154. Kapitel
Für Tia war im Moment alles perfekt.
Natürlich war nicht alles perfekt – es war vermutlich unmöglich, dass absolut alles perfekt sein konnte, aber Tia fühlte sich glücklich. So viele von ihren Freunden waren zusammen gekommen und sie hatte ihre Freundinnen aus Hogwarts wieder getroffen. Alicia und Angelina und natürlich auch Katie und Leanne. Agnes war auch bei ihr – ihre Schwester und mit ihr Sirius, Konstantin und Liza. Tia fühlte sich wohl, weil sie von Leuten umgeben war, die sie mochte und die sie beinahe schon vergessen ließen, dass außerhalb dieser sicheren Wände ein Krieg wütete.
Tia fiel auf, dass Konstantin, Liza und selbst Sirius sich nicht so wohl zu fühlen schienen, wie sie, aber das wunderte Tia auch nicht. Für sie waren die Leute vom Widerstand eigentlich Fremde und sie waren nicht von Freunden umgeben. Die drei hätten sich bestimmt wohler gefühlt, wenn sie zufällig auf Leute vom Phönixorden gestoßen wären, aber für Tia war der Widerstand besser. Beim Orden war sie noch immer nicht wirklich gewohnt, als Erwachsene behandelt zu werden – als sie in ihrem sechsten Jahr im Haus am Grimmaultplatz gewesen war, war sie vor vielen Informationen „beschützt" worden, aber viele dieser Informationen hatte sie bekommen, nachdem sie zuerst erwachsen geworden war und seit sie auch noch Hogwarts verlassen hatte, bekam sie alle Antworten, die sie etwas angingen ohne jegliche Zensur. Manchmal war das ein bisschen furchteinflößend, wenn von den Grauen da draußen berichtet wurde, aber Tia wusste, dass es besser war, sich der Wahrheit zu stellen, anstatt alles durch eine rosarote Brille zu sehen.
Um Agnes machte Tia sich am meisten Sorgen.
Sie hatte ebenfalls viele Freunde im Widerstand, aber gleichzeitig schien sie sich nicht so wohl zu fühlen, wie Tia. Stattdessen war sie angespannt und misstrauisch und zuckte bei den kleinsten Geräuschen oder zu schnellen Bewegungen zusammen. Tia erinnerte sich aber dann daran, was Agnes schon alles hinter sich hatte. Agnes war ein Werwolf und damit hatte sie gewisse animalische Instinkte, die ausgeprägter waren, als bei Tia oder normalen Menschen. Tia vermutete, dass in jedem Werwolf eine tierische Seite und eine menschliche Seite zusammengebracht werden und durch die Taten des Werwolfs entschied sich, welche der beiden Seiten die Oberhand übernahm. Greyback hatte seinen animalischen Instinkten den Vorrang gelassen und unterdrückte vermutlich sogar seine menschlichen Gefühle, während Remus genau das Gegenteil davon war und noch versuchte, so menschlich wie möglich zu sein.
Aber Agnes... Tia war sich nicht so sicher, für welche Seite Agnes sich entschieden hatte. Sie war noch nicht so lange ein Werwolf, wie Greyback oder Remus, also würde sich wohl noch entschieden, welche Seite Agnes wählen würde, aber Tia wusste, dass sie Agnes lieben würde, egal, wofür sie sich entscheiden würde.
Aber im Haus des Widerstandes – dem ehemaligen Haus der Familie Travis – schien es so, als könnte Agnes ihre animalische Seite nicht unterdrücken und sie zeigte sich, indem sie teilweise schon tierische Abwehrposen einnahm oder andere wie ein Raubtier musterte. Aber Tia wusste, dass Agnes niemanden verletzen würde, außer sie wurde wieder in eine ihrer Halluzinationen gezogen und das sollte eigentlich nicht passieren, außer man sagte das Wort „Abschaum".
Der Tag verging schnell für Tia und sie tauschten einige Geschichten aus, was mit ihnen oder den anderen passiert war und schneller, als erwartet, wurde es schon dunkel und die künstlichen Lichter wurden eingeschaltet. Immer mehr von ihnen gähnten, bis sie beschlossen, dass es wohl Zeit war, ins Bett zu gehen.
Leanne führte sie nach oben und erklärte ihnen, wie sie die Zimmer im Widerstand aufgeteilt hatten: „Wir haben nur zwei der Schlafzimmer aufgeräumt – die anderen sind noch kaum betretbar. Deswegen müssen wir immer ein bisschen zusammenrücken und wir schlafen auf dem Boden – wir haben keine Betten."
Tia hatte nichts dagegen, mit anderen in einem Zimmer zu schlafen. Natürlich hörte sie besser, als andere und wurde dadurch schneller von leisen Geräuschen in der Nacht gestört, aber im Moment vermutete Tia, dass ihr das wenig ausmachen würde. Immerhin bedeuteten die leisen Geräusche in der Nacht und das leise Schnarchen der anderen, dass sie nicht alleine war und das war das einzige, das Tia sich wünschte.
Tia kannte das Haus der Travis' und sie hatte es gesehen, bevor Todesser dort eingedrungen waren und alles zerstört hatten. Außerdem hatte sie auch noch Mrs und Mr Travis umgebracht.
Leanne hatte ihr erzählt, dass sie im Sommer zurückgekommen war, um das Haus zu sehen und bis auf die Leichen ihrer Eltern war noch alles genau so gewesen, wie die Todesser es zurückgelassen hatten. Jedes einzelne Möbelstück war zerstört gewesen, als hätten sie sich extra Zeit dafür genommen, um jede Erinnerung an ihre Eltern auszulöschen und es war ihnen auch gelungen, denn Leanne hatte nichts davon behalten. Sie hatte die meisten Möbel weggeworfen und zusammen mit den ersten Mitgliedern von dem, was nun der Widerstand war ein paar Zimmer aufgeräumt oder besser gesagt – ausgeräumt, denn diese Zimmer waren nun leer und dort standen keine Möbel mehr.
Nur die Küche hatte Leanne wieder eingeräumt, damit sie einen Platz zum Essen und Kochen hatten, aber die anderen aufgeräumten Zimmer waren komplett leer, wie auch das Wohnzimmer.
Es war seltsam, Leannes Zimmer zu sehen. Sie hatte auch ihre Schränke, ihr Bett – das sie schon seit ihrer Kindheit gehabt hatte – und die Sachen, die sie nicht nach Hogwarts mitgenommen hatte weggeworfen und es gab absolut keine Anzeichen mehr dafür, dass Leanne jemals dieses Zimmer bewohnt hatte, bis auf einen kleinen Fleck an der Wand, den Tia erkannte. Sie selbst war der Grund für diesen Fleck, nachdem sie bei Leanne gewesen war und aus Versehen ihren Kakao verschüttet hatte. Es war noch ein blasser, brauner Fleck zu sehen, dort, wo es passiert war.
Aber dort, wo einst die Möbel gewesen waren, waren nun auf dem gesamten Boden Schlafsäcke ausgerollt. Der Widerstand schlief in Schlafsäcken und keiner von ihnen hatte eine Nacht in einem Bett verbracht, seit der Krieg begonnen hatte. Da hatte Tia es noch gemütlicher gehabt, als sie bei Ivy gewohnt hatte.
Tia, Liza und Konstantin besaßen eigene Schlafsäcke, die sie mitgenommen hatten, als sie ihre Reise begonnen hatten, aber Sirius und Agnes bekamen welche von Katie. Der Widerstand hatte einige Schlafsäcke für solche Fälle immer einsatzbereit, aber das erinnerte Tia nur daran, dass Sirius und Agnes nicht so auf eine solche Reise vorbereitet waren, wie Tia und ihre ersten Begleiter. Sirius war mehr oder weniger mitten im Krieg erwacht und Agnes besaß im Moment nichts, außer den Kleidern, die Ivy ihr mitgegeben hatte. Diese Kleider waren ihr ein bisschen zu groß und ließen Agnes immer ein bisschen kleiner wirken, als sie sowieso schon war. Sie trug Schuhe, die nicht ihr gehörten, Hosen, Hemden, T-Shirts und Pullover, die nicht ihr gehörten und selbst die Jacke war von Ivy. Ivy hatte sie Agnes zwar geschenkt, aber gleichzeitig waren sie fremd für Agnes. Sie hatte nicht einmal mehr ihren eigenen Zauberstab, wie Tia erfahren hatte. Den Zauberstab, den sie benutzte, hatte eigentlich einem der Männer gehört, die Agnes als Werwolf umgebracht hatte.
Agnes hatte eigentlich nur noch sich selbst und dasselbe galt für Sirius, dem sie ebenfalls seinen Zauberstab abgenommen hatten und der alte Kleidung von Roger Davies trug – dem verstorbenen, besten Freund von Agnes, der mit Ivy zusammen gewesen war.
„Ich rate euch, in den Schlafzimmern einen Platz zu finden", riet Angelina ihnen leise, damit sonst niemand es hören konnte, „Im Wohnzimmer hört man immer, wenn jemand in der Küche ist und Frühstück macht. Manche von uns hier können nicht wirklich schlafen und dann gehen wir in die Küche. Im Wohnzimmer ist es dann ein bisschen schwer zu schlafen, deswegen wechseln wir uns immer ab, wer im Wohnzimmer schläft."
„Aber ihr seid vorerst unsere Gäste", versprach Katie heiter, „Es ist eure erste Nacht hier, also könnt ihr euch ruhig einen Platz in den Schlafzimmern suchen. Wir finden schon noch Platz für euch."
Tia war bereit, diesen Tipp anzunehmen, obwohl sie sich ein bisschen schlecht dabei fühlte, als Gast dieses Vorrecht auszunutzen. Aber sie wusste, dass sie sofort aufwachen würde, wenn sie jemanden in der Küche hören würde und ein ordentlicher Schlaf klang eigentlich ganz angenehm.
Agnes schien das aber anders zu sehen: „Ich kann auch gleich ins Wohnzimmer gehen, wenn es schon so einen schlechten Ruf hat. Ich wache auch immer sehr früh auf."
„Unsinn, Agnes", erinnerte Tia sie sofort heiter, „Du hast doch auch ein Werwolfgehör – du wirst nicht schlafen können, sobald jemand wach ist."
„Wir rutschen hier ein bisschen zusammen", bot Angelina hilfsbereit an und schob schon einige Schlafsäcke zusammen, sodass eine größere Fläche am Boden frei wurde.
„Ich ziehe heute Nacht ins Wohnzimmer", bot Chambers an, „Dann haben auch bei uns noch zwei oder drei Platz."
Tia fand das sehr freundlich von ihm, obwohl sie sich nicht sicher war, ob Chambers das aus purer Freundlichkeit machte oder ob er sich schlecht fühlte, weil er Agnes so verärgert hatte. So oder so – es war freundlich von ihm, das anzubieten.
So bildete sich am Boden auch genug Platz, dass zwei von ihnen mindestens Platz hatten und das nutzte Tia sofort aus. „Schau Agnes!", rief sie begeistert von ihrer eigenen Idee, als sie ihren Schlafsack stolz am Boden ausbreitete und damit sozusagen ein bisschen ihr Revier markierte, das sie für sich und Agnes vorgesehen hatte, „Du hast neben mir noch Platz!"
Agnes lächelte sie an und legte ihren eigenen Schlafsack auf den Boden.
„Dann ist für uns wohl noch ein Platz im anderen Schlafzimmer reserviert!", vermutete Konstantin, „Kommt! Schauen wir uns das Stück Boden an, auf dem wir schlafen werden!"
„Du bist ein Idiot, Kon", murmelte Liza. Konstantin und Liza verließen den Raum und Tia fand das ein bisschen schade, immerhin bedeutete das, dass sich ihre Gruppe in zwei Zimmern aufteilen würde und sie so nicht zusammen bleiben würde, aber dann erinnerte Tia sich selbst daran, dass es ein kindischer Gedanke von ihr war und dass sie doch nur im Nebenzimmer sein würden.
Sirius blieb noch einen Moment länger zurück und sprach mit Agnes, aber Tia hörte absichtlich nicht zu. Sirius und Agnes hatten viel zusammen erlebt und die beiden stritten sich zwar häufig und waren selten derselben Meinung, aber doch kam es Tia so vor, als hätten sie ein Band geschmiedet, dass sich nicht so schnell zerreißen lassen würde. Es war Sirius gewesen, der Agnes beruhigt hatte, nachdem sie in ihrer eigenen Gedankenwelt gefangen worden war, als Chambers „Abschaum" gesagt hatte und es war auch Sirius, der Agnes immer wieder dazu zwang, Dinge laut auszusprechen, die sie sich selbst klar werden musste. Das war vielleicht keine sonderlich angenehme Variante, Agnes zu heilen und Tia war sich auch nicht so sicher, ob sie so effektiv sein würde, wie Sirius sich das erhoffte, aber wenigstens versuchte Sirius es.
Aber an diesem Tag hatte Tia erkannt, dass sie Agnes im Moment nicht so gut kannte, wie sie gedacht hatte und dass Agnes weit davon entfernt war, gesund zu sein. Sirius schien der einzige zu sein, der auch nur annähernd eine Ahnung davon hatte, was in Agnes' Kopf vor sich ging. Tia wunderte es nicht, dass sie selbst nicht erkannt hatte, wie schlecht es Agnes eigentlich ging, immerhin war sie ziemlich schlecht darin, Gefühle und Gedanken von anderen Personen zu erraten – sie wusste die meiste Zeit selbst nicht, was sie dachte oder fühlte – aber selbst Konstantin und Liza waren überrascht gewesen, als Agnes ausgezuckt war und die beiden wussten sehr, sehr viel.
Aber nur Sirius kannte Agnes.
Als Sirius ebenfalls den Raum verließ, um sich Liza und Konstantin anzuschließen, bemerkte selbst Tia, dass Agnes von dem Gespräch ein bisschen ungut aussah. Tia konnte nicht genau sagen, ob Agnes wütend, traurig oder ängstlich war, aber sie erkannte wenigstens, dass Agnes nicht glücklich war und Tia hasste es, wenn Agnes nicht glücklich war.
„Es wird wie eine Pyjamaparty!", sagte Tia heiter, in der Hoffnung, Agnes' Laune ein bisschen bessern zu können, „Ich freue mich, Agnes!"
„Oh, nein, junge Dame", widersprach Agnes ihr sofort streng und erinnerte Tia ein bisschen an ihre abuelita, „Heute Nacht wird geschlafen. Heute ist ein aufregender Tag gewesen und morgen wird noch ein aufregender Tag folgen. Und übermorgen... und den Tag darauf..."
„Ich weiß", Tia gähnte und streckte sich, „aber ich bin einfach nur froh, dass du bei mir bist, Agnes." Und sie meinte es auch so.
Kurz darauf kamen auch noch die anderen in den Raum, die in diesem Zimmer schlafen würden und Tia freute sich, als sich Katie und Leanne sich neben sie legten und auch Angelina und Alicia bei ihnen sein würden. Tia war auch erleichtert, als Duncan, Randy und Grant – drei ehemalige Quidditch-Genossen von Agnes sich ihnen anschlossen – so hatte auch Agnes ein paar bekannte Gesichter im Raum, denen sie vielleicht ein bisschen vertraute. Vielleicht würde so auch Agnes schlafen können.
„Ich hoffe, ihr schnarcht nicht!", warnte Duncan sie und lachte – also meinte er es wohl als Scherz, aber selbst, wenn er es nicht witzig gemeint hatte, so machte Tia sich wenig Sorgen – eigentlich schnarchte sie nicht oder andere in ihrer Umgebung waren bisher einfach nur zu höflich gewesen, um es ihr zu sagen, aber Tia bezweifelte das.
„Dasselbe könnte ich sagen", warnte, „Wenn ihr schnarcht, erstickte ich euch im Schlaf."
Tia warf Leanne einen unsicheren Blick zu – sie wusste, dass Leanne gerne in der Nacht schnarchte, obwohl diese das immer wieder bezweifelt hatte. Aber als Tia sah, dass Leanne lachte, vermutete sie, dass Agnes das wohl als Scherz gemeint hatte und Leanne sich keine Sorgen machen musste.
„Ich muss mir bei euch keine Sorgen machen, dann ihr mich im Schlaf umbringt, oder?", fragte Agnes plötzlich und Tia warf ihr einen besorgten Blick zu – sie war sich nicht sicher, ob sie es ernst meinte oder nicht, aber vermutlich war es nur ein Witz – das redete Tia sich zumindest ein.
„Ich glaube, du bist die einzige, vor der wir uns fürchten müssen", lachte Duncan, „Keine Sorge – du kannst ganz entspannt schlafen."
„Okay", Agnes lachte und Tia erkannte, dass es wohl wirklich ein Witz gewesen sein musste, wenn Agnes darüber lachen konnte, „Das ist schon einmal gut. Ich hasse es, wenn ich jemanden umbringen muss, bevor ich meinen Tee getrunken habe!"
Tia kuschelte sich in ihren Schlafsack und als Angelina das Licht löschte, bemerkte sie, dass sie wirklich müde war. Tia schloss die Augen und war sofort eingeschlafen und begann auch scheinbar sofort zu träumen.
Es war ein schöner Traum, das erkannte Tia schnell.
Sie war in der Küche ihrer abuelita und sie war nicht allein. Remus, George und auch Carla saßen bei ihr am Tisch und von jedem von ihnen stand eine Tasse mit Tee.
Tia sah sich um und freute sich, die drei zu sehen. Sie hatte Remus' und Georges Stimme gehört, aber trotzdem vermisste sie die beiden ebenso sehr, wie ihre abuelita von der sie schon lange nichts mehr gehört hatte, aber sie war sich sicher, dass es ihr gutging.
Es war ein schöner Traum – besonders, weil Tia nicht wusste, dass es ein Traum war und deswegen für diesen Moment den Krieg vergessen konnte. Es gab keine Todesser, keinen Voldemort und keine Gefahr mehr – sie saßen einfach nur beieinander und tranken Tee.
Plötzlich aber sprang George erschrocken auf. „Aufwachsen!", schrie er und Tia war verwirrt, als er nicht mit seiner eigenen Stimme sprach, sondern wie Agnes klang, „Wacht auf! Wir werden angegriffen!"
Jetzt erkannte Tia, dass es ein Traum sein musste und sie runzelte die Stirn, als sie sich fragte, was sie sich jetzt schon wieder zusammendachte. Das war ein lächerlicher Traum. Alles an dieser Situation war lächerlich.
Aber dann erinnerte Tia sich daran, dass Agnes neben ihr eigentlich schlief und sie riss die Augen auf. Sie war sofort hellwach, aber noch immer verwirrt, wie auch die anderen, die im Raum aufgewacht waren. Agnes schrie und Tia erkannte sofort, dass sie Angst hatte – Agnes hatte selten Angst, also war es immer ein Grund, sich ebenfalls zu fürchten und alarmiert sah Tia sich um.
Was hatte Agnes geschrien? Ein Angriff? Wer griff sie an? Tia verfluchte sich selbst, dass sie ihren Rucksack noch in der Küche stehen hatte – dort drin waren ihre Zaubertränke. Aber vielleicht hatte sie irgendwie die Chance, zu ihm zu gelangen.
Agnes kauerte in der Mitte des Raumes. Sie kauerte wirklich und hatte sich ganz klein gemacht. Sie weinte und plötzlich schlug sie die Hände über ihre Ohren und schrie, als würde sie etwas hören, das sonst niemand hören konnte – nicht einmal Tia.
Aber Agnes schien auch eine Gefahr erkannt zu haben, die sonst noch niemand bemerkt hatte, denn alle im Raum hatten zwar ihre Zauberstäbe in den Händen, aber sie wusste nicht genau, gegen wen sie sich wehren sollten.
Tia beobachtete Agnes ganz genau. War hatte sie gesehen, was sonst niemand gesehen hatte? Hatte sie geträumt? Ein Albtraum konnte bestimmt genauso eine Panik in ihr Auslösen, wie ein falsches Wort.
„Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben!", sagte Agnes immer wieder leise und wippte vor und zurück, wie Tia es aus Filmen kannte, wenn jemand Angst hatte. Sie hatte noch nie jemanden gesehen, der wirklich solche Angst hatte, dass er sich so benahm.
„Gar nichts ist gut! Gar nichts ist gut! Gar nichts ist gut!", änderte Agnes ihren Wortlaut plötzlich, als würde sie jemandem antworten, aber niemand hatte etwas zu ihr gesagt.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und alle mit Zauberstäben in der Hand wirbelte herum, als sich endlich eine Bedrohung zeigte, aber es waren nur weitere Leute vom Widerstand, die im Nebenraum und im Wohnzimmer geschlafen hatten und ebenfalls die Schreie gehört hatten. Sie waren wohl mit der Erwartung in den Raum gestürmt, dass sich dort die Bedrohung aufhielt, aber sie schienen ebenso verwirrt, wie die anderen, als sie nur Agnes am Boden kauernd sahen und sonst nichts Außergewöhnliches vorfanden.
Agnes verstummte, obwohl sie noch immer zitterte, aber sie war trotzdem stumm. Man hätte meinen können, dass sie tot war, wenn man nicht ihren schnellen Atem gehört hätte.
Und plötzlich verstand Tia, was mit Agnes los war. Niemand griff sie an. Niemand war hier. Agnes bildete es sich wieder nur ein.
„Was ist hier los?", fragte Sirius ernst und drängte sich an den anderen vorbei und durch die Tür, aber als er Agnes erblickte, schien er zu demselben Schluss zu kommen, wie Tia und sein Blick wurde sanfter. „Oh, nein", seufzte er mitleidig und ließ seinen Zauberstab sinken.
„Was ist los? Wer greift an?", fragte Leanne und wirkte noch etwas verschlafen.
„Macht Licht", befahl Sirius, ohne ihr eine Antwort zu geben. Angelina, die dem Lichtschalter am nächsten war, betätigte ihn und der Raum wurde in künstliches, aber helles Licht getaucht. Tia blinzelte von dem plötzlich hellen Licht, aber sie konzentrierte sich schnell wieder auf Agnes, die aber selbst von dem Licht noch nicht beruhigt schien. Vielleicht hatte sie noch gar nicht bemerkt, dass es wieder hell war, nachdem sie die Augen fest zusammenpresste.
„Niemand greift an", sagte Sirius ruhig, „Agnes mag keine Dunkelheit. Es ist alles in Ordnung."
Agnes hatte das nicht gesagt. Bestimmt hätten sie eine Lösung gefunden, wenn Agnes das früher gesagt hätte, aber so hatten sie die Lichter einfach gelöscht, wie es üblich war.
Tia verstand nicht, warum Agnes es ihnen nicht gesagt hatte. Niemand hätte sie ausgelacht – sie alle hatten teilweise seltsame Ängste. Tia fürchtete sich zum Beispiel vor Todessern, vor Spinnen in ihrem Bett, vor einem Basiliskenangriff oder auch vor kleinen Kindern – aber nur ein bisschen. Kleine Kinder waren noch kryptischer für Tia, als Leute in ihrem Alter oder ältere. Man konnte nie genau wissen, was in ihren kleinen Köpfen vor sich ging, auch wenn Kinder ein bisschen offener waren, was die Wahrheit anging, als Erwachsene, die schon gelernt hatten, wie man log.
Unbewaffnet näherte Sirius sich Agnes vorsichtig, wie man sich einem wilden Tier näherte und hatte dabei die Hände erhoben, obwohl Agnes ihn nicht sehen konnte, nachdem sie noch immer die Augen geschlossen hatte.
„Agnes", sagte Sirius mit sanfter Stimme, „Ich bin es, Agnes. Sirius."
„Sie bringt mich um. Sie bringt mich um. Ich bekomme keine Luft", keuchte Agnes, ohne aufzuschauen, „Ich sterbe. Ich sterbe."
„Alles ist gut, Agnes", versicherte Sirius ihr und er kniete sich vor ihr auf den Boden. Tia erkannte das Gefühl, das sich in seinem Gesicht wiederspiegelte – es war Sorge. Ehrliche Sorge um Agnes, obwohl sie sich immer zu streiten schienen.
Vorsichtig und zögernd legte Sirius eine Hand auf Agnes' Schulter und sie zuckte einen Moment zusammen, blickte aber auf. Einen Moment lang erkannte Tia die tierische Seite in Agnes, aber diese wurde schnell von einem menschlichen, erleichterten Ausdruck ersetzt, als sie sich umsah und wohl bemerkte, dass es wieder hell war und egal, was Agnes gesehen hatte, es war verschwunden.
Agnes wischte sich die Tränen aus den Augen und sah wieder wie sie selbst aus – stark, intelligent und kühl. Sie stand auf und Sirius tat es ihr nach, behielt aber die Hand auf ihrer Schulter.
„Wir werden angegriffen", sagte Agnes ernst und sah sich um, „Sind alle versammelt? Wir müssen sofort das Haus evakuieren. Agnolia Tripe ist unter den Angreifern und –"
„Agnes", unterbrach Sirius sie sanft.
Tia wusste zwar, dass Agnes es hasste, aber sie hatte Mitleid mit ihr. Agnes war nicht einmal in ihren eigenen Gedanken sicher.
„Was ist?", zischte Agnes gereizt, „Siehst du nicht, dass wir alle in Gefahr sind? Wir müssen sofort verschwinden! Hast du nicht mitbekommen, was gerade passiert ist?"
„Nein", antwortete Sirius ihr ehrlich, „Es ist überhaupt nichts passiert. Es ist wieder nur in deinem Kopf gewesen."
Agnes sah sich um, als würde sie einen Widerspruch von jemanden im Raum erwarten, aber das kam nicht. Jeder blickte Agnes an, aber niemand hatte das gesehen, was Agnes gesehen hatte. Agnes schien das nicht zu gefallen und sie runzelte unzufrieden die Stirn.
Plötzlich drehte Agnes ihren Kopf leicht zur Seite, als würde jemand mit ihr sprechen, aber niemand sprach. Jeder sah Agnes nur mitleidig an und keiner wusste so recht, was sie tun sollten. Niemand wusste so genau, wie man mit Wahnsinn umging.
„Aber... aber...", stammelte Agnes, bevor sie den Kopf schüttelte und sich wieder fasste, „Nein, das kann nicht in meinem Kopf passieren. Als ich in diesem Keller gewesen bin, ist es wochenlang jeden Tag passiert. Ich quäle mich doch nicht jeden Tag selbst."
Tia zuckte zusammen. Ihr gefiel diese neue Information nicht und das Kind in ihr wünschte sich, sie hätte es nie erfahren. Agnes ging es nicht gut – ihrer Schwester ging es nicht gut und sie konnte nichts tun, um ihr zu helfen. Der kindliche Teil in Tia wünschte sich, sie hätte das nie gehört und sie würde nicht wissen, wie schlecht es Agnes ging. Sie hätte es einfach weiter ignorieren können und einfach weiterleben, wie zuvor, aber stattdessen hatte sie erfahren, dass Agnes sich schon lange selbst an den Rand des Wahnsinns trieb und vielleicht schon die sicheren Ufer des gesunden Verstands hinter sich gelassen.
„Manchmal sind wir selbst die einzigen, die genau wissen, man wir uns quälen können", meinte Sirius ruhig und strich ihr vorsichtig über den Rücken, „Aber es ist vorbei. Schau, es ist wieder hell."
Agnes sah sich um. Es war hell – Agnes fürchtete sich vor der Dunkelheit und dem, was sich darin versteckte. Tia wünschte sich, sie würde leuchten, damit sie Agnes immer und überall Licht schenken konnte, obwohl das vermutlich nicht nur seltsam ausgesehen hätte, sondern sie auch noch in Gefahr gebracht hätte, wenn sie sich verstecken musste. Aber Tia wäre das wert gewesen, nur damit Agnes wenigstens in ihrer Nähe immer sicher war.
„Ich weiß, dass du nur eine Einbildung bist!", schrie Agnes plötzlich laut und Tia zuckte zusammen, als Agnes sich bedrohlich umdrehte und jemanden ansah, den sonst niemand sehen konnte, „Du bist nicht hier! Also verschwinde! Ich brauche keine Einbildungen!"
„Mit wem redest du?", fragte Sirius sie sanft, „Da ist niemand."
„Ich weiß, dass du niemanden sehen kannst!", fuhr Agnes ihn wütend an, „aber ich sehe ihn. Er steht da – mit seinem dämlichen Grinsen. Er ist da und ich weiß, dass er nicht da ist, aber trotzdem steht er hier und redet mit mir und redet mir ein, dass ich ihn brauche, aber ich brauche ihn nicht! Ich brauche meinen verdammten Verstand zurück!"
„Im Moment wirkst du ziemlich verrückt", informierte Sirius sie und Tia gab ihm Recht, aber Tia fand das nicht schlimm. Agnes hatte viel erlebt und es war wohl kein Wunder, dass sie Schäden davongetragen hatte, aber trotzdem fühlte Tia sich so hilflos, als sie daran dachte, dass Agnes der stärkste Mensch war, den sie kannte und selbst sie war gebrochen worden.
„Halt einfach die Klappe, Black", zischte Agnes und hob ihren Schlafsack auf, „Wenn ihr mich entschuldigt – ich gehe in die Küche und mache mir einen Tee. Schlaft einfach weiter, als wäre keine Verrückte unter eurem Dach. Los!"
Agnes stieß einige Leute zur Seite, als sie sich aus dem Raum drängte, aber die meisten wichen ihr freiwillig aus, um ihr nicht nur Freiraum zu geben, sondern auch, um sie entkommen zu lassen. Agnes trampelte die Treppen hinunter und Tia zuckte zusammen, als sie hörte, wie sie die Tür der Küche zuschlug.
Sirius seufzte und er wirkte ziemlich müde – sie alle waren müde, aber Tia wusste nicht, ob sie nach all dem noch einmal schlafen konnte. „Sprecht sie bitte einfach nicht mehr darauf an", bat Sirius sie alle sanft und Tia wusste, dass sie das sowieso nicht getan hätte, „Es ist schlimm genug, dass ihr alle dabei zugesehen habt – das hat ihren Stolz ziemlich verletzt."
„Sirius", sprach Duncan ihn direkt an, „Wie... wie können wir ihr helfen?"
Sirius sah ihnen einen Moment lang nachdenklich an. „Das könnt ihr nicht wirklich", gestand er schließlich leise, „Sie... sie musst sich selbst helfen. Sie ist auf dem besten Weg der Besserung, aber Agnolia Tripe hat Narben hinterlassen – sie hat überall auf Agnes Narben hinterlassen. Versucht sie einfach nicht aufzuregen – sagt nicht „Abschaum", lasst immer ein Licht brennen, schickt sie nicht in zu enge Räume... sperrt sie nicht ein. Man sollte einen Werwolf nicht einsperren – niemals."
Das waren eine Menge Regeln, die man sich merken musste, aber Tia wiederholte sie im Kopf immer wieder, damit sie keine davon vergessen würde. Sie wollte niemals schuld daran, sein, dass Agnes wieder panisch wurde. Niemals.
Sirius folgte Agnes aus dem Raum und ging, soweit Tia hören konnte, ebenfalls in die Küche – vermutlich war Sirius im Moment der einzige, den Agnes an sich heran lassen wollte. Der einzige, der sie verstand, obwohl Tia sich alle Mühe gab, um ebenfalls verstehen zu können, damit sie Agnes helfen konnte. Sie wollte nur ihrer Schwester helfen, aber wie so oft wusste sie schlichtweg nicht, wie.
„Okay!", meldete sich Leanne laut und riss damit nicht nur Tia aus ihren Gedanken, „Gehen wir wieder schlafen – morgen stehen wir früh auf und planen den Überfall auf Hogwarts. Hopp! Hopp!"
Tia legte sich wieder in ihren Schlafsack und Angelina löschte wieder das Licht – Agnes war nicht im Raum und vermutlich würde sie auch nicht mehr zurückkommen.
Tia versuchte, wieder zu schlafen, aber immer, wenn sie die Augen schloss, hatte sie das Bild von Agnes vor Augen, wie sie zusammengekauert mitten im Raum saß und etwas sah, das ihr eigener Verstand ihr auferlegt hatte. Panisch – ängstlich... schon beinahe klein und schwach. Agnes war nicht schwach. Sie war es niemals gewesen, aber trotzdem hatte sie so schwach gewirkt, als ihr eigener Verstand sie in die Knie gezwungen hatte.
Als Tia bemerkte, dass sie nicht schlafen konnte, stand sie auf, nahm ihren Zauberstab in die Hand und verließ leise den Raum.
Der Gang war dunkel, aber sie hatte noch nie Schwierigkeiten damit gehabt, im Dunkeln zu sehen. Bestimmt konnte Agnes als Werwolf auch gut im Dunkeln sehen, aber trotzdem konnte sie irgendetwas inder Dunkelheit sehen, das ihr Angst machte.
Der Raum neben Leannes altem Zimmer war das Gästezimmer, das der Widerstand ebenfalls aufgeräumt hatte und hinter dessen Tür Tia hörte, wie einige unruhig schliefen, also ging Tia daran vorbei und trat in einen anderen Raum.
Es war das alte Zimmer von Leannes Eltern gewesen und Tia sah sich um, als sie die Folgen des Todesserangriffs sah.
Jedes Möbelstück war zerstört. Das Bett der Travis' war zu Kleinholz verarbeitet worden, die Kästen zerschlagen und selbst die Vase, die auf dem Nachtkästchen gestanden hatte, war zerbrochen worden. Die Scherben lagen noch immer auf dem Boden und Tia achtete darauf, mit ihren bloßen Füßen nicht auf eine drauf zu steigen – es fehlte den anderen noch, dass sie sich verletzte.
„Lumos", wisperte Tia leise und sah dabei zu, wie sich ihr Zauberstab ganz leicht erhellte, aber selbst einen so einfachen Zauber beherrschte Tia nicht wirklich und das Licht war kaum heller, als das Leuchten eines Sichelmondes hinter dicken Wolken. Tia hatte diesen Zauber nie wirklich gebraucht – sie konnte in der Dunkelheit gut sehen, aber Agnes brauchte sie.
„Lumos", wisperte Tia wieder und dieses Mal wurde das Licht ein bisschen heller, erlosch aber schnell wieder.
Aber Tia gab nicht auf. Sie musste ihrer Schwester helfen und sie würde diesen Zauber lernen und für Agnes ein Licht sein. Sie wusste nicht, wie sie Agnes sonst helfen konnte, also musste sie einfach ein Licht für Agnes sein. Mehr konnte sie nicht tun.
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