120. Kapitel

Leanne wurde wach, als Tia schon weg war. Es war seltsam, komplett allein wach zu werden im einsamen Schlafsaal der Mädchen der siebten Klasse. Immerhin war schon seit Anfang vom Jahr Vicky nicht mehr unter ihnen, aber jetzt, da Katie tatsächlich in St. Mungos eingeliefert worden war, wachte Leanne erschreckend häufig allein auf.

Tia war schon unten im Gemeinschaftsraum und sie war nicht die einzige, die an einem Samstag nicht bis Mittag schlief. Ganz Hogwarts schien auf den Beinen zu sein, denn heute fand das Spiel Gryffindor gegen Slytherin statt und viele Schüler – nicht nur Slytherins und Gryffindors – waren daran interessiert.

Als Leanne aber die Treppen hinunterging, saß Tia noch in ihrem Pyjama auf einem Sessel nahe dem Kamin und zeichnete gedankenverloren in ihrem Skizzenbuch. Leanne näherte sich ihr und sah über die Schulter des Mädchens, dass sie nicht nur irgendetwas zeichnete – sie zeichnete die Szene, in der Katie in die Luft gehoben worden war. Leanne wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, also sah sie schnell wieder weg und versuche, es zu vergessen.

„Tia?", fragte sie ihre Freundin stattdessen vorsichtig und wickelte ihren Gryffindor-Schal um ihren Hals.

Tia blickte er erschrocken auf und erkannte nur Leanne. Leanne hatte sich verändert, seit Katie nicht mehr in Hogwarts war. Sie trug ihre Haare nicht mehr in eleganten Frisuren, sondern steckte sie nur noch schlampig hoch oder ließ sie offen, wie im Moment. Tia war noch nie so wirklich aufgefallen, wie lang Leannes Haare eigentlich waren und ihre blonden Locken sahen unfrisiert aus. Unter Leannes Augen waren dunkle Ringe, wie auch Tia sie hatte.

„Oh, hallo Leanne", begrüßte Tia ihre Freundin leise und wandte sich wieder an ihre Zeichnung.

„Kommst du nicht mit hinunter zum Spiel?", fragte Leanne unsicher.

Tia schüttelte den Kopf.

„Aber du hast doch bisher beinahe alle Spiele von Gryffindor angesehen", bemerkte Leanne verwirrt, „Und du bist auch immer zu den Trainings gegangen. Du siehst doch gerne beim Quidditch zu, oder nicht?"

„Ich sehe meinen Freunden gerne beim Spielen zu", gestand Tia verbittert, was unüblich für das Mädchen war, „Aber jetzt sind keine meiner Freunde noch im Team. Warum sollte ich zusehen?"

Tatsächlich waren keine mehr geblieben. Tia kannte zwar Ron, Ginny und Harry, die im neuesten Team waren, aber Tia war sich nicht sicher, ob sie die drei als ihre „Freunde" bezeichnen wollte. Nicht, dass sie sie nicht leiden konnte, aber auf der anderen Seite waren es eben nicht Katie und Leanne und nicht einmal Angelina, Alicia oder Fred und George. Sie waren eben gute Bekannte, von denen Tia nicht wusste, ob sie überhaupt etwas mit ihr zu tun haben wollten. Vielleicht taten sie ja auch nur so, als würden sie Tia mögen.

„Du kommst nicht mit?", fragte Leanne und klang für einen Moment enttäuscht, aber dann lächelte sie verständnisvoll, „Brauchst du Gesellschaft?"

„Eigentlich nicht, wirklich, außer du willst unbedingt hier bleiben", gestand Tia vorsichtig, aber Leanne wurde nicht böse und fühlte sich auch nicht verletzt – das war eben Tia.

„Aber dir geht es gut?", fragte Leanne vorsichtshalber nach, „Gehst du auch nicht frühstücken?"

„Ich haben schon einen Tee getrunken", gestand Tia, „Ich bin schon etwas länger wach."

„Du siehst auch müde aus", seufzte Leanne und machte sich um ihre Freundin Sorgen.

„Du aber auch", verteidigte sich Tia und zeigte auf Leannes eigene Augenringe, „Schläfst du genug?"

„Ich versuche es", versprach Leanne und das reichte Tia. Sie beide versuchten irgendwie zu schlafen, aber die Träume verhinderten das teilweise.

Träume, nicht nur von dem Erlebnis, das Katie ins Krankenhaus gebracht hatte. Auch Träume, wie Agnolia Tripe vor ihrem Bett steht; Träume, wie Remus und Carla verletzt oder getötet werden; Träume, wie George vor ihren Augen stirbt. Und das einzige, das Tia tun kann, um sich zu versichern, dass es allen gut ging, war Briefe schreiben und bei Lehrern nachfragen.

„Und dir geht es wirklich gut?", fragte Leanne noch einmal, nachdem Tia etwas in Gedanken verloren aussah.

„Ja, ja", winkte Tia ab und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, „heute Nacht ist nur Vollmond und ich habe Kopfschmerzen."

„Du glaubst doch nicht, dass es wieder so eine schlimme Nacht wird, wie damals?", fragte Leanne noch besorgter. Sie dachte an die eine Vollmondnacht, in der Tia wirklich die Schmerzen einer Vollmondnacht gespürt hatte. Normalerweise konnte sie nur nicht schlafen, aber in dieser einen Nacht musste sie dann sogar in den Krankenflügel und die Schmerzen abwarten.

„Ich hoffe nicht", gestand Tia, weil sie selbst sich nicht sicher war, wie diese Nacht ablaufen würde.

Leanne schaute ihre Freundin besorgt an. „Ich gehe dann jetzt wohl besser", beschloss sie, „Das Spiel beginnt sicher bald. Wenn du doch zusehen willst, dann... weißt du, wo du mich findest."

Tia nickte und nach kurzem Zögern ging Leanne.



Tia lag allein im Gemeinschaftsraum auf einem der bequemen Sofas, aber sie spürte die weiche Unterfläche kaum.

Alles, was sie spürte, waren Schmerzen.

Nicht nur ihr Kopf pochte, als würde jemand mit einem Vorschlaghammer darauf herumhämmern, sondern ihr gesamter Körper schien sich ausdehnen zu wollen. Und doch waren ihre Gedanken nur bei Remus, der diese Schmerzen jeden Vollmond überleben musste, während sie sie nur spürte, wenn sie gestresst war.

Gryffindor hatte das Spiel gewonnen, wie Tia gehört hatte und eine Party hatte danach stattgefunden, sodass Tia sich einige Zeit nach oben in den Schlafsaal verzogen hatte, wo es wenigstens etwas ruhiger gewesen war, aber sobald auch die restlichen Schüler langsam schlafen gegangen waren, war sie wieder nach unten.

Sie wusste, dass die Schmerzen irgendwann aufhören würden, aber bis dahin musste sie die Zähne zusammenbeißen und durchhalten. Etwas anderes blieb ihr auch nicht übrig und etwas anderes blieb auch Remus oder auch Agnes nicht übrig.

Ganz im Gegenteil – die beiden verwandelten sich dann auch noch in blutrünstige Monster, die Blut schmecken wollten und wenn sie dieses nicht bekamen, sich auch selbst verletzten. Wenigstens behielt Tia während dieser Zeit ihren Verstand.

Es war bestimmt schon weit nach Mitternacht, als Tia hörte, wie jemand den Gemeinschaftsraum durch das Portraitloch betrat und sie versuchte leise zu sein. Sie schloss fest die Augen und konzentrierte sich darauf, keinen Laut von sich zu geben und eigentlich gelang ihr das auch, aber leider waren die Schüler, die gekommen waren nicht nur irgendwelche, sondern es waren Harry und Hermine.

„Tia?", es war Hermine, die sie als erstes erblickte und sie kam etwas näher.

Tia überlegte, ob sie einfach so tun sollte, als ob sie schlafen würde, aber dann öffnete sie doch die Augen, bereute es aber, als Hermines Lumos-Zauber sie blendete und sie warf schnell die Hand vor die Augen.

„Hättest du etwas dagegen, das ein bisschen weniger hell zu machen?", fragte Tia erschöpft, „Es blendet wirklich."

„Ist alles in Ordnung mit dir?", fragte Harry besorgt und war neben Hermine getreten, die ihren Zauberstab sinken ließ und es wurde etwas weniger hell.

„Alles gut, alles –" Tia beendete den Satz nicht, denn sie musste die Zähne zusammenbeißen, als eine weitere Welle des Schmerzes durch ihren Körper zuckte und sie musste sich bemühen, nicht vor Schmerz aufzuschreien.

„Bist du krank?", fragte Hermine sofort besorgt und legte eine Hand auf Tias verschwitzte Stirn, „Tia, durch brennst förmlich! Du solltest wirklich in den Krankenflügel gehen!"

„Das bringt sich nichts", Tia keuchte schwer, als der Schmerz wieder für kurze Zeit verschwand und sie antworten konnte, „Madam Pomfrey kann mir auch nicht helfen."

„Aber was ist das?", fragte Harry verwirrt, „Warum kann sie dir nicht helfen?"

„Es ist Vollmond", erklärte Tia, wurde aber von einer weiteren Schmerzwelle unterbrochen und sie krümmte sich zusammen, obwohl sich ihr Körper so anfühlte, als würde er sich am liebsten ausbreiten wollen, „Es ist hoffentlich bald vorbei."

„Vollmond?", wiederholte Hermine verwirrt, „Aber... du verwandelst dich doch nicht, oder?"

„Nein, ich habe nur die Schmerzen, als würde ich mich verwandeln", stöhnte Tia, als die Schmerzen plötzlich aufhörten – es war endlich vorbei, „Oh, schon vorüber."

„Einfach so?", fragte Harry.

„Einfach so", bestätigte Tia munter.

„Passiert das öfter?", fragte Hermine unsicher, „Ich habe gedacht, du würdest einfach nicht schlafen."

„Wenn ich zu viel Stress ausgesetzt bin, passiert das wohl", vermutete Tia, „Wir sind uns noch nicht ganz sicher, aber es zeigt sich ein Muster. Bisher ist es nur einmal zuvor passiert und seitdem nicht wieder, aber nach allem, was in letzter Zeit passiert ist... es wundert mich nicht."

„Weiß Madam Pomfrey darüber Bescheid?", fragte Hermine sie, „Vielleicht gibt es ja doch eine Möglichkeit."

„Das Problem ist, dass ich die Schmerzen spüre, die ein Werwolf hat, wenn er sich verwandelt", erklärte Tia geduldig, „Und dagegen gibt es einfach keine Heilmittel. Wenn es die gäbe, wäre bestimmt alles einfacher... für... Remus..."

„Aber... wir müssen doch irgendetwas tun können", bestand Harry und wirkte sicher, dass er Tia irgendwie helfen könne, aber das konnte er nicht.

Tia schüttelte den Kopf. „Nein, Harry, da muss ich wohl durch. Es ist ja nicht jeden Monat, im Gegensatz zu einer wirklichen Verwandlung. Es ist nur in letzter Zeit alles so stressig, aber ich bekomme das schon hin. Die Schmerzen dauern ja nie lange."

„Vielleicht weiß Lupin etwas", schlug Hermine vor, aber sofort schüttelte Tia wieder den Kopf.

„Sagt ihm nichts", bat sie die beiden ernst, „Sagt niemanden etwas darüber. Leanne würde mich umbringen, wenn sie erfahren würde, dass ich ihr nichts davon erzählt habe."

„Aber...", stammelte Hermine, „Du... du brauchst Hilfe. Du musst das nicht allein durchstehen."

„Du irrst dich, Hermine", meinte Tia ruhig, „Das ist mein Kampf – mein Blut. Das ist der Preis, den ich für meine Vorteile bezahle und es ist ein kleiner Preis, wie ich finde. Aber ich muss das allein durchstehen. Niemand kann mir helfen", Tia sah auf ihre Hände, die noch immer zitterten, „Das würde die anderen nur beunruhigen, genauso, wie es euch beide beunruhigt."

„Natürlich machen wir uns Sorgen", verteidigte sich Harry, „Du hast Schmerzen, willst aber keine Hilfe!"

„Weil es keine Hilfe dafür gibt", bemerkte Tia scharf, „Versteht ihr nicht? Die einzige Hilfe wäre die, dass mein Leben perfekt wäre. Dass wieder alles gut werden würde, dass Katie wieder gesund wäre, dass ich meine UTZs ohne Probleme schon hinter mir habe und dass kein schwarzmagischer Zauberer draußen vor Hogwarts auf mich warten würde, als wäre ich Frischfleisch. Versteht ihr? Es ist vorbei, sobald alles – all das hier – vorbei ist."

Hermine und Harry wussten nicht mehr, was sie dazu sagen sollten. Tia wirkte geschwächt und müde, aber sie schien keine Schmerzen mehr zu haben. Trotzdem ähnelte sie ihrem Vater in diesem Moment sehr – das war aber keine gute Sache, denn beide sahen im Moment sehr müde aus.

„Wenn ihr mich jetzt entschuldigt, ich würde mich gerne noch etwas ausruhen... nicht, dass ich jetzt schlafen könnte, das wäre zu viel verlangt", murmelte Tia gedankenverloren, „Wenn ich mich richtig erinnere, kommen die Schmerzen vermutlich bei Morgengrauen zurück."

Sie rollte sich wieder auf dem Sofa ein und drehte den Rücken und Hermine und Harry. Ein deutliches Zeichen dafür, dass das Gespräch wohl zu Ende war.

Die beiden Freunde sahen sich noch einmal unsicher an, aber sie verstanden, dass Tia gar keine Hilfe haben wollte. Sie lebte einfach durch die Schmerzen und wollte nicht einmal, dass ihr geholfen wurde. Und selbst das musste akzeptiert werden, denn man konnte nur denjenigen helfen, die sich auch helfen lassen wollten und Tia war keine davon.

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