1. Kapitel
Tia wuchs zu einem ruhigen Kind auf. Sie quengelte wenig, weinte kaum, machte keine Probleme, und häufig war Carla darüber erstaunt, wie gemütlich und anders Tia doch war. Sie hatte ihre Eigenarten, das bemerkte Carla schnell, aber nachdem sie sich daran gewöhnt hatte, fragte sie sich häufig, wie Eva ihre Tochter weggeben konnte.
Ja, sie war besonders, wie Carla mit eigenen Augen gesehen hatte und der Reisvorfall sollte kein Einzelfall bleiben, sodass immer wieder irgendwelche Gegenstände einfach im Haus herumflogen, wenn Tia unterhalten werden wollte, aber Carla sah es nie als ein Problem. Sie war sich sowieso sicher, ein sehr spirituelles Kind bei sich aufgenommen zu haben, nachdem durch ihre verschieden farbigen Augen klar für die ältere Dame war, dass zwei Seelen in ihr Frieden gefunden hatten, also waren ein paar herumschwebende Gegenstände nie ein Problem.
Ein Problem aber waren die Leute, die nicht verstanden. Carla zerbrach sich lange den Kopf darüber, wie sie das Kind aufziehen sollte, wenn solche Vorfälle schon beinahe auf dem Tagesplan standen, also unterrichtete sie sie selbst. Carla mag in ihrer Jugend hübsch und schön gewesen sein, was sich bedeutete, dass sie nichts im Kopf hatte. Die kluge Frau gab ihr Wissen schon früh an ihre Enkelin weiter, unterrichtete sie in Englisch und Spanisch, brachte ihr Geografie von England und Spanien bei, lehrte sie auch Bräuche und Traditionen von beiden Ländern und dazu kam auch noch Mathe, das eben auf dem Lehrplan stand.
Sie wollte dem Kind schon früh die Wahl geben, sich selbst entscheiden zu können, welches Land ihr besser gefiel – Spanien oder England und wenn es einmal soweit war, würde Tia in beiden Ländern leben können, obwohl sie in England aufgewachsen war.
Carla brachte es nicht übers Herz, England mit dem Kind zu verlassen.
Eva hatte es zwar sehr deutlich gemacht, dass sie nichts mehr von dem Kind wissen wollte, aber Carla wollte die Mutter nicht vollständig vom Kind trennen und blieb. Sie telefonierte noch ab und zu mit Eva, erfuhr, dass sie einen neuen Mann kennengelernt hatte und dass sie ihn auch einige Jahre später heiratete und mit ihm andere Kinder bekam – diese waren nicht besonders, wie Tia.
Als Tia elf Jahre alt wurde, war sie schon zu einem hübschen, klugen Mädchen herangewachsen, die aber nicht viel von der Außenwelt gesehen hatte. Carla nahm sie zwar so oft wie möglich mit zum Einkaufen und zeigte ihr alles, aber mit anderen Leuten hatte sie wenig zu tun gehabt. Sie war nie auf eine öffentliche Schule gegangen, hing nicht mit Gleichaltrigen ab, hatte eigentlich keine Freunde und außer ihrer Großmutter kannte sie niemanden so wirklich, also war es kein Wunder, dass sie sofort aus dem Schlaf schreckte, als es an der Tür klingelte.
Es klingelte selten an der Tür des Fuego Haushaltes. Ihre abuelita hatte nur wenige Freunde, die sie eigentlich nie besuchen kamen, der Postbote legte die Post eigentlich immer vor die Tür und ging dann wieder, die Nachbarn waren unfreundlich und überhaupt nicht offen, also gab es eigentlich selten einen Grund, warum jemand an der Tür klingeln würde.
Vielleicht war wieder einmal jemand gegen das Auto ihrer Großmutter gefahren.
Sofort sprang Tia aus ihrem Bett. Es war Sommer und die Sonne schien schon durch das Fenster ihres Zimmers. Sie hatte die Vorhänge am Vorabend extra nicht zugezogen, damit sie von der Sonne geweckt werden konnte, aber es konnte noch nicht einmal sechs in der Früh sein.
Manchmal war Tia schon um diese Zeit wach, aber sie war letzte Nacht noch sehr lange wach geblieben, um zu malen, also war sie eigentlich erst vor wenigen Stunde eingeschlafen, aber sobald sie den Klang der Klingel vernommen hatte, war sie hellwach gewesen.
Noch in ihrem Pyjama und ihre dicken, dunklen Haare zu zwei Zöpfen geflochten schlich sie gerade in dem Moment aus dem Zimmer, als ihre abuelita die Tür öffnete.
Vorsichtig hinter ihrem Türrahmen versteckt lugte Tia zur Tür und sah dort ihre Großmutter im Morgenmantel stehen. Sie sprach gerade mit einer großen Frau. Sie sah streng aus mit einem ernsten Gesichtsausdruck und dazu noch diese streng frisierten, schwarzen Haare, die aber nicht so dick und lockig wirkten, wie die, von Carla. Sie war auch ein wenig sonderbar angezogen und trug Stoffe mit Schottenmuster – das hatte Tia bis jetzt noch nie gesehen.
„Ja, da sind Sie richtig", sagte Carla gerade zu der Frau und richtete sich auf, um noch größter zu wirken, während sie die Fremde streng anschaute, „Ich bin ihre Großmutter."
„Ich habe etwas mit Ihnen und ihrer Enkelin zu besprechen", bestimmte die Frau, „Darf ich eintreten?"
Tia war verwundert, wie ähnlich sich die beiden Frauen waren. Nicht nur ihr Aussehen, nachdem sie beide groß und schlank waren, sowie einen ewigen, strengen und ernsten Blick im Gesicht zu haben schienen, sondern auch, wie sie sprachen und sofort Respekt verlangten. Ihre Großmutter hatte die Angewohnheit, sofort alle Blicke auf sich zu ziehen, wenn sie irgendwo hinging. Sofort hörten ihr immer alle zu, egal, was sie zu sagen hatte und Tia hatte das Gefühl, so war das auch mit der Fremden.
„Natürlich", Carla trat einen Schritt zur Seite, damit die Dame an ihr vorbeigehen konnte, „Setzen wir uns doch in die Küche – ich bereite gerade Frühstück vor. Tia! Der Besuch ist für dich!"
Tia wusste nicht, ob sie schon bereit war, aus ihrem Versteck zu kommen. Sie hatte noch nicht viele Informationen über die Fremde gesammelt. Sie wusste nur, dass auch ihre abuelita sie nicht kannte, aber Tia hatte auch bemerkt, dass die beiden sich innerlich und äußerlich ähnlich waren – konnte diese Person dann wirklich so böse sein?
Vorsichtig traute sie sich aus ihrem Versteck und tapste barfuß in die Küche.
Carla erblickte sie als erstes und tadelte sie sofort: „Querida, begrüßt man so seinen Besuch? Zieh dir etwas an! Der Tee ist sowieso noch nicht fertig!"
Tia konnte nur einen kurzen Blick auf die Fremde erhaschen, bevor ihre Großmutter sie aus der Küche scheuchte. Die Frau saß eher ungemütlich und sichtlich angespannt auf einen der Stühle am Küchentisch und blickte auf, als Carla ihre Enkelin zurückschickte, damit sie aus ihrem Pyjama wechseln konnte.
Tia beeilte sich, etwas anzuziehen und wählte einfach die ersten Kleidungsstücke, die auf dem Boden lagen, bevor sie ihre beiden Zöpfe öffnete und die Haare wild und offen ließ, um schnell wieder in die Küche zu eilen.
Carla schenkte dem Besuch gerade eine Tasse Tee ein und stellte Tias Tasse ebenfalls auf den Tisch. Die Küche duftete schon von Carlas-Spezial-Teemischung – Orangen mit Ingwer und Salbei.
„Tz, tz", Carla schüttelte beim Anblick ihrer unordentlichen Enkelin den Kopf, deutete ihr aber trotzdem, sich zu setzen. Tia setzte sich nicht neben den Besuch und auch nicht direkt gegenüber davon. Sie wählte einen Platz eher seitlich und der Tür nahe. Die Frau schien das zu bemerken und schien Tia mit ihrem Blick zu durchleuchten, wie Carla es auch immer tat, bevor sie zu sprechen begann: „Mein Name ist Minerva McGonagall und ich bin Professorin auf einer ganz besonderen Schule. Sie sind dann wohl Miss Fuego?"
Tia war noch nie mit „Miss" angesprochen worden, aber nachdem diese Minerva McGonagall sie direkt ansah und nicht ihre Großmutter, vermutete sie, dass tatsächlich sie gemeint war und nickte leicht.
„Auf was für einer Schule sind Sie Professorin?", hinterfragte Carla sofort, ihr spanischer Akzent war noch mehr zu hören, wenn sie aufgeregt oder aufgebracht war, „Und was wollen Sie von Tia?"
Die Professorin runzelte kurz die Stirn, bevor sie erklärte: „Bestimmt sind Ihnen schon Besonderheiten an Miss Fuego aufgefallen, oder nicht, Mrs Fuego?"
„Ganz viele", winkte Carla ab, „Aber die Frage ist – woher wissen Sie davon?"
„Sie nehmen das alles erstaunlich entspannt auf", fiel McGonagall auf, „Der Grund, warum Miss Fuego diese Fähigkeiten entwickelt hat, sind die, dass sie eine Hexe ist."
Einen Moment war es still. Keiner sagte ein Wort. Tia sah zwischen der Professorin und ihrer Großmutter hin und her, die sich ein kleines Starr-Duell zu liefern schienen und Tia war sich nicht sicher, wer gerade gewann.
Schließlich, nach einer halben Ewigkeit, wie Tia vorkam, lehnte ihre Großmutter sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und bestimmte: „Ich glaube Ihnen. Fahren Sie fort."
McGonagall nickte nur, als wären die beiden Damen sich stumm einig geworden. „Diese Fähigkeiten zeigen sich meist in Zeiten der Angst, der Wut oder der Unsicherheit. Meist, wenn die Emotionen zu stark werden, zeigen sich die unkontrollierten magischen Fähigkeiten eines Kindes, ohne dass dieses auch nur von Zauberei gehört hat", erklärte sie, aber jetzt konnte Tia sich nicht mehr zurückhalten.
„Ich kann manchmal Bilder dazu bringen, sich zu bewegen!"
McGonagall durchbohrte sie wieder mit ihrem Blick und Tia spürte, wie sie rot wurde und so wollte am liebsten in den Erdboden versinken. Sie wusste nicht, warum sie sich so fühlte, aber bei Fremden war sie schon immer ein wenig schüchterner gewesen.
„Ungewöhnlich", sagte McGonagall schließlich, „Aber ja, auch das ist möglich. Jedenfalls kommt es manchmal vor, dass ein Hexen- oder Zaubererkind in eine Muggelfamilie geboren wird, also mit Eltern, die beide keinerlei magische Fähigkeiten besitzen – wie bei Ihnen?"
Es war eine Frage und mit gehobener Augenbraue sah McGonagall zwischen Carla und Tia hin und her.
„Ihre Mutter ist... eine Muggel", bestätigte Carla, „Ihren Vater kenne ich nicht."
McGonagall nickte nur und ging nicht weiter auf das Thema ein.
„Junge Hexen und Zauberer haben im Alter von elf Jahren die Möglichkeit, Hogwarts, eine Schule für Hexerei und Zauberei zu besuchen, an der ich unterrichte. Dort werden sie alles wichtiges Wissen erlangen, das in der Welt der Zauberei benötigt wird", erklärte McGonagall und es klang so, als hätte sie diesen Satz schon häufig gesagt.
„Wo ist diese Schule?", fragte Carla, als würde sie schon ahnen, dass etwas an der Sache faul war.
„Schottland", diese Antwort überraschte Tia, „Der genaue Standort ist geheim zu halten. Miss Fuego wird dort leben, schlafen, essen, lernen, wenn Sie beschließen, Sie dorthin zu schicken."
„Das klingt ziemlich furchterregend", sagte Tia geradeheraus. Carla hatte ihr beigebracht, mit ihren Ängsten offen zu sein. Sie empfand es überhaupt nicht als peinlich, offen zu gestehen, wie ängstlich sie war, ganz allein ohne ihre abuelita auf eine Schule zu gehen.
McGonagall sah sie dementsprechend überrascht an, während Carla sofort verstand, was im Kopf ihrer Enkelin vor sich ging.
„Oh, querida", seufzte sie und legte eine Hand auf ihren Kopf, „Hast du nicht zugehört? Du würdest lernen, deine Kräfte zu kontrollieren."
„Und was ist mit dir? Ganz allein in England?", fragte Tia.
„Ich bin vor dir allein zurechtgekommen und ich werde auch ohne dich nicht sofort an Einsamkeit sterben", tadelte ihre Großmutter sie.
„In den Ferien ist es den Schülern natürlich erlaubt, nach Hause zu fahren", erklärte McGonagall ruhig.
„Hörst du? Zu Weihnachten bist du schon wieder da!", wiederholte Carla, „Außerdem wirst du dort Gleichaltrige kennenlernen. Ich habe dich versteckt, um dich vor anderen zu schützen, aber dort musst du nicht beschützt werden."
Tia schaute auf ihre Hände, als sie langsam nickte.
„Sehr gut", sagte McGonagall ruhig, „Dann gehört das Ihnen."
Sie überreichte Tia einen Brief und als sie las, was darauf stand, wusste sie, dass sie die richtige Entscheidung gewählt hatte:
Ms. T. Fuego
Im ersten Zimmer neben der Tür links
Birdcage Walk 7
Westminster
London
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