128. Kapitel

Tia konnte regelrecht beobachten, wie Leanne sich veränderte.

Zuerst tat sie nichts. Sie saß einfach nur da und starrte Professor McGonagall an, als wäre es alles nur ein Scherz und die sonst so ernste Professorin würde ihr sagen, dass das alles nur ein Witz gewesen war, aber Tia vermutete, dass das nicht passieren würde.

Leannes Hände hatten aufgehört zu zittern, aber Tia spürte ihren starken Händedruck auf ihrer Hand und Leannes Fingerknöchel färbten sich so weiß, wie Leannes Gesicht, aber ansonsten sah man Leanne kaum an, dass sie gerade so schreckliche Neuigkeiten bekommen hatte.

Leanne nickte. Sie sagte kein Wort, als sie Katie und Tia losließ, ihren Stuhl zurückschob und aufstand. Es war, wie Tia fand, ein bisschen so, als wäre Leanne in Trance. Als würde sie gar nicht realisieren, dass das alles wirklich passierte. Als wäre das Mädchen eigentlich ganz weit weg in einer anderen Welt. Vermutlich wünschte Leanne sich das in diesem Moment auch.

Professor McGonagall, Katie und Tia beobachteten Leanne, als wären sich alle drei nicht so ganz sicher, was sie jetzt tun würde. Wie würde sie auf diese Neuigkeiten reagieren? Keiner von ihnen hatte erwartet, dass Leanne einfach aufstehen und gehen würde.

Leanne machte zwei Schritte in Richtung Tür, aber weiter kam sie nicht, denn plötzlich brach sie einfach zusammen und Tia stürzte aus ihrem Stuhl, um ihre kleine Freundin aufzufangen, die ohnmächtig zusammengebrochen war und sicherlich schmerzvoll auf dem Boden aufgeschlagen wäre, wäre da nicht Tia gewesen, die selbst in einer unbequemen Position über die Stuhllehne gebeugt Leanne gerade noch so auf den Beinen halten konnte, aber zum Glück waren auch noch Katie und McGonagall im Raum, die ebenfalls schnell zu Leanne eilten und sie Tia abnahmen, damit diese aufstehen konnte, um ihnen mit Leanne zu helfen, die von McGonagall sanft auf den Boden gelegt wurde.

„Sie sollte in den Krankenflügel", schlug Katie vor. Auch sie war blass, aber Tia war sich nicht sicher, ob das nicht noch immer wegen ihrem eigenen Unfall war oder wegen der Nachrichten.

Tia hatte Mr und Mrs Travis kennengelernt. Sie waren freundliche Personen gewesen. Damit hatte sie nicht gerechnet.

Irgendwie überforderte Tia die ganze Situation. Erst letztes Jahr war Sirius gestorben, den Tia gut gekannt hatte. Besser, als Mr und Mrs Travis. Sie wusste, dass Konstantin Gregorovich in Sirius verliebt gewesen war; ihr Vater, Remus war Sirius' bester Freund gewesen; Harry war Sirius' Patensohn gewesen. Und doch merkte sie, dass diese Situation ganz anders war.

Sie kannte Leanne schon länger, als Remus, Sirius, Harry oder auch Konstantin. Sie kannte Leanne, seit sie das erste Mal nach Hogwarts gekommen war. Leanne war ihre Schwester geworden. Sie hatten sich einen Schlafsaal geteilt, sie hatte Leanne öfter nackt gesehen, als ihr lieb gewesen war und sie hatte Leanne in jeder Lebenssituation erlebt.

Sie so zerbrochen zu sehen, überforderte Tia maßlos und sie wusste einfach nicht mehr, was sie tun sollte. Es war ein bisschen so, als würde ihr Hirn ausschalten und Tia würde nur noch automatisch weiterlaufen, ohne etwas zu denken oder zu fühlen.

Sie hielt die ohnmächtige Leanne in ihren Armen, als wäre Leanne diejenige, die gestorben war. Das Mädchen, dem sie mehrmals versprochen hatte, auf ihrer Seite zu bleiben. Ihr zu helfen und ihre Freundin zu sein.

Aber jetzt war Tia vollkommen hilflos, als wäre sie blind und taub. Ihre Eltern waren tot. Einfach tot.

Und Eltern zu verlieren – Tia konnte sich das allein schon deswegen nicht wirklich vorstellen, da sie ihre Eltern noch nie wirklich als Eltern erlebt hatte, wie sie selbst fand.

Remus war ein Vertrauter, aber war er auch ein Vater?

Eva war nicht ihre Mutter.

Carla war ihre Großmutter – vielleicht war das das ähnlichste, das Tia verlieren könnte, damit sie etwas ähnliches spüren würde, wie Leanne in diesem Moment. Aber Tia hatte nicht wirklich Vergleiche, um zu wissen, wie Leanne sich fühlte, also schaltete sie ab.

Es war wie eine Trance, als McGonagall, Katie und Tia Leanne in den Krankenflügel brachten, damit sie sich dort ausruhen konnte.

Katie hatte Tränen in den Augen und auch Professor McGonagall wirkte ernsthaft betroffen. Ihre Schüler mussten ihr sehr ans Herz gewachsen sein und jedes Mal, wenn sie so eine Nachricht überbringen musste, war das vielleicht so, als würde sie einem eigenen Kind so eine Nachricht überbringen.

Leanne lag ruhig schlafend in einem Bett im Krankenflügel. Sie war einmal kurz aufgewacht, was gut war, denn so wussten alle, dass es ihr noch den Umständen entsprechend gut ging, aber sie war nicht lange wach geblieben, sondern schlief lieber durch ihre Trauer, obwohl sie erst vor wenigen Stunden aufgestanden war.

Madam Pomfrey hatte dafür gesorgt, dass sie einen Trank schluckte, damit sie ruhig schlafen konnte und das tat sie auch.

Professor McGonagall war gegangen und auch Madam Pomfrey hatte sie allein gelassen.

Katie und Tia saßen allein an Leannes Bett und es war eine unausgesprochene Sache gewesen, dass sie Leanne nicht allein lassen würden, also hatte McGonagall sie auch nicht zurück zum Unterricht geschickt, wohl mit dem Wissen, dass die beiden sowieso nicht gegangen wären.

„Ich verstehe das nicht", gestand Tia, nachdem es eine gefühlte Ewigkeit still gewesen war, „Sie ist doch nicht allein. Wir sind doch noch für sie da, oder nicht? Warum ist sie so... zerstört?"

Katie blickte auf und für einen winzigen Moment konnte man Unverständnis in ihren Augen sehen, aber dann blickte sie zu Tia, die nicht lächelte, aber auch nicht weinte. Aber das musste sie nicht. Katie erkannte, dass Tia sehr betroffen von dieser Nachricht war und Katie kannte Tia schon sehr lange.

Also zwang Katie sich zu lächeln. Nur ganz leicht, denn mehr hätte sie im Moment sowieso nicht geschafft, aber Tia sollte sehen, dass sie nichts Falsches gesagt hatte.

„Weißt du, Tia", erklärte Katie sanft, „ich glaube, Leanne weiß im Inneren, dass sie nicht allein ist. Sie ist nie allein – ich bin da und du – aber... wenn man so eine Nachricht bekommt, dann denkt man nicht immer daran. Für einen kurzen Moment fühlt es sich so an, als wäre man allein und dann zerbricht man innerlich."

„Das verstehe ich nicht", seufzte Tia etwas frustriert.

„Ich weiß", meinte Katie leise, „Aber das ist nicht schlimm. Wichtig ist nur, dass Leanne im Moment das Gefühl hat, alles verloren zu haben, das ihr wichtig gewesen ist."

„Sind wir ihr nicht wichtig?"

„Ich weiß, dass wir ihr auch wichtig sind", versicherte Katie Tia, „Aber wir sind noch da – ihre Eltern nicht mehr. Mit uns kann sie noch ganz viele neue Erinnerungen schaffen. Sie kann noch mit uns sprechen, uns umarmen, uns immer mehr kennenlernen. Aber ihre Eltern... die sind fort. Sie wird sie nicht wiedersehen und das weiß Leanne. Sie kann nicht mehr mit ihnen sprechen und vielleicht erinnert sie sich jetzt an die ganzen Fragen, die sie noch nie gestellt hat, die sie aber noch stellen wollte."

„Wenn ihre eine Frage habe, dann stelle ich sie", bemerkte Tia, „Außer natürlich, ich bin zu schüchtern... dann nicht... aber bei Eltern ist man doch nicht schüchtern, oder?"

„Ich glaube, bei Eltern ist man noch schüchterner, als bei Fremden", meinte Katie sanft, „Man will ihnen gefallen und man hat Angst, dass ein Satz, der den Mund verlässt, sie enttäuscht. Hast du Remus schon alles gefragt, was du ihn fragen wolltest?"

„Ich kenne Remus noch nicht so lange", zeigte Tia auf, „Das ist etwas anderes..."

„Ist es das?"

Kurz war es wieder still. Keiner von beiden wusste wirklich, was sie sagen sollten.

„Woher weißt du das alles?", fragte Tia ihre Freundin jetzt doch ein bisschen schüchtern, „Woher weißt du, wie Leanne sich fühlt?"

„Ich habe auch meine Eltern verloren, Tia", erinnerte Katie sie.

„Aber sie leben doch noch", Tia runzelte verwirrt die Stirn.

Ich bin für sie gestorben, als sie gesagt haben, ich soll meine Sachen packen und ausziehen", meinte Katie trocken, „Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder mit meinen Eltern sprechen werde oder sie umarmen werde. Als ich das Haus verlassen habe, habe ich das gefühlt – ich habe mich an all die Sachen erinnert, die ich meine Eltern nie gefragt habe. Ich habe so viele Sachen nicht mit ihnen getan, die ich schon als kleines Kind immer mit ihnen machen werde. Ich wollte von meinem Vater zum Altar geführt werden; ich wollte mit meiner Mutter Gewand für meine Hochzeit kaufen; ich wollte sie in der ersten Reihe bei meiner Hochzeit sehen – davon habe ich schon als kleines Kind geträumt, obwohl ich damals noch nicht einmal gewusst habe, dass ich lesbisch bin."

Wieder wurde es für einen Moment still, der nur Sekunden dauerte, aber für Tia schienen Stunden zu vergehen, in denen die Gedanken in ihrem Kopf nur so herumschwirrten und die so laut und verwirrend waren, dass Tia sich selbst nicht mehr verstehen konnte.

„Glaubst du, ich werde auch so reagieren, wenn Remus stirbt?", fragte Tia ihre Freundin und ihr Ton sagte nicht aus, was sie fühlte. Es war so, als wäre es eine ganz normale Frage – komplett sachlich und ohne Emotionen.

„Ich weiß nicht, Tia", gestand Katie, „Ich weiß nicht, wie du reagieren wirst."

Und plötzlich krachten alle Emotionen auf Tia ein, als wäre es ein riesiger Betonpflock, der Tia in die Erde grub und es war so, als würde sich ihr Herz zusammenziehen, als sie sah, wie Katie Schwierigkeiten hatte, ihr zu erklären, was Leanne fühlte.

„Es tut mir leid", schniefte Tia und nun traten doch noch Tränen in ihre Augen. Sofort war Katie auf den Beinen und eilte zu ihr, vollkommen verwirrt, warum Tia plötzlich so reagierte und Katie nahm Tias Hände in die ihren und kniete sich vor ihr auf den Boden.

„Was tut dir leid, Tia?", fragte Katie etwas verwirrt und vielleicht auch etwas überfordert, „Warum weinst du denn?"

„Es tut mir leid, dass ich so bin", schluchzte Tia, „Ich... ich will es ja verstehen... aber... ich kann es nicht..."

„Das ist doch nicht so schlimm, Tia", Katie strich Tia eine Träne von der Wange und lächelte sie an, „Viele Leute verstehen viele Dinge nicht. Dafür muss man sich doch nicht entschuldigen."

„Aber Leanne ist traurig und ich weiß nicht, was ich machen kann, damit es ihr besser geht", gestand Tia überwältigt von ihren Gedanken und Gefühlen.

„Tia? Katie?", es war die schwache Stimme von Leanne, die die beiden von ihrem Gespräch aufsehen ließ. Leanne war aufgewacht – Tia hoffte, dass sie sie nicht geweckt hatte – und sah sich mit müden Augen um.

Katie sprang sofort wieder auf und eilte zu ihr ans Bett.

„Hey, Leanne", Katie lächelte ihre Freundin traurig an, „Wie fühlst du dich?"

„Es ist kein Traum gewesen, oder?", fragte Leanne schwach – ihre Stimme klang so verunsichert, wie Tia es noch nie gehört hatte. Tia ging lieber nicht zu Leanne ans Bett. Sie wollte das Mädchen nicht mit ihrem Unwissen noch mehr aufregen. Am liebsten wäre Tia aufgestanden und wäre gegangen, aber auf der anderen Seite wollte sie Leanne auch nicht allein lassen.

„Nein, es ist kein Traum gewesen", meinte Katie sanft und Leanne schien noch kleiner zu werden, als sie sowieso schon war.

„Oh", machte das Mädchen und blickte weg von Katie und bevorzugte es auf die Decke des Krankenflügels zu starren, „Ich wäre jetzt gerne allein."

„Nein", sagte Katie wieder, „Wir lassen dich nicht allein."

„Ist Tia auch hier?", fragte Leanne und blickte sich um. Tia wischte sich schnell die Tränen aus den Augen und stand jetzt doch auf, um an Leannes Bett zu gehen.

Leanne setzte sich auf und schaute Tia an, als würde sie erwarten, dass auch sie etwas sagte. Aber Tia wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war so, als wäre ihr gesamter englischer Wortschatz wie ausgelöscht und sie hätte nicht einmal ein Wort herausgebracht, wenn sie gewollt hätte oder gewusst hätte, was sie sagen sollte.

Also griff Tia in ihre Umhangtasche und holte eine Tafel Schokolade hervor, packte sie aus und hielt sie Leanne hin.

Für einen Moment schaute Leanne zwischen der Schokolade und Tia hin und her und Tia befürchtete schon, dass sie genau das Falsche getan hatte. Sie hätte lieber gehen sollen, als sie die Chance dazu gehabt hatte.

Aber stattdessen warf sich Leanne plötzlich um ihren Hals und umarmte sie fest, drückte Tia an sich und begann zu weinen. Bisher hatte Leanne noch nicht geweint und Tia fragte sich, ob das nun gut oder schlecht war, als sie noch immer mit der Schokolade in der Hand Leanne etwas steif umarmte und warf einen hilfesuchenden Blick zu Katie, die aber lächelte und ihr zunickte. Also hatte sie das Richtige getan?

Vorsichtig legte Tia einen Arm um Leanne, als wäre sie nicht sicher, ob Leanne das wollte, aber Leanne drückte sie noch fester an sich und weinte einfach weiter, also beschloss Tia, dass es in diesem Moment egal war, ob sie das Richtige getan oder gesagt hatte – Leanne brauchte sie, also legte sie die Schokolade auf dem Bett ab und umarmte Leanne zurück – vielleicht auch, um ihr zu zeigen, dass Tia für sie da war, ohne auch nur ein einziges Wort gesagt zu haben.

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