenn Tia etwas sagte, Ron und Hermine sie verständnislos ansahen, während Harry immer so wirkte, als würde er ganz genau verstehen, was Tia meinte. Harry war immer freundlich zu Tia gewesen, selbst, als Hermine und Ron noch weniger begeistert von ihr gewesen waren. Sie wusste nicht, warum, aber sie mochte Harry auch. Harry war nett.
Sie wollte auch Liza und Charlie wieder zusammen erleben. Die beiden waren zusammen immer so anders, als allein. Tia hatte Charlie und Liza ohne den jeweils anderen kennengelernt oder gesehen, aber wenn die beiden zusammen waren, schien es immer so, als würden sie alles Ernsthafte um sich herum vergessen.
Tia erinnerte sich gerne an dieses eine... war es ein Date gewesen? Sie wusste es nicht genau. Agnes, Fred, George und sie waren ins Dorf gegangen, nicht weit vom Fuchsbau entfernt. Sie hatten im dortigen Café zusammen einen Nachmittag verbracht – George und sie hatten Kakao getrunken; Agnes und Fred Tee. Das war ein schöner Tag gewesen.
Tia erinnerte sich aber auch an die Zeit in Hogwarts, die sie mit Katie und Leanne verbracht hatte. Tia war noch nicht wirklich bereit gewesen, die Schule zu verlassen, aber vermutlich wäre sie nie dazu bereit gewesen. Nicht, dass ihr die Stunden außergewöhnlich gut gefallen hatten – sie war eigentlich ziemlich schlecht in der Schule gewesen... nein – Tia vermisste die Zeit mit ihren Freundinnen. Als sie Katie, Leanne, Angelina und Alicia nicht in Kriegszeiten getroffen hatten. Als ihre Freunde noch nicht Teil einer Widerstandsgruppe gewesen waren.
Damals war alles noch einfacher gewesen, obwohl es Tia damals nicht so vorgekommen war.
Es klopfte leise an der Tür, aber Tia sah nicht einmal von ihrem Skizzenbuch auf. Kurz war es still, bevor vorsichtig die Tür geöffnet wurde und Konstantin trat ein.
Konstantin sah müde aus. Dunkle Ringe unter seinen glasigen Augen und eine Strähne hatte sich aus seinem Zopf gelöst.
„Hey", begrüßte er Tia und lächelte leicht, aber Tia sah immer noch nicht auf, sondern zeichnete einfach weiter, ohne Konstantin zu beachten. Natürlich hatte Tia ihn bemerkt, immerhin war sie nicht dumm oder taub oder blind... sie wusste nur nicht, was von ihr erwartet wurde, also blieb sie leise. Konstantin verblieb einen Moment bei der Tür, bevor er vollständig in den Raum trat und leise hinter sich die Tür schloss.
Konstantin sah sich um und Tia wollte sich gar nicht vorstellen, was er sich dachte.
Tia zeichnete schon lange und immer dasselbe Motiv. Es waren immer Liza, Konstantin, Tia, Agnes und Sirius, wie sie nebeneinander wie eine Familie auf einem Familienfoto standen. Aber Tia war niemals zufrieden mit dem Ergebnis und jedes Mal hatte sie ihre Bilder aus ihrem Skizzenbuch gerissen und dann zerrissen. Konstantin bückte sich und hob zwei Teile einer dieser Zeichnungen auf – Tia hatte sie so zerrissen, dass Sirius und Agnes von den anderen getrennt waren. Jedes Mal – jede einzelne Zeichnung. Agnes und Sirius waren nicht mehr da – sie passten nicht mehr auf dieses Motiv, aber trotzdem erschuf Tia immer mehr von dieser naiven Vorstellung einer Familie.
Tia wusste nicht, was Konstantin sich dachte und sie würde es auch niemals wissen. Sie konnte natürlich keine Gedanken lesen, aber dazu kam noch, dass Tia nicht in der Lage war, Konstantins wahre Gefühle zu erraten. Er war ein Rätsel, aber das störte sie nicht – Konstantin war nett zu ihr.
„Geht es dir gut?", fragte Konstantin ruhig und ließ die beiden Hälften wieder fallen. Sie flatterte wieder zu Boden, aber Tia blickte noch immer nicht von ihrer Arbeit auf – sie bemühte sich wirklich, nicht zu reagieren, aber sie bemerkte, dass sie unkonzentriert war. Sie antwortete nicht.
Konstantin setzte sich zu ihr auf den Boden und wischte dafür einige Zeichnungen zur Seite.
„Hey, Tia..." Tia spürte Konstantins Blick auf ihr. „Was ist los?"
Tia antwortete nicht.
Konstantin seufzte.
Es ging Konstantin auch nicht gut – das wusste Tia. Konstantin und Liza hatten sich in der Nacht gestritten – Tia wusste nicht, warum oder war der Grund war, aber sie wusste, dass es Konstantin wohl nicht gut ging.
„Warum zerreißt du deine Zeichnungen?", fragte Konstantin sanft und sah sich um – so viele zerstörte Werke.
„Ich zeichne nur das, was ich sehe", antwortete Tia kurz, ohne aufzusehen.
Konstantin nickte und war einen Moment lang still. „Ich... bin nicht gut in so etwas... soll ich Liza herbringen?"
„Ich glaube, Liza hat im Moment genug um die Ohren", bemerkte Tia tonlos.
Konstantin zuckte zusammen – er war sich nicht sicher, wie Tia das gemeint hatte, aber es traf ihn.
„Liza wollte etwas mit uns besprechen", gestand Konstantin leise, „Kommst du?"
Tia antwortete nicht, sondern klappte nur ihr Skizzenbuch zu, steckte die Kohle hinter ihr Ohr und ging wortlos aus dem Raum.
Konstantin sah ihr hinterher und seufzte. Er hoffte, Liza hatte eine gute Idee, denn im Moment war die ganze Situation angespannt und... erdrückend. Wohl nicht nur für Konstantin, sondern auch für Tia.
Und um ehrlich zu sein – Konstantin wollte nicht, dass Tia ihre positive Einstellung verlor. Er konnte sich im Moment nichts schlimmeres vorstellen, als eine Tia, die die Schrecken der Welt realisiert hatte.
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