145. Kapitel
Der Fetzen flog direkt zu einem Haus in einer hübschen Straße und klatschte gegen die Haustür – immer und immer wieder, als würde er hinein fliegen wollen.
Seit Tagen schon verfolgten sie diesen Fetzen durchs halbe Land und hatten kaum Pause gemacht, hatten wenig gegessen und waren alle müde, aber doch war Tia den Gregorovich-Geschwistern immer einen Schritt voraus gewesen und der Wille, Agnes zu finden, hatte sie weitergebracht.
„Hier muss es sein", hauchte Tia ehrfürchtig und blickte hoch zum Haus, „Ich kann sie hier riechen – der Geruch ist schwach, sie sind schon länger hier, aber er ist hier."
„Bist du sicher?", fragte Konstantin sofort misstrauisch – er schien sich nicht so sicher zu sein, aber er hatte auch nicht Tias Geruchssinn.
„Absolut sicher", versicherte Tia ihm ein bisschen unhöflich – sie mochte es nicht, dass ihr Geruchssinn in Frage gestellt wurde, immerhin hatte sie das Gefühl, als wären ihre verbesserten Sinne das einzige, das sie zur ganzen Mission und Situation beitragen.
„Dann sollten wir klingeln", sagte Konstantin und schien seine Zweifel vergessen zu haben. Er schritt direkt den kleinen Pflastersteinweg hoch zum Haus.
„Warte, Kon!", rief Liza erschrocken und rannte ihm hinterher, um ihn aufzuhalten. Direkt vor der Haustür zog sie ihn zurück, bevor er klingeln konnte. „Wir können doch nicht einfach klingeln! Was ist, wenn das alles eine Falle ist? Vielleicht wird Agnes dort auch nur gefangen gehalten. Wer sagt, dass sie freiwillig hierher gekommen ist?"
Liza hatte schon irgendwie Recht, aber Tia wusste trotzdem, dass sie sich irrte. Sie konnte keine ihr bekannten Todesser riechen. Da waren nur Gerüche von Leuten, die Tia nicht kannte und natürlich musste das nichts bedeuten, aber wenn sie Agnes wirklich dort drin gefangen hielten, dann konnte man wohl davon ausgehen, dass Todesser durch die Tür ein und aus gingen.
„Ja... du hast Recht", seufzte Konstantin, der wohl nicht Tias Meinung war und Tia seufzte enttäuscht – jetzt würden sie vermutlich wieder Ewigkeiten planen und sie musste noch länger warten, bis sie endlich erfuhr, was mit Agnes passiert war. Sie wollte nicht mehr warten, aber Konstantin und Liza kannten sich besser aus, als sie, also sollte sie auf die beiden hören und sich nicht beschweren.
Plötzlich hob Konstantin die Hand und bevor Liza ihn aufhalten konnte, klingelte er fröhlich an der Tür und Tia begann zu lächeln. Also hatte Konstantin es sich doch anders überlegt.
„Ups", grinste Konstantin, „Jetzt habe ich wohl doch noch geklingelt."
„Ich hasse dich, Kon", sagte Liza und schien überhaupt nicht zufrieden mit ihrem Bruder zu sein – Tia war es schon, denn jetzt konnten sie doch noch ohne jegliche Planung oder Vorbereitung diese Mission zu Ende bringen.
„Nein, du liebst mich", widersprach Konstantin seiner Schwester, „Ich will keine Zeit mehr verlieren."
„Wenn wir sterben, haben wir überhaupt keine Zeit mehr", warnte Liza ihn.
Tia bezweifelte, dass sie sterben würden, aber in so gefährlichen Zeiten wie diesen mussten man wohl jeden Tag mit dem Tod rechnen. Aber Tia tat das lieber nicht – sie war gerne am Leben, also wollte sie lieber nicht daran denken, dass sie eventuell sterben könnte. Sie stellte sich lieber vor, dass es wie in einem Buch war – die Helden waren immer in Gefahr und starben beinahe, aber letztendlich überlebten sie die Gefahr und konnten ihr Leben so leben, wie sie wollten. Tia war sich nicht sicher, ob sie eine Heldin in dieser Geschichte war, aber sie stellte es sich gerne vor.
Aber Tia musste sich im Moment sowieso keine Sorgen machen, denn die Tür öffnete sich nicht.
„Vielleicht solltest du es noch einmal versuchen", schlug sie hoffnungsvoll vor – sie wusste, dass Agnes da drin sein musste.
„Vielleicht ist niemand zu Hause", schnaubte Liza, „Wir sollten es später noch einmal versuchen – vielleicht sind auch nur alle da drin tot."
Tia glaubte das nicht. Sie konnte den Geruch von Tod hier nicht riechen. Sie war zuversichtlich, dass die Tür sich noch öffnen würde.
Konstantin klingelte noch einmal.
Nichts passierte.
„Wir könnten die Tür aufsprengen", schlug Liza vor.
„Wir können doch nicht einfach eine Tür aufsprengen!", rief Tia schnell und war erschrocken darüber, dass Liza das überhaupt vorschlug, „Das wäre unhöflich – da drin könnten andere Leute leben. Eigentlich ist es nur logisch, dass sie nicht sofort öffnen. Wenn wir auf der Flucht wären und auf einmal jemand an unserer Haustür klingeln würde, dann würden wir uns auch zuerst vorbereiten, bevor wir öffnen, oder nicht?"
„Wir sind auf der Flucht, Tia", erinnerte Konstantin sie.
„Aja...", daran hatte Tia nicht gedacht, „Stimmt..."
Konstantin läutete wieder und langsam breitete sich Enttäuschung in Tia aus. Sie würden bestimmt noch einen Weg ins Haus finden, wenn sie das wollten, aber es war kein gutes Zeichen, dass ihnen niemand die Tür öffnete.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine Frau stand vor ihnen. Sie war vermutlich ein bisschen älter als Tia und wirkte auf den ersten Blick nett, aber allein die Tatsache, dass Tia sie nicht kannte, schüchterte sie ein.
Sie erkannte den Geruch – er war ein Geruch, der ihr im Vorgarten des Hauses schon aufgefallen war, also ging sie wohl häufiger dort ein und aus.
Ihre Haut war etwas dunkler, als die von Tia und ihre Haare ebenso dunkel, wie die ihren. Ihre dunklen Augen waren hinter einer Brille verborgen und die dicken Gläser ließen ihre Augen noch größer wirken, als sie schon waren.
Tia fiel auch auf, dass sie, obwohl sie ungefähr gleich alt war, wie Tia, sie trotzdem schwanger war.
Die Frau wirkte nervös und ängstlich, besonders als sie vor drei Fremden stand und sofort legte sie ihre Hand schützen über ihren Bauch.
„Guten Morgen, junge Dame", sprach Konstantin sie höflich an, „Sie wissen nicht zufällig, ob sich eine gewisse Agnes Tripe in diesem Haus aufhält?"
„Nein, sie ist nicht da", lehnte die Frau sofort ab und Tia seufzte enttäuscht. Schade, sie war sich sicher gewesen, dass Agnes hier sein würde. Aber sie würde weitersuchen – sie würde nicht aufgeben. Besonders, da Tia wusste, dass Agnes hier gewesen war und ihr Geruch strömte so stark aus dem Haus heraus, dass sie nicht wirklich glauben konnte, dass Agnes nicht hier sein konnte. Vielleicht war sie gerade erst appariert, aber dann würde Tia gerne wissen, wo sie hingegangen war. Sie musste sie finden.
„Aber ich kann sie riechen", sagte Tia etwas verunsichert, „Ich rieche Agnes – und Sirius."
„Das ist nicht –", wollte Konstantin sofort widersprechen, aber Tia wusste, was sie roch.
„Doch, es ist möglich, Kon", fuhr sie ihn etwas unhöflich an und sie wollte sie eigentlich sofort danach dafür entschuldigen, aber in diesem Moment musste sie sich durchsetzen, also ließ sie Konstantin so ungläubig, wie er war und wandte sich lieber an die Frau, die im Haus offenbar wohnte, „Können wir sie sehen?" Aber die Frau schüttelte nur den Kopf.
Plötzlich hörte Tia Stimmen. Sie waren leise und Tia konnte nicht hören, was sie sagten, aber sie hörte Stimmen. Und sie wusste, dass sie sich diese nicht einbildete.
„Bitte, wir müssen sie –", versuchte es Konstantin noch einmal, aber er wurde wieder unterbrochen, aber dieses Mal nicht von Tia, sondern von jemanden, der im Inneren des Hauses stritt und als Tia an der Frau vorbei sah, erkannte sie, dass dort Sirius stand.
Er sah vollkommen gesund aus, als wäre er niemals tot gewesen. Tia konnte ihren eigenen Augen nicht trauen, aber alle ihre Sinne sagte ihr, dass das da Sirius Black war.
Aber er war nicht allein.
Dort war auch Agnes und Tia freute sich so sehr, sie vergaß sogar, wie man jemanden begrüßte. Wie sollte sie Agnes begrüßen? War eine Umarmung angebracht? Vielleicht auch nur die Hände schütteln? Fühlte Agnes überhaupt dasselbe wie Tia? Was war, wenn Agnes sie eigentlich gar nicht leiden konnte und sie nur wegen Fred und George immer so freundlich zu ihr gewesen war? Was war, wenn Agnes Tia gar nicht sehen wollte.
Am besten, sie beobachtete zuerst einmal, wie sich die Situation entwickelte und dann konnte sie noch immer entscheiden, wie sie Agnes begrüßen würde und wie.
„Sirius?", fragte Konstantin und er klang wirklich unsicher, aber Tia war sich sicher, dass sie wieder einmal Emotionen falsch interpretierte – Konstantin konnte nicht verunsichert sein.
„Hey, Konnie", begrüßte Sirius ihn und Tia begann zu lächeln, als sie sah, dass Sirius lächelte, „Lange nicht mehr gesehen, oder?"
Sirius und Konstantin gingen aufeinander zu und Tia beobachtete sie – vielleicht konnte sie bei ihnen abschauen, wie man jemanden nach so langer Trennung begrüßte – vielleicht konnte sie das auch an Agnes anwenden.
Aber eher nicht.
Plötzlich schlug Konstantin Sirius ins Gesicht und Tia zuckte zusammen, während Agnes laut auflachte.
Sirius' Kopf wurde zur Seite geworfen und er schien ebenso überrascht von der Begrüßung, wie alle anderen – also war es kein Begrüßungsritual der beiden.
Sirius sah Konstantin empört an. „Was war das –"
Aber er konnte den Satz nicht beenden, denn Konstantin zog Sirus am T-Shirt zu sich hinunter und küsste ihn.
Also diese Begrüßung konnte sie nicht bei Agnes anwenden – da würde sie sich selbst unsicher fühlen und sie war sich sicher, dass das eine Begrüßungsart war, die sich ausschließlich und exklusiv für Konstantin und Sirius eignete.
„Du lebst", Konstantin konnte wohl noch immer nicht glauben, was Tia ihnen schon seit Tagen predigte. Sie hatte gewusst, dass sie Sirius gerochen hatte. Sie hatte so viel Zeit mit Sirius verbracht, dass sie seinen Geruch selbst nach einem Jahr nicht vergessen hatte. Natürlich hatte immer die Chance bestanden, dass sie sich doch irgendwie irrte, aber Tia hatte gehofft, dass das nicht der Fall war.
„Das scheint so einige Persönlichkeiten zu überraschen", grinste Sirius, „Zugegeben – deine Reaktion darauf war nicht die schrägste bisher. Du hättest Agnes sehen sollen."
„Ich sehe Agnes." Tia wusste nicht genau, warum sie das gesagt hatte, aber als sie Agnes ansah – als sie Agnes ansah, die sie als ihre Schwester sah, wollte sie einfach nur sagen, dass sie Agnes sehen konnte – Agnes war da. Sie war keine Imagination von ihr selbst und keine Einbildung. Tia hatte nach ihr gesucht und nun auch gefunden. Tia konnte Agnes sehen und sie wusste nicht, ob sie schon jemals so erleichtert darüber gewesen war, jemanden zu sehen. Vermutlich schon, aber es war furchtbar erleichternd Agnes zu sehen, nachdem niemand wirklich gewusst hatte, ob sie überhaupt noch lebte. „Ich sehe dich, Agnes."
„Ich sehe dich auch, Tia", antwortete Agnes ihr und breitete ihre Arme aus.
Einen winzigen Moment lang zögerte Tia noch, aber dann rannte sie in die Arme ihrer Schwester und umarmte diese. Diese Umarmung war so erleichternd und Tia fühlte sich für diesen Moment sicher. Mit Agnes in ihren Armen konnte nichts mehr Schlimmes passieren. Alles würde gut werden, solange ihre große Schwester hier war.
„Alle haben gedacht, du wärst tot", wisperte Tia leise und drückte Agnes an sich, „Alle haben das gedacht, aber du lebst."
„Ich lebe, ja", bestätigte Agnes und strich Tia über den Rücken, „Und ich bin hier."
„Ich habe dich vermisst", flüsterte Tia und drückte Agnes noch fester an sich.
„Wir haben euch nur dank Tia gefunden", erzählte Liza und Tia blickte über die Schulter zu ihr, „Sie hat euch im Sherwood Forest gerochen und wir haben eure Spur verfolgen können."
Tia ließ Agnes los und blickte zu Sirius, der noch immer bei Konstantin stand und dessen Hand hielt, als würde er ihn nie wieder loslassen wollen, aber Tia wollte auch noch Sirius begrüßen.
Sie hatte ihn schon so lange nicht mehr gesehen, dass es sich surreal anfühlte, ihn jetzt vor sich stehen zu sehen.
Also umarmte Tia Sirius einfach und spürte, wie er sogar Konstantins Hand losließ, um sie über den Rücken zu streichen.
„Sie haben mir nicht geglaubt", erzählte Tia, „aber ich weiß doch, was ich rieche."
„Das hast du gut gemacht, Tia", Agnes lächelte und Tia fühlte sich stolz, „Und jetzt... packen wir zusammen – wir gehen."
Sofort verschwand das Gefühl wieder und Tia fühlte sich niedergeschlagen. Hatte sie doch etwas falsch gemacht? Warum schaffte sie es immer wieder, etwas falsch zu machen, ohne es zu wollen? Sie wollte doch nur helfen.
„Was?", fragte die fremde Frau, die die Tür geöffnet hatte erschrocken, „Aber... warum?"
„Wenn Tia, Kon und Liza uns finden können, dann auch andere", erinnerte Agnes sie.
„Das ist lächerlich", schnaubte Liza.
„Genau!", stimmte Konstantin Liza zu, „Das ist lächerlich – niemand sonst würde auf die Idee kommen, euch mit diesen Mitteln zu verfolgen und wir haben Tage gebraucht, um euch zu finden."
„Unterschätze deine Feinde nicht, Kon", zischte Agnes, „Du denkst vielleicht, es wäre keine große Sache, aber du vergisst, dass du es mit Verrückten zu tun hast. Meine Mutter ist bestimmt wahnsinnig und fanatisch genug, um mir zu folgen – sie will mich tot sehen."
„Was ist passiert?", fragte Tia sie, „Wir haben dich nicht gefunden, nach dieser einen Vollmondnacht und dann haben wir die zerstörte Wohnung gesehen – was ist danach passiert? Wir haben gedacht, sie hätten dich umgebracht."
„Gar nichts ist passiert", sagte Agnes, „Meine Mutter hat mir nur zu verstehen gegeben, was sie von mir hält."
„Also willst du wieder weglaufen?", fragte Sirius und Tia fragte sich, warum er so unhöflich zu Agnes war, „Du sagst zwar, du willst dich nicht verstecken, aber langsam habe ich das Gefühl, als hättest du Angst."
„Angst?", wiederholte Agnes leise.
Natürlich hatte Agnes Angst. Jeder hier hatte Angst. Warum sollten sie auch keine Angst haben, wenn sie von so ziemlich jedem im Land gesucht wurden und jeder sie tot sehen wollte?
Plötzlich richtete Agnes ihren Zauberstab gegen Sirius und Tia schrie erschrocken auf, als er zurück geworfen wurde und gegen die Wand krachte und dort einfach hängenblieb, während Agnes noch immer ihren Zauberstab auf ihn zeigte.
Konstantin versuchte Agnes anzugreifen, aber diese wehrte den Zauber geschickt ab und entwaffnete stattdessen Konstantin – Tia war froh, dass Agnes auf ihrer Seite war, sonst hätte sie bestimmt Angst vor ihr.
„Natürlich habe ich Angst, Black!", kreischte Agnes laut und Tia erkannte, dass Agnes sich überhaupt nicht gut fühlte. Sie war verletzt – im inneren. Sie war kaputt und Tia wusste nicht, wie sie sie wieder reparieren sollte.
Das bewies sich, als Agnes ihren Ärmel hochkrempelte und ihre Narben zeigte – scheinbar unzählig unterbrachen sie Agnes' edle, bleiche Haut und wulstige Narben hatte sich über Verletzungen gebildet.
Auffällig war auch eine Narbe, die noch rot war und Tia konnte nicht genau erkennen was dort geschrieben stand, da sie ihre Brille nicht trug, aber es war ein Wort in Agnes' Haut geritzt worden. Es sah schrecklich aus, aber eine schreckliche Narbe machte noch lange nicht einen schrecklichen Menschen aus dem Träger.
Tia wollte zu Agnes gehen und sie trösten, aber im letzten Moment zögerte sie. Vielleicht wollte Agnes im Moment gar nicht getröstet werden. Vielleicht war es auch ganz gut, dass sie einmal ihre Wut hinauslassen konnte.
„Ich bin Abschaum, Sirius!", zischte Agnes, „Ich bin da unten gewesen – allein! Monatelang habe ich nur mit mir selbst und mit meinen Einbildungen gesprochen! Jeden Tag habe ich Angst gehabt und dieser Raum – es war so dunkel und eng! Ich will nie wieder dorthin zurück! Nie wieder, hörst du? Ich sterbe lieber, als mich noch einmal fangen zu lassen und eingesperrt zu werden!"
„Sag das nicht, Agnes", bat Tia sie leise, „Bitte." Sie wollte nicht, dass Agnes starb. Sie war ihre Schwester und sie hatte sie erst gerade wieder gefunden. Solange sie lebte, gab es auch immer noch eine Chance, sie wieder zurück zu holen. Wenn sie erst einmal tot war, würde selbst Tia mit Konstantin und Liza sie nicht mehr finden können.
Wenn jemand tot war, würde diese Person für immer verloren sein und Tia wusste nicht, ob sie Agnes dann jemals wieder finden würde. Es würde eine traurige Welt ohne ihre große Schwester sein.
„Ihr wisst nicht, wie es war", zischte Agnes, „Ich habe nur noch auf meinen Tod gewartet! Es ist schrecklich für einen Werwolf, gefangen zu sein – nicht nur zu Vollmond. Aber niemand war da, um mir zu helfen, mich zu retten, mich zu trösten!"
„Bitte, Agnes", flüsterte Tia tröstend und trat endlich den letzten Schritt vor und wollte Agnes eine Hand auf die Schulter legen, aber diese wich zurück und ließ ihren Zauberstab sinken, als sie schluchzend die Hände vors Gesicht schlug.
Tia wusste nicht, was sie tun sollte und fühlte sich hilflos. Sie war schon immer schlecht darin gewesen, jemanden zu beruhigen, aber viel zu oft wurde sie in eine solche Situation geworfen. Sie wünschte sich, sie wäre ein bisschen sozialer, damit sie ihren Freunden helfen konnte, aber stattdessen erkannte sie immer und immer wieder, dass sie die meiste Zeit die Gefühle von anderen gar nicht verstand. Die Gefühle von anderen überforderten Tia noch mehr, als ihre eigenen Gefühle.
Agnes atmete tief durch und beruhigte sich wieder. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und schaute wieder auf und Tia lächelte – Agnes kämpfte weiter.
„Natürlich habe ich Angst, Sirius", sagte Agnes, „Natürlich habe ich Angst davor, dass sie mich wieder fangen. Dass sie mich zurück in diesen Keller bringen und ich nie wieder die Sonne sehen werde. Ich habe Angst vor den Schmerzen, die mir zugefügt werden würden. Ich habe Angst davor, mich meiner Mutter zu stellen, aber...", Agnes sah zu der schwangeren Frau, die stumm alles beobachtete und schützend eine Hand über ihren Bauch gelegt hatte, „...aber ich habe noch größere Angst davor, dass das nicht mir passieren könnte, sondern anderen. Ich will nicht, dass irgendjemanden etwas passiert – schon gar nicht, wegen mir."
Agnes rollte ihren Ärmel wieder hinunter. „Also verzeiht mir, wenn ich Angst davor habe, dass mich jemand verfolgt. Ich weiß selbst, dass ich Abschaum bin – meine bloße Existenz verdreckt den Stammbaum meiner Familie, aber... aber ich will nicht, dass jemand wegen mir leidet, weil meine Mutter mich tot sehen will."
„Verdrecken wir nicht alle ein bisschen unsere Stammbäume?", fragte Tia heiter und legte den Kopf schief, „Sieh dich um, Agnes. Sind wir nicht ein Haufen von Außenseitern, schrägen Persönlichkeiten und Verrückten?"
„Wenn nennst du hier verrückt, junge Dame?", fragte Sirius sie lächelnd.
„Den Mann, der jahrelang als gesuchter Mörder in der Zeitung gewesen ist", erwiderte Tia und Sirius lachte laut auf. Tia sah zu Agnes und ihre Blicke trafen sich. Tia war Agnes' Schwester. Sie waren nicht im Blut verwandt, aber auf so viele andere Arten. Tia wusste nicht, wie man eine Schwester war. Sie vermutete, es war das Gefühl, das sie auch Katie und Leanne gegenüber verspürte. Manchmal waren sie etwas seltsam, aber dann gab es wieder Momente, in denen sie sie einfach nur beschützen wollte, obwohl Tia wusste, dass sie das nicht konnte.
„Aber wer bestimmt, wer ein Außenseiter ist?", fragte Tia verwirrt, „Wer bestimmt, wer anders ist? Die Gesellschaft? Das Ministerium? Wir sollten aufhören, auf die Gesellschaft und das Ministerium zu hören, denn meiner Ansicht nach, sind die im Moment diejenigen, die verrückt sind, oder nicht? Fangen wir an, selbst zu entscheiden, wer ein Außenseiter ist!"
Es war leise. Niemand sagte ein Wort und Tia spürte, wie ihre Unsicherheit wuchs. Sie hatte schon wieder etwas Falsches gesagt – sie wusste es. Warum schaffte sie es immer wieder, genau das Falsche zu sagen?
„Habe ich etwas Falsches gesagt?", fragte sie unsicher und wäre am liebsten im Erdboden versunken.
„Nein", Agnes schüttelte den Kopf, „Nein, Tia, du hast genau das Richtige gesagt."
Tia lächelte breit und fühlte sich sofort wieder wohler. „Oh, gut", freute sie sich heiter, „Vielleicht sollten wir uns dann jetzt zusammensetzen und erst einmal Geschichten austauschen? Dann können wir zusammen entscheiden, was wir als nächstes tun."
„Ihr wollt uns doch nicht begleiten, oder?", fragte Agnes und hob eine Augenbraue.
„Natürlich!", rief Liza sofort.
„Komm schon, Agnes", grinste Konstantin, „Zusammen stürzen wir das Ministerium im Alleingang."
„Du übertreibst, Kon", schnaubte Sirius.
„Nein", Konstantin hob stolz den Kopf, „Vertraut mir, ich habe schon einen Plan. Sie werden nicht einmal wissen, was auf sie zukommt und wenn sie es endlich verstehen, wird es schon zu spät sein."
„Du bist echt gruselig, Konnie", murmelte Liza und Tia konnte ihr nur zustimmen.
„Ich weiß", Konstantin grinste, „Aber das sind wir alle, oder nicht?"
„Nein."
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