10. Kapitel
Es war wirklich sehr still, als Tia Fuego wieder einmal in der Nacht nicht anders konnte, als herumzuwandern und nicht zu schlafen.
Das letzte Mal hatte sie die Nacht einfach im Gryffindor-Gemeinschaftsraum verbracht, aber dieses Mal konnte und wollte sie nicht wieder Stunden mit Nichtstun verschwenden. Ihre Hausaufgaben hatte sie in dieser Nacht schon erledigt, sie hatte auch schon gezeichnet und ihrer Großmutter einen Brief geschrieben, aber nun war ihr Langweilig und sie brauchte einen Tapetenwechsel.
Leise schlich sie sich auf die Gänge, aber nachdem sie niemanden sah oder hörte, schlenderte sie schon beinahe gemütlich weiter.
Meist entdeckte man in der Nacht Sachen, die einem noch nie aufgefallen waren – Geheimgänge, Gemälde mit seltsamen Personen, geheime Türen zu seltsamen Räumen...
Es war beinahe so, als würde Tia eine ganz neue Welt betreten, die ganz von vorne erforscht werden musste.
Seit sie das letzte Mal in der Nacht draußen gewesen war, hatte sie viel über sich nachgedacht.
Ihr Leben lang war sie hauptsächlich bei ihrer Großmutter aufgewachsen und hatte kaum Leute kennengelernt, also hatte sie eigentlich nie die Chance gehabt, sich mit anderen zu vergleichen.
Bei ihrer Großmutter war alles, was sie jemals getan hatte, ganz normal gewesen. Als sie Sachen zum Schweben brachte, ihre Zeichnungen sich bewegten, Blumen in ihrer Nähe blühten oder sonst irgendwelche Vorkommnisse in ihrer Nähe geschahen, die jetzt, wo Tia zurückdachte, doch ziemlich häufig vorkamen, hatte ihre abuelita ihr nie das Gefühl gegeben, als hätte sie etwas Falsches getan. Natürlich hatte sie sie auch nicht dafür gepriesen oder sie dafür verehrt – es war ganz normal gewesen.
Ihre Sinne – besseres Gehör, ihre Nachtsicht, der Geruchssinn, ... das alles hatte ihre Großmutter nie irgendwie seltsam gefunden – jedenfalls nicht in Tias Nähe.
Dass Tia in Vollmondnächten auch nie schlief, war ebenfalls irgendwann zu einer Tradition geworden und manchmal, als Tia noch jünger gewesen war, war auch ihre Großmutter noch lange wach geblieben, um ihrer Enkelin Gesellschaft zu leisten.
Als McGonagall mit Tias Brief in Tias Haus gekommen war, hatte ihre Oma es als selbstverständlich aufgenommen, dass ihre Enkelin eine Hexe war und auch Tia dachte, dass die Dinge, die um sie herum geschahen eigentlich ganz normal für Hexen und Zauberer waren, aber nein –
Ihre Freundinnen schliefen in Vollmondnächten, wie in jeder anderen Nacht auch, sie hörten, sahen oder rochen nicht besser und offenbar schienen sie auch keine Vorliebe für rohes Fleisch zu haben – das hatte aber ihre Großmutter auch schon immer seltsam gefunden, hatte es aber mit der Zeit ohne nachzufragen für Tia gekocht.
Tia war unter Ihresgleichen – Hexen und Zauberer, aber manchmal fühlte sie sich doch, als wäre sie so ganz anders, als alle anderen und wünschte sich die Antworten auf die vielen Fragen, die sie hatte.
Tia hörte ihn nicht, sah ihn nicht und roch ihn nicht einmal, aber plötzlich stand er direkt hinter ihr und Tia wirbelte herum.
Professor Dumbledore stand vor ihr, lächelnd und er musterte sie über seine Halbmondbrille hinweg. Er war auch nicht in Nachtgewändern unterwegs, als vermutete Tia, dass er entweder noch gar nicht geschlafen hatte oder schon wieder wach war.
„Gute Nacht, Professor", wünschte Tia ihm entspannt und Dumbledore hob eine buschige Augenbraue.
„Es scheint dir nicht sonderlich unangenehm zu sein, dass ein Professor dich mitten in der Nacht außerhalb des Bettes aufgefunden hat, Tara", bemerkte Dumbledore und Tia überlegte einen Moment.
„Ist nicht so, als könnte ich jetzt noch viel daran ändern. Sie haben mich gesehen – ich habe Sie gesehen... Ich werde bestraft, egal, ob ich jetzt schreie, flehe oder bettle..."
„Du scheinst trotzdem nicht erwartet zu haben, dass dich jemand erwischt", zeigte Dumbledore auf.
„Das habe ich nicht", weiter ging Tia nicht darauf ein und sie beließ es dabei. Ja, Dumbledore hatte sie erwischt, was nicht bedeutete, dass sie ihm sofort verraten musste, dass sie normalerweise die Leute hörte, bevor sie sie sah.
Dumbledore musterte sie und Tia konnte einfach nicht erraten, was er dachte. Bestimmt würde er ihr Punkte abziehen, vielleicht sie sogar nachsitzen lassen – Tia hoffte innerlich, dass er sie nicht von der Schule werfen würde.
„Warum treffen wir uns nicht bei meinem Büro auf eine Tasse Tee?", fragte Dumbledore sie zu ihrer Überraschung und einen Moment wusste Tia nicht, was sie darauf antworten sollten, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Dumbledore ein „Nein" nicht akzeptieren würde.
Sie nickte und Dumbledore wies ihr mit einer Handbewegung den Weg, bevor er vorging. Tia wusste nicht, was sie erwarten würde, aber sie folgte ihm dennoch – zum Teil aus Neugier, weil sie wissen wollte, was es mit dem Schulleiter auf sich hatte.
Dumbledore führte sie zu einem Wasserspeier und sagte: „Schokoladentrüffel!"
Der Greif sprang zur Seite und gab eine Treppe frei, die sich selbst nach oben zu winden schien und Dumbledore stellte sich einfach darauf und ließ sich von ihr nach oben tragen. Tia folgte seinem Beispiel.
Dumbledores Büro war so rund, wie der Gemeinschaftsraum der Gryffindors und es war groß und geräumig, obwohl allerhand eigenartiger Gerätschaften herumstanden, die Tia noch nie gesehen hatte.
In einem offenen Kamin brannte Feuer, und ein Schreibtisch mit jeweils einem Stuhl auf jeder Seite stand bereit.
Neben der Tür saß auf einer Stange ein sonderbarer Vogel – ein Phönix, wie Tia ihn schon einmal in einem Buch gesehen hatte und erstaunt hing ihr einen Moment der Mund offen, bevor sie sich zusammenriss.
„Das ist Fawkes, ein Phönix, wie dir bestimmt schon aufgefallen ist", erklärte Dumbledore höflich, „Setzen wir uns doch."
Tia ließ das sich nicht zweimal sagen und setzte sich auf den einen Stuhl gegenüber von Dumbledore.
Er schenkte ihr aus einer Teekanne heißen, dampfenden Tee in eine bereitstehende Tasse und Tia fragte sich, ob Dumbledore dieses Treffen geplant hatte, oder ob er den Tee magisch heiß werden ließ, denn er sah so aus, als wäre er nur für dieses Gespräch frisch gebraut worden.
„Du lebst bei deiner Großmutter, oder nicht, Tara?", fragte Dumbledore sie und einen Moment verzog Tia unzufrieden das Gesicht bei der Erwähnung ihres echten Namens. Niemand nannte sie so.
„Ja", Tia wusste nicht genau, worauf der Schulleiter hinauswollte und nahm einen Schluck von dem Tee – Ingwer mit Orange und Salbei, wie ihre Großmutter ihn immer trank. Verwundert blickte Tia auf, aber Dumbledore ließ sich nichts anmerken, also konnte Tia nicht anders, als nachzufragen: „Entschuldigen Sie, Sir, aber... dieser Tee... wie kommen Sie auf diese Mischung? Sie scheint doch eher ungewöhnlich zu sein."
„Oh, eine interessante Geschichte", winkte Dumbledore ab, „Und tatsächlich hat sie auch etwas mit dir und deiner Großmutter zu tun, Tara. Nachdem Professor McGonagall deinen Brief übergeben hat, hat sie begonnen, nur noch die Teemischung deiner Großmutter zu trinken – sie ist auch wirklich gut. Ganz zu schweigen davon, dass auch Lehrer langsam den Geschmack an spanischen Gerichten zu schätzen wissen, nachdem sie seit deiner Ankunft auch hin und wieder am Tisch stehen."
„Freut mich, dass meine Anwesenheit wenigstens einen guten Geschmack mit sich bringt", erwiderte Tia, „Englisches Essen ist auf Dauer doch eher fad und eintönig."
„Da hast du wohl Recht – aber genug von Essen geredet", lenkte Dumbledore das Gespräch wieder zurück, „Tatsächlich ist mir nicht bekannt, warum du bei deiner Großmutter aufgewachsen bist, und nicht bei deinen Eltern."
Tia runzelte die Stirn und dachte einen Moment lang nach. Sie sprach nicht gerne über ihre Eltern. Eigentlich sprach sie generell nicht gerne über ihre Familie, außer über ihre Großmutter.
„Ich sehe schon, wohin sie mit dem Gespräch gehen", bemerkte sie ein wenig misstrauisch, „Sie können mich auch einfach frei heraus fragen..."
„Natürlich", Dumbledore nickte, „Mich würde interessieren, was mit deinen Eltern passiert ist, Tara."
„Meine Mom lebt in London – sie hat wieder geheiratet und hat drei andere Kinder, außer mir", erinnerte Tia sich daran, was ihre Großmutter ihr erzählt hatte, „Wir haben aber keinen Kontakt. Hin und wieder spricht meine Mutter mit meiner abuelita, aber nicht mit mir. Sie will mich eigentlich gar nicht mehr sehen... Meinen Vater habe ich nie kennengelernt."
„Hast du dir schon einmal überlegt, ob dein Vater vielleicht auch ein Zauberer ist?", zeigte Dumbledore auf.
Natürlich hatte Tia daran schon einmal gedacht, immerhin dachte sie doch relativ viel über ihre zerbrochene Familie nach.
„Ja, sicher", sagte sie verwirrt, „Aber... er war Engländer, hat meine Großmutter erzählt. Sie müssten ihn wahrscheinlich kennen, wenn er ein Zauberer wäre..."
„Kennst du seinen Namen?", fragte Dumbledore und lehnte sich ein wenig vor und faltete die Hände.
„Nein", Tia schüttelte den Kopf und sie bemerkte, wie Dumbledore kaum merklich ein wenig zusammensank, „Nur meine Mom kennt seinen Namen. Nicht einmal meine Großmutter weiß ihn. Sie... sie haben sich nur eine Nacht gekannt..."
„Ich verstehe", Dumbledore nickte, „Also hat deine Mutter auch nicht viele Informationen, wie ich vermute."
„Sie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben, nachdem sie erfahren hat, dass sie schwanger ist", gestand Tia leise, „Ich glaube, deswegen hat sie mich weggegeben – könnte aber auch sein, weil ich schon früh magische Fähigkeiten gezeigt habe. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sie ihn wirklich so sehr hasst, wie sie immer sagt – immerhin ist sie nach England gezogen, nachdem er sie verlassen hat."
Tia wusste nicht, warum sie das erzählte – das hatte sie eigentlich nicht einmal ihrer Großmutter erzählt. Insgeheim glaubte Tia, dass sich ihre Mutter wirklich in ihren Vater verliebt hatte und sie deswegen nach England gezogen war – vielleicht, um nach ihm zu suchen.
„Ich bedanke mich bei dir für das Gespräch", meinte Dumbledore und stand auf, „Bestimm bist du müde."
„Oh, nein", Tia leerte schnell mit einem Zug ihren Tee und stand selbst auf, „Es ist Vollmond – ich schlafe eigentlich nie in Vollmondnächten. Eine Angewohnheit, die meine Großmutter bestimmt wahnsinnig gemacht hat."
„Vollmond also? Und wirklich nie?", hinterfragte Dumbledore und Tia schüttelte den Kopf.
„Nein, nie", bestätigte sie, „Habe ich noch nie – werde ich auch nie. Sie... sie haben nicht zufällig eine Ahnung woran das liegen könnte?"
„Ich habe eigentlich noch nie von so einem Fall gehört, aber ich bin mir sicher, es gibt eine Erklärung dafür", versprach Dumbledore, „Geh trotzdem jetzt zurück in deinen Turm – wir wollen nicht, dass Filch dich außerhalb des Bettes erwischt."
„Den rieche ich schon von drei Gängen Entfernung", winkte Tia ab, „Keine Chance, dass er mich erwischt."
Dumbledore sagte daraufhin nichts und nickte nur.
„Sir", begann Tia unsicher, als sie schon auf dem Weg zur Tür war, „Wollen... wollen Sie mich nicht bestrafen?"
„Ich denke, das wird nicht nötig sein. Ich bin ein alter Mann – bestimmt vergesse ich, dass ich dich je gesehen habe", Dumbledore sah sie über seine Brille hinweg an und Tia lächelte.
„Danke, Sir", meinte sie schnell, „Gute Nacht."
Damit verschwand sie wieder aus dem Büro und ließ Dumbledore allein zurück, aber er musste zugeben, dass Treffen hatte ihn mit mehr Fragen zurückgelassen, als Antworten.
Bis jetzt hatte er gedacht, Tara Fuego wäre eine Schülerin wie jede andere auch, aber da hatte er sich wohl geirrt. Spätestens nach diesem Gespräch war Dumbledore klar, dass ein ganzer Haufen Geheimnisse hinter der jungen Fuego steckte.
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