143. Kapitel
Tia hatte noch wirklich alleine Einkäufe erledigt und fühlte sich furchtbar aufgeregt, dass man ihre diese Aufgabe zugetraut hatte.
Sie hatte ganz allein einen Einkaufskorb genommen; hatte ganz alleine die Sachen gesucht, die die für ihre weitere Reise brauchen würden – und dazu noch etwas Schokolade –; hatte ganz alleine alles gefunden und die Liste abgearbeitet, die Liza, Konstantin und sie erst am Morgen zusammengestellt hatten.
Tia ging zur Kassa, zahlte für ihre Einkäufe und verließ mit ihrem Rucksack auf dem Rücken den Laden.
Sie war in London, aber sobald sie ein ruhiges Örtchen gefunden hatte, würde sie apparieren.
Konstantin und Liza hatten es als zu gefährlich gefunden, um weiterhin in einem Hotel zu wohnen und obwohl diese paar Tage noch in Komfort ihnen gutgetan hatten, so hatte sie doch beschlossen, es so vielen anderen nachzumachen und lieber in den Wald zu gehen.
Das war jetzt schon ein paar Wochen her und bisher hatte sich nichts verändert, aber das fand Tia nicht schlimm. Hin und wieder beschaffte Konstantin in Verkleidung eine Zeitung oder sie hörten etwas von anderen Zauberern, die sie belauschten, wenn sie in Gegenden mit Zauberern waren.
Tia bog in eine Seitengasse ab und blieb verwirrt stehen. Es war ein bekannter Geruch in der Luft. Der Geruch nach Nadelbäumen, obwohl weit und breit kein Nadelbaum zu sehen war und eigentlich hätten die Abgase der vorbeifahrenden Autos diesen Geruch überdecken müssen. Dazu roch es auch noch nach Pergament – das fand Tia noch seltsamer, denn in einer solchen Intensität war ihr dieser Geruch zwar schon häufig aufgefallen, aber nicht mitten in London.
Tia schüttelte den Kopf. Sie bildete sich das nur ein. Sie konnte nicht hier sein – sie versteckte sich doch.
Tia blickte sich um, ob jemand in der Nähe war, bevor sie ihren Rucksack schulterte und disapparierte.
Sie tauchte wieder in einem Wald auf – Sherwood Forest, wie Konstantin erklärt hatte.
Tia war noch nie im Sherwood Forest gewesen, bis Konstantin und Liza sie dorthin gebracht hatten. Das war erst vor wenigen Stunden gewesen, denn noch immer achteten sie darauf, dass sie nicht allzu lange an einer Stelle blieben.
Sie apparierte auf einer Lichtung – dort war zwar nicht das Lager, das sie für diese Woche aufgebaut hatten, aber innerhalb der Schutzlinie konnte man nicht apparieren, also wählten sie immer einen Ort in der Nähe.
Aber sobald Tia appariert war, bemerkte sie einen seltsamen Geruch in der Luft.
Der Wind spielte mit einigen Strähnen ihres Haares, die sich aus ihrem unordentlichen Zopf gelöst hatten, aber der Wind brachte auch bekannte Gerüche mit sich.
Tia runzelte die Stirn. Bildete sie sich diese Gerüche ein? Sie hatte sich bisher immer auf ihre Sinne verlassen – das hatte sie bemerkt, als sie Vielsafttrank genommen hatte und ihre verbesserten Sinne auf einmal nicht mehr vorhanden gewesen waren. Auf ihre manchmal verwirrenden und unübersichtlichen Gedanken konnte Tia sich nicht immer verlassen, aber auf ihre Sinne schon.
Aber doch spielte ihr Geruchssinn schon zum zweiten Mal an diesem Tag einen furchtbaren Streich.
Gerüche, die einfach nicht da sein konnten, spielten Erinnerungen in ihrem Kopf ab. Aber das war alles nicht möglich. Warum sollte sie diese Gerüche erst jetzt bemerken? Der Wind hatte sich gedreht und brachte auch den Geruch von Wasser mit sich – dort musste irgendwo ein Bach sein.
Tia zögerte. Die Todesser wussten bestimmt von ihren verbesserten Sinnen. Vielleicht war es nur eine Falle – eine schreckliche Falle, um ihre größte Stärke zu ihrer Schwäche zu machen.
Tia konnte sich nicht anders erklären, dass sie genau diese Personen roch, von denen sie wusste, dass sie nicht im Sherwood Forest sein konnten.
Tia blickte über die Schulter in die Richtung des Lagers. Man konnte es nicht sehen – mit Zauber erschien eine Illusion, als wäre dort nur einfacher Wald, wie auch sonst überall, aber wenn man über die Schutzlinie stieg, dann würde man das Zelt und das kleine Lager sehen, das die drei Reisenden aufgebaut hatten.
Tia blickte wieder nach vorne. Von dort kam der Geruch – wohl vom Bach in der Nähe.
Was sollte sie tun? Ins sichere Lager gehen oder doch lieber den Gerüchen folgen.
Bevor Tia noch länger darüber nachdachte, nahm sie all ihren Mut zusammen und nahm den Rucksack von ihrem Rücken. Sie öffnete ihn und kramte darin herum, bis sich ihre Hand um eine Phiole schloss – es war ein Reiztrank, der bei Körperkontakt sofort am ganzen Körper schmerzvolle Furunkel sprießen lassen würde. Es würde niemanden umbringen, aber es reichte als Ablenkung. Außerdem beruhigte Tia das Gefühl, einen Trank in der Hand zu halten. Dann fühlte sie sich nicht so wehrlos. In ihrer anderen Hand war ihr Zauberstab und sie konnte jederzeit apparieren, wenn es nötig war. Aber sie musste den Gerüchen folgen, um ihre Neugier zu stillen.
Sie folgte ihrer Nase – wortwörtlich – und konzentrierte sich auf den Geruch.
Er war nicht sonderlich stark, aber es waren bekannte Personen, die Tia suchte und sie kannte diese Gerüche gut. Ihr war schon aufgefallen, dass ihr Gerüche von den Menschen, die sie liebte und mochte eher auffielen, als andere.
Sie ging vielleicht fünf Minuten durch den Wald und versuchte sich zu konzentrieren – sie musste den Gerüchen folgen, horchte aber auch immer auf ihre Umgebung – wenn das ein Hinterhalt war, würde sie durch ihr Gehör informiert werden, aber es fiel ihr schwer, beides gleichzeitig zu machen. Aber sie durfte sich keinen Fehler erlauben – das könnte ihren Tod bedeuten und zum Sterben war sie noch nicht bereit.
Am Bach angekommen waren die Gerüche schon stärker.
Jetzt fiel Tia auch auf, dass nicht nur der Geruch von den beiden Personen, die sie suchte in der Luft lag, sondern auch noch andere Gerüche, sowie der metallische Geruch von Blut.
Am Ufer fand Tia Blutspuren – blutige Fußspuren, wie sie vermutete.
Das Blut war von keinem der beiden Personen, die Tia unter den Gerüchen erkennen konnte, sondern von Fremden.
Aber die Spur hörte dort nicht auf – sie führte in den Wald hinein – oder eher hinaus, denn die beiden, die Tia suchte, schienen aus einer anderen Richtung gekommen zu sein.
Tia suchte weiter und suchte sich ihren Weg durch den Wald. Der Geruch wurde schwächer, da er älter war und Tia wünschte sich, sie würde wirklich so gut riechen können, wie ihr Vater. Sie hatte nur einen Teil des Geruchssinns eines Werwolfs vererbt bekommen – mit Remus' Nase hätte sie bestimmt noch mehr riechen können, aber solange sie der Spur noch irgendwie folgen konnte, war sie zufrieden.
Es wurde Abend und Tias Magen knurrte, weil sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. In ihrem Rucksack wären die Vorräte, die sie gekauft hatte, aber sie wollte sie nicht ohne Konstantin und Liza anrühren – das hätte sie unfair gefunden. Die beiden machten sich auch sicher Sorgen, wo sie geblieben war, aber Tia mussteeinfach herausfinden, was passiert war. Trickste ihre Nase sie nur aus oder roch sie wirklich das, was sie zu riechen meinte?
Dieser Geruch von Hund und dem Parfüm, das auch Konstantin seit Neuestem benutzte. Dieser Geruch nach Keksen und Werwolf... Tia kannte diese Gerüche.
Es dämmerte schon, als Tia ihr Ziel erreichte. Sie wusste, dass es ihr Ziel war, da auf einer kleinen Lichtung zwei Leichen lagen, die aber dem Geruch nach zu urteilen schon ein paar Tage hier waren und schon stanken.
Fliegen schwirrten um sie herum und Tia atmete nur noch durch den Mund, um diesen übelerregenden Geruch nicht mehr riechen zu müssen – auf einmal hätte sie lieber einen schlechten Geruchssinn gehabt.
Tia blieb ein paar Meter von den Leichen entfernt stehen und riss sich zusammen. Sie wollte diese Leichen eigentlich nicht näher ansehen, aber sie redete sich einfach ein, dass es nichts weiter waren, als Gegenstände. Es waren keine toten Menschen, sondern einfach nur Gegenstände, die sie untersuchen musste. Auf gar keinen Fall anfassen – da hätte Tia sich übergeben, aber sie nur ansehen.
Vorsichtig trat Tia näher und verbannte die düsteren Gedanken aus ihrem Kopf – sie durfte nicht daran denken, dass es Leichen waren. Sie durfte nicht daran denken, dass das zwei Männer waren, die Freunde, Familie oder Kinder gehabt hatten. Sie durfte nicht daran denken, dass es egal war, ob diese Männer gut oder böse gewesen waren, sie dennoch lebende Menschen gewesen waren.
Es fiel ihr schwer, aber sie konnte einen Blick auf die Männer werfen.
Sie waren blutig und zerfetzt. Instinktiv wusste Tia, dass es ein Werwolf gewesen war und schnell wandte Tia ihren Blick wieder ab.
Sie hatte genug gesehen. Sie sollte wohl lieber zurück zum Lager gehen.
Tia ging den Weg natürlich nicht zurück, sondern apparierte und nur wenige Momente, nachdem sie wieder auf der bekannten Lichtung auftauchte, erschienen Konstantin und Liza wie aus dem Nichts, als sie durch die Schutzlinie traten.
„Tia!", rief Liza und rannte sofort zu dem Mädchen, „Wo bist du gewesen? Wir haben uns Sorgen um dich gemacht."
„Ich habe etwas entdeckt", erklärte Tia und beantwortete keine von Lizas Fragen.
„Was hast du entdeckt?", fragte Konstantin misstrauisch und sah sich um, als würde er erwarten, dass Feinde hinter den Bäumen hervorspringen würden, „Müssen wir schon wieder weiterziehen? Ist es hier nicht sicher?"
„Ich weiß nicht genau", gestand Tia. Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, aber es fiel ihr im Moment nicht leicht. Was genau hatte sie entdeckt? Was genau hatte sie herausgefunden? War das alles wirklich nicht nur Teil einer Illusion? „Ich glaube nicht, dass es stimmt, was ich denke."
„Das können wir noch immer entscheiden, wenn du es uns gesagt hast", versprach Liza sanft, „Sag uns einfach, was hast du gefunden?"
„Ich... das ist Blödsinn", Tia lachte auf, „Das ist nicht möglich. Ich verschwende nur eure Zeit."
„Wir wissen im Moment sowieso nichts besseres mit unserer Zeit anzufangen – wir stecken mit den Planungen für den Einbruch im Ministerium in einer Sackgasse", winkte Konstantin ab und diese rationalen Argumente überzeugten Tia.
„Nun, ich habe etwas gerochen und ich bin der Spur gefolgt", erzählte sie, „Es ist dort hinten beim Bach gewesen und dann weiter in den Wald hinein. Ich bin der Spur gefolgt und dann habe ich... ich habe zwei Leichen gefunden."
„Leichen?", fragte Liza mit etwas schriller Stimme und blickte besorgt zu Konstantin, „Dann sollten wir doch weiterziehen – wenn die Mörder noch in der Nähe sind –"
„Ich glaube nicht, dass die Mörder noch in der Nähe sind", unterbrach Tia sie, „Also... man kann sie nicht wirklich Mörder nennen. Sie würde es nicht wollen, dass man sie so nennt, immerhin ist es bestimmt nicht ihre Absicht gewesen, jemanden zu verletzen oder umzubringen?"
„Wer?", fragte Konstantin, „Wer ist sie?"
Tia schaute Konstantin in die Augen. „Ich habe sie gerochen", wisperte sie leise, „Ich denke, sie leben noch – alle beide."
„Wer?", fragte Liza aufgeregt.
Tia zögerte einen Moment. „Sirius und Agnes", antwortete sie, „Ich glaube, sie leben noch."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top