🕯🕯 Schweden - Förlorar min själ i minnets viskande andedräkt
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Förlorar min själ i minnets viskande andedräkt
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Ich verliere meine Seele im flüsternden Atem der Erinnerung
von RaKoVader
💫Flitzpiepe💫
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Manchmal sind Erinnerungen die schlimmste Art von Folter. Manchmal sind Lieder unserer Vergangenheit kein Balsam, sondern purer Schmerz. Manchmal sind Bilder in meinem Kopf, von denen ich nicht weiß, warum sie da sind. Sie fühlen sich vertraut an, erzeugen ein warmes Gefühl in meiner Brust und dennoch kann ich sie nicht greifen. So wie jetzt, in dieser Kirche mitten in Schweden. Ich sehe eine Frau, sie ist jung und ihr Haupt schmückt ein Kranz aus brennenden Kerzen. Ihr blondes Haar leuchtet unter dem hellen Schein, die Kerze in ihrer Hand spendet Wärme, lässt aufgeregte Schatten über ihr zartes Gesicht tanzen. Ein weißes Gewand hüllt ihren zierlichen Körper ein, das blutrote Band um ihrer Taille jagt eine kitzelnde Erinnerung durch meinen Leib. Das hohe Gewölbe der alten Kirche trägt die Worte ihrer lieblichen Stimme, melodisch und warm dringen sie an meine Ohren. Der Text ist mir vertraut, ich fühle eine Verbindung, doch kann ich sie nicht greifen. Wie ein Schwarm Hummeln brummen sie aufgeregt in meinem Kopf herum, prallen dumpf gegen Türen von Schubladen, hinter deren hölzernen Wänden eine chronologische Abfolge meines Lebens entsteht. Hauchdünn ist die Barriere und ich habe Angst, es könnte bei der winzigen Berührung ihrer seidigen Flügel meinen Geist zerreißen.
„Schön oder?", flüstert eine Stimme neben mir und wieder spüre ich das flimmernde Brennen in meiner Brust, den leichten Druck auf die Lunge und kalte Schauer auf der Haut. Ich hasse es, so sehr und wäre gerne an einem anderen Ort. Niemand zwingt mich hier zu sein, ich könnte einfach gehen. Drei Schritte bis zum Mittelgang, vorbei an zwei älteren Damen und nochmal achtzehn Schritte bis zur großen Flügeltür. Das Holz einer Jahrhunderte alten Eiche sperrt die Geräusche der Welt aus, gusseiserne Beschläge halten die schweren Flügel an Ort und Stelle. Doch mein Körper bewegt sich keinen Millimeter. Gebannt starre ich auf die kleine Prozession aus flackernden Kerzen und wallenden schneeweißen Roben. Zu dem lähmenden Gefühl in meinen Beinen gesellen sich Bilder eines jungen Mannes mit blonden Haaren und blauen Augen. Zarte Sommersprossen liebkosen seine Haut und ich schließe für einen Moment die Augen, atme tief ein und das Zählwerk in meinem Kopf beginnt mit seiner Arbeit.
Fünf... die Hitze verdampft, vier... der Herzschlag normalisiert sich, drei... die Bilder verblassen, zwei... die Lungenflügel füllen sich mit Sauerstoff, eins... Er riecht nach Schnee und Winter und mir wird leicht schwindelig vom berauschenden frischen Aroma seines Duftes. Bei eins angekommen öffne ich die Augen, die drückende Enge in meiner Brust beherrscht noch immer meine Gedanken. Der Schwindel lässt silbrig-glänzende Punkte vor meinen Augen tanzen, sie bewegen sich im Takt zur Musik und den himmlischen Stimmen des Chores hoch oben auf der Empore. Trotz der verwirrenden Gefühle in meinen Inneren schaffe ich es den Kopf zu drehen und erhasche einen Blick auf den Mann zu meiner rechten Seite. Blond, blaue Augen, Sommersprossen auf der Nase und den Wangenknochen.
„Du bist schön", sage ich.
„Tack so mycke. Du också", antwortet er zwinkernd. Verwirrt blicke ich in funkelndes Kerzenlicht, welches sich in den Kristallen seiner Iriden spiegelt. Ich mag die Sprache der Nordländer, der weiche Singsang und immer ein Lächeln auf den Lippen.
„Du stammst nicht aus Lycksele", spricht er weiter und wechselt wie selbstverständlich in die mir gewohnte Sprache.
„Nein. Ich bin zum Arbeiten hier", antworte ich und kann meinen Blick nicht von den anmutigen Gesichtszügen meines Gegenübers nehmen. Die schmale Nase fügt sich symmetrisch und gerade in das maskuline Gesicht. Kein störendes Haar verdeckt den Blick auf porenfreie helle Haut und seine Lippen... ich möchte von ihnen kosten, die Herzform und Süße auf meinen spüren. Erforschen, ob der Geruch nach Schnee ebenso perfekt schmeckt wie er riecht.
„Tourist also. Dachte ich mir."
„Nein, ich bin kein Tourist. Touristen sind Personen, die zu Orten außerhalb ihres gewöhnlichen Umfeldes reisen und sich dort für nicht mehr als ein Jahr aufhalten aus Freizeit- oder geschäftlichen Motiven, die nicht mit der Ausübung einer bezahlten Aktivität am besuchten Ort verbunden sind", berichtige ich seine Aussage.
„Okay... und du bleibst länger als ein Jahr und verdienst kein Geld?", hinterfragt er meine Erläuterung. Seine Augenbrauen bewegen sich beängstigend in die Höhe, legen die makellose Haut der Stirn in Falten. Ich mag das nicht.
„Du verstehst mich nicht. Ich werde dafür bezahlt, die Polarlichter zu fotografieren. Das ist mein Job, dafür bekomme ich Geld von meinem Boss. Er ist Verleger eines großen Geografiemagazins und wenn ich hier fertig bin, fliege ich nach Deutschland, um den Zauber der Weihnachtszeit einzufangen. Seine Worte, nicht meine."
„Wow, okay. Die Polarlichter also. Was treibt dich dann hier zum Luciafest?", fragt er.
„Was?"
„Luciafest", wiederholt er und macht eine ausladende Geste über die Köpfe der Kirchgänger hinweg.
„Ich weiß es nicht", sage ich ehrlich.
„Weißt du überhaupt, was das hier ist?", fragt er lächelnd, legt seine Hand auf meine und ich zucke erschrocken zusammen. Berührungen von fremden Menschen hinterlassen immer ein kratziges Gefühl auf meiner Haut. Erschrocken fixiere ich seine Hand, welche warm auf meiner Haut zum Erliegen kommt. Es kribbelt und in meinem Magen sammeln sich die Hummeln, um ihren unterbrochenen Flug fortzusetzen. Meine Haut ist dunkler, gebräunt von der kalifornischen Sonne und der Kontrast erinnert mich an seinen Duft. Schnee auf der Haut und Kälte in den Adern.
„Die Kirche hat mich magisch angezogen. Das Lichtspiel und die Macht der Schatten. Plötzlich wurde alles laut und diese Frau mit den Kerzen auf dem Kopf kam herein. Es fühlte sich seltsam an. Wie nach Hause kommen", sinniere ich und denke über meine eigenen Worte nach. Dieser Ort weckt etwas tief in mir, Emotionen, Erinnerungen.
„Das ist die heilige Lucia," sagt er und deutet auf die blonde Frau mit der Kerzenkrone auf ihrem Haupt.
„Der Legende nach brachte sie Essen für die in den römischen Katakomben versteckten Christen. Der Weg zu den Hilfsbedürftigen war dunkel und um nichts von ihrer kostbaren Fracht zu verschütten, setzte sie sich einen Kranz aus Kerzen auf den Kopf. Jedes Jahr am dreizehnten Dezember, feiern die Schweden das Lichterfest, den Luciatag und gedenken somit der Märtyrerin..."
„Lucia von Syrakus", beende ich seinen Satz. Der Fremde sieht mich überrascht an und das herzliche Lächeln erreicht seine Augen und bringt diese noch mehr zum Strahlen. Das tanzende Kerzenlicht zieht mich in seinen Bann, wie ein Strudel. Ich kann mich kaum dagegen wehren.
„Genau. Also kennst du dich doch aus", sagt er freudig und mein Herz hört augenblicklich auf zu schlagen. Sein Daumen liebkost meine Haut und das Kribbeln übernimmt die Intensität meiner Empfindungen. Was geschieht hier gerade?
„Ich kann mich nicht erinnern, woher ich das weiß. Es ist mehr ein Gefühl", erwidere ich.
„Was für ein Gefühl?", fragt er leise flüsternd und macht einen Schritt auf mich zu. Er ist mir ganz nah, zu nah und ich kann den Hauch Winter schmecken, den er verströmt. Verbundenheit.
„Druck", presse ich keuchend hervor. Seine Finger umschließen meine Hand und gleiten wie von selbst zwischen die meinen. Ein Beben rauscht durch meinen Körper, rasant, kolossal.
„Kopfschmerz? Schwindel?", fragt er besorgt.
„Etwas", antworte ich verwirrt. Worauf will er hinaus? Diese Situation ist zu viel für meinen Verstand, welcher kaum zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden kann. Eine Abfolge Bilder durchflutet meinen Geist. Ich sehe einen jungen Mann mit schwarzen Haaren und grauen Augen in eben dieser Kirche stehen. Das Herz in seiner Brust weint um die verlorene Liebe. Er kniet auf dem kalten steinigen Boden, richtet seinen Blick hoch zu dem Kreuz, welches über allem ragt. Seine Hände zum Gebet gefaltet, heiße Tränen laufen ungehindert über das jungenhafte Gesicht. Er wartet und betet, vergebens. Eiskalte Schauer, knisternde Funken, die Muskulatur um meiner Wirbelsäule zieht sich schmerzhaft zusammen, alles kribbelt, überall unter meiner Haut.
„Du hast ein Déjà-vu. Ich kenne das. Ist ätzend."
„Total", bestätige ich seine Aussage und spüre eine sanfte Brise über meine Haut kriechen. Déjà-vu, natürlich. Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Und warum fühlt es sich dennoch so anders, intensiver an? Dazu diese Bilder in meinem Kopf, der Blick des Jungen. Er lässt mich nicht los. Ich spüre seinen Schmerz und greife instinktiv an meine Brust. Die weiche Wolle wärmt meine klammen Finger, ich spüre meinen aufgeregten Herzschlag und weiß, es ist nicht meiner. Erinnerung, Déjà-vu, ich hasse es.
„Nein", sage ich kopfschüttelnd.
„Es ist anders. Ich habe das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Dabei war ich noch nie in Schweden. Das weiß ich genau."
„Okay. Jetzt wird es unheimlich."
„Du findest mich unheimlich?", frage ich verletzt. Mein Herz überschlägt beim Warten auf seine Antwort.
„Was? Nein. Ich finde nicht dich unheimlich. Sondern dein Gefühl. Dich finde ich sehr interessant." Erleichtert atme ich aus und bemerke erst jetzt, dass meine Atmung länger aussetzte als gewohnt. Jeder Atemzug bereitet mir Schmerzen und meine Lunge scheint im Feuer der Erleichterung zu verbrennen.
„Gut. Ich finde dich auch interessant. Auch, wenn du nicht verstehst, was ich sage. Aber du bist schön. Dein Gesicht ist symmetrisch, das ist wichtig. Ich wüsste gerne, ob du wirklich nach Schnee schmeckst", sage ich und erhasche einen erneuten Blick auf das tanzende Kerzenlicht. Ich weiß schon jetzt, dass dieses Bild mein liebstes für immer sein wird.
„Es mag komisch klingen, aber ich war hier schon einmal. Ich kenne die Kirche und weiß, dass das Kreuz nicht immer so ausgesehen hat. Die Figur war aus Holz und das Kreuz aus Eisen. Eine beachtliche Patina, Juwelen, Goldverzierungen. Weihrauch. Jede Menge Weihrauch, um den Geruch des Todes zu überdecken."
„Woher weißt du das? Hast du Bilder von der Kirche gesehen? Vom Krieg?", fragt er skeptisch. Ich weiß es nicht. Meine Kopfschmerzen nehmen zu und zum Schwindel gesellt sich Übelkeit. Diese Flut an Bildern und Gefühlen, Schmerz, Trauer, Freude, Leidenschaft. Schwer atmend stütze ich meine Hände und das erdrückende Gewicht meines Körpers gegen die Kirchenbank. Je länger ich die Augen schließe, umso öfter sehe ich den jungen Mann weinend vor dem Altar knien. Seine Trauer zerreißt mich von innen heraus. Mit Mühe unterdrücke ich ein schmerzverzerrtes Keuchen. Er leidet, so sehr. Jede Hoffnung scheint verloren. Der Chor ist verstummt, doch die Melodie in meinem Kopf erwacht zu neuen vertrauten Tönen.
„Bleib ruhig. Es ist alles okay", ertönt es sanft und viel zu nah an meinem Ohr. Er legt einen Arm um mich, stützt meinen Körper und mir fällt ein, dass ich nicht einmal seinen Namen kenne.
„Wie heißt du?", presse ich hervor und fühle seinen festen Griff um meinen bebenden Leib. Mir ist heiß und krampfhaft löse ich den viel zu warmen Schal um meinen Hals und atme erleichtert auf. Luft, ich brauche Luft und etwas von der Winterkälte auf seiner Haut. Doch wie kann ich ihn darum bitten? Wir kennen uns nicht.
„Kit", antwortet er und ich lache erstickt.
„Was ist so witzig?", fragt er.
„Dein Name. Zusammen ergeben wir eine Katze."
„Wirklich?" Ich höre die Belustigung in seiner Frage und nicke leicht mit dem Kopf. Der Gedanke an eine grau getigerte Katze lenkt mich von der Stimme in meinem Kopf ab.
„Kitty", erwidere ich.
„Kit. Ty. Kitty."
„Genau. Mein Name ist Tiberius. Aber ich mag den Namen nicht. Daher Ty. Jeder nennt mich Ty seit ich denken kann."
„Ich mag deinen Namen. Tiberius. Das bedeutet 'der am Tiber geborene'."
„Ich stamme aus L.A. Also nicht wirklich nah am Tiber", erwidere ich und verdrehe die Augen. Tiber. So ein Quatsch.
„Römische Kaiser trugen diesen Namen. Politiker, Legionäre, Centurio. Und nicht zu vergessen..."
„James Tiberius Kirk", sagen wir gleichzeitig und verfallen in freudiges Gelächter. Es ist ansteckend und versetzt die Hummelarmee in Alarmbereitschaft. Das Surren in meinem Magen, fuck warum?
„Herrarna. Men nu är det tyst. Du saknar sången och lussekatter." Ertappt blinzele ich und fühle mich augenblicklich schlecht. Auch wenn ich nicht verstanden habe, was die freundlich lächelnde Dame betagten Alters mit dem fein säuberlich drapierten Dutt und der aufdringlichen nach Veilchen duftenden Parfumwolke um sie herum, von sich gab.
„Ursäkta mig. Jag förklarade bara seden med luciafestivalen för mina vänner", antwortet Kit in feinsten Schwedisch und anscheinend waren es genau die Worte, welche Miss Veilchen harmonisch stimmt. Sie lächelt und tastet liebevoll nach der Hand ihrer Begleiterin.
„Jag gjorde samma sak för över sextio år sedan. För min Lotta."
„Was hat sie gesagt?", frage ich Kit.
„Das wir die Lussekatter verpassen."
„Wen?" Kommt noch jemand mit Kerzen auf dem Kopf herein? Suchend blicke ich mich in der alten Holzkirche um, bleibe Sekunden an dem Altarbild der Auferstehung Christi hängen und glaube vor den Stufen einen jungen Mann zu sehen. Kniend, den Blick gen Himmel zum Deckengemälde gerichtet. Doch alles, was ich sehe, ist die gleiche junge Frau am Anfang der kleinen Prozession wie schon zu Beginn des Festes. Behutsam tragen ihre Hände ein Gefäß, die Kerzenflammen flackern auf ihrem Haupt und die Worte aus ihrem Mund sind die gleichen wie in meinem Kopf.
'Natten går tunga fjät runt gård och stuva. Kring jord som sol förlät, skuggorna ruva. Då i vårt mörka hus, stiger med tända ljus, Sankta Lucia, Sankta Lucia.'
Verschiedenste Stimmen begleiten die heilige Lucia auf ihrem Weg durch das Kirchenschiff. Vor jeder Reihe bleibt sie stehen, verteilt lächelnd das köstlich duftende Gebäck. Safran, denke ich und schmecke das würzige Aroma des gelblichen Gewürzes auf meiner Zunge.
„Lussekatter werden aus Hefeteig gemacht. Safran gibt ihnen die gelbe Farbe und die Rosinen sind mein persönliches Highlight", erklärt Kit und wissend nicke ich.
„Ja. Ich weiß", antworte ich.
„Und du hast keine Ahnung woher."
„Genau", bestätige ich seine Aussage. Lucia hält vor unserer Kirchenbank, reicht das Gefäß der netten Dame mit dem Veilchenduft und dankend nehmen wir beiden jeweils eines der Gebäckstücke entgegen.
'Mörkret skall flykta snart ur jordens dalar. Så hon ett underbart ord till oss talar. Dagen skall åter gry, stiga ur rosig sky, Sankta Lucia, Sankta Lucia.'
Die letzten Zeilen des Liedes verklingen und angewidert betrachte ich den Lussekatt in meiner Hand. Rosinen. Ich hasse Rosinen. Und anscheinend fand jemand es besonders urkomisch, bei meinem Gebäckstück eine Handvoll Rosinen zu verteilen. Flitzpiepen, allesamt.
„Iss. Du wirst es lieben", fordert Kit mich enthusiastisch auf und ich schüttele angewidert den Kopf.
„Rosinen. Ich hasse Rosinen. Sie sind so schrumpelig und ... braun schrumpelig halt. Das ist widerlich. Wie kannst du so was essen?", frage ich ihn empört. Kit lacht herzhaft und die Flammen in seinen Augen beginnen einen neuen Tanz. Wieder der Strudel, das Glitzern und diese Stimme in meinem Kopf, welche mich dazu drängt ihn zu küssen. Genüsslich beißt er von der süßen Köstlichkeit ab, kaut ausgiebig und legt stöhnend den Kopf in den Nacken. Nur leicht, doch genügt diese Geste, um sämtliche Kontrolle über meinen Körper zu verlieren. Noch nie habe ich einen Mann so interessant gefunden, wie Kit aus Lycksele.
„Det smakar himmelskt."
„Was hast du gesagt?", frage ich leise und verliere mich in dem Anblick seiner Lippen.
„Das schmeckt himmlisch", antwortet er ebenso leise und verschränkt unsere Finger erneut miteinander.
„Hast du noch immer dieses Gefühl?", fragt Kit und das aufgeregte Kribbeln in meinem Magen raubt mir den Verstand. Ich weiß nichts, mein Kopf ist leer und gleichzeitig rauschen Millionen Gefühle durch meine Adern. Jede einzelne Empfindung hinterlässt neue Spuren, keine Zeit sie einzeln zu analysieren. 'Küss ihn', immer wieder diese Stimme, leise wispernd. Eine Hand auf meinem Rücken, fordernd. Das eindeutige Zeichen, dem Drang in meinem Inneren nachzugeben und meinen Körper an den des wunderschönen Mannes vor mir zu lehnen. Ich spüre ihn, seine Anwesenheit. Er ist der Mann mit den grauen traurigen Augen. Augen, die Liebe schenkten und Leid empfingen.
„Ich weiß nicht, was ich fühle. Da ist so viel, in mir. Ich habe das Bedürfnis dich zu küssen, hier in der Kirche. Und ich weiß wie deine Lippen schmecken werden. Nach Schnee und Safran. Kälte und Wärme im selben Augenblick und du wirst mir das Herz brechen. Ich werde... sterben und um dich weinen. Du... Er ist gestorben, heute vor über sechzig Jahren. Alles verschwimmt irgendwie."
„Ty", flüstert Kit sanft und viel zu lange schauen wir uns in die Augen, schweigen und halten uns an den Händen.
„Frey Bergsson starb auf den Stufen des Altars. Jeder in Lycksele kennt seine Geschichte, zumindest einen Teil davon. Er liebte einen Mann", bestätigt Kit, was ich in meinem Unterbewusstsein die ganze Zeit bereits wusste.
„Ture", hauche ich und lasse die Tränen, welche sich einen Weg an die Freiheit kämpfen, einfach los. Er nickt.
„Nicht weinen", bittet Kit und streicht zärtlich über die feuchte, salzige Spur auf meiner in Flammen stehenden Haut.
„Er musste nicht leiden."
„Doch. Das hat er. Jeden Tag und ich spüre es, seinen Schmerz und seine Trauer. Es war einfach zu viel. Zu viel Lügen, zu viel Enttäuschung und zu viel Schmerz für einen einzigen Menschen", schreie ich, löse meine Hand aus der beschützenden Wärme und verlasse fluchtartig die Kirche. Frostige Kälte empfängt mich, schummriges Licht und dicke Schneeflocken wild tanzend vor meinen Augen. Die Welt hat sich verändert, liegt weiß und still vor mir. Der kleine Platz vor der Kirche ist leer und nur die Schneeflocken stehen mir bei. Gierig atme ich den lang vermissten Sauerstoff ein, es brennt in der Kehle und die Kälte verklebt meine Lungenflügel. Ich habe das Gefühl, den Verstand zu verlieren, spüre den Schmerz eines Menschen, welcher vor über sechs Jahrzehnten von dieser Welt ging. Es ist kaum zu ertragen, für mich. Wie muss es dann erst ihm ergangen sein?
„Tiberius", höre ich Kit rufen.
„Nein. Geh weg", murmele ich. Ich will ihn nicht sehen, kann seinen Anblick nicht eine Sekunde länger ertragen, nicht, solange Frey meine Gedanken beherrscht. Es ist Kit, wird mir bewusst. Er und diese Kirche, das Luciafest und die Erinnerungen eines Toten.
„Hast du es gespürt? Ihn?" Erschrocken zucke ich zusammen. Kit steht hinter mir, ich spüre sanften Druck an meinem Rücken und statt eiskalter Panik, breitet sich Ruhe und Wärme in meinem Körper aus.
„Mein Großvater hieß Ture", höre ich ihn sagen. Sein Atem perlt auf meine Haut und ein Schauer wandert über meinen Leib. Ich fühle mich verloren, ohne Halt und greife instinktiv hinter mir zu dem fremden vertrauten Körper. Kit ergreift meine Hand, schlingt einen Arm um meine Taille und gibt mir den Ruhepol, welchen ich dringend benötige. Warum ist das so? Ich kenne ihn nicht.
„Ture hatte einen Freund, Frey. Sie kannten sich seit sie beide Kinder waren und konnten sich nicht vorstellen, ohne den anderen zu sein. Frey wollte hier raus, die Enge von Lycksele verlassen und in Stockholm ein besseres Leben führen. Ture dagegen, wollte seinen Vater stolz machen und entschied sich für ein Leben in Einsamkeit."
„Aber wie kann er dann dein Großvater sein und woher weißt du das alles?", frage ich verwirrt.
„Er war nicht der Mann, der er sein sollte. Er war so, wie andere erwarteten, dass er zu sein hatte."
„Ture liebte Frey", antworte ich verstehend.
„Ture heiratete das Mädchen, welches seine Eltern für ihn ausgesucht hatten. Er bekam sechs Kinder mit ihr und übernahm das Geschäft seines Vaters. Und daran ist Frey zerbrochen." Seufzend schließe ich die Augen, spüre Kits Lippen nah an meiner Haut. Ich schmecke Schnee und kalte Lippen, Wärme in meinem Magen, welche sich wellenartig durch meinen zitternden Leib bewegt.
„Mein Großvater starb vor acht Jahren. Heute, um genau zu sein. Der Tag des Luciafestes, ist ihrer beider Todestag. Damals, erzählte ich meinem Großvater, dass Männer mich mehr interessieren als Frauen. Ich hatte Angst vor meinem Geständnis, aber ich wollte auch nicht, dass er mich ohne dieses Wissen verließ. Wir standen uns sehr nahe und seine Reaktion lässt mich noch heute schaudern. Er weinte, dieser große starke Wikinger weinte wie ein kleines Kind und sprach über seine einzige wahre Liebe."
Manchmal, sind Erinnerungen laut und fordernd. Manchmal, sind sie warm und heilend. Frey liebte Ture und Ture liebte Frey. Ihre Erinnerungen sind heiß, voll brennender Leidenschaft und eiskalter Angst. Momente des Glücks wechselten in Sekundenschnelle zu nackter Panik. Schwindelerregende Küsse auf erhitzter Haut, gehauchte Liebesbekundungen an sündigen Lippen, tastende Finger und rasender Puls. Der atemraubende Druck in meiner Brust, das viel zu starke schnelle Pulsieren des Herzmuskels, welcher zum wiederholten Male heißes Blut und euphorisches Adrenalin durch meine Adern pumpt. All das ist kaum auszuhalten.
„Es ist, als erinnere ich mich an jede einzelne Sekunde mit ihm."
„Wir werden uns wiedersehen, wenn die Zeit gekommen ist, Tiberius vom Tiber", sagt Kit, haucht einen Kuss auf meine Wange und verschwindet in die Dunkelheit des schwedischen Winters. Ich schaue ihm hinterher, bin nicht fähig mich zu bewegen und meinem Seelenverwandten zu folgen. Bleierne Schwere nimmt Besitz von meinem Körper und der Druck in meiner Brust explodiert, taucht das grobe Pflaster der von Hand bearbeiteten Steine in gleißend helle Farben. Die Luft riecht nach Schnee und Eis, klar wie das Wasser in den Bergen, funkelnde Kristalle im lärmenden Sturm.
Minnen är viktiga för ibland finns det inget annat kvar att göra.
~ Slutet ~
Schwedisch - Tack so mycke. Du också.
Deutsch- Danke sehr. Du auch.
Schwedisch - Herrarna. Men nu är det tyst. Du saknar sången och lussekatter.
Deutsch - Meine Herren. Aber jetzt ist es ruhig. Ihr verpasst das Singen und die Lussekatter.
Schwedisch - Ursäkta mig. Jag förklarade bara seden med luciafestivalen för mina vänner.
Deutsch - Entschuldigt bitte. Ich habe meinem Freund gerade den Brauch des Lucia-Festes erklärt.
Schwedisch - Jag gjorde samma sak för över sextio år sedan. För min Lotta.
Deutsch - Ich habe dasselbe vor über sechzig Jahren getan. Für meine Lotta.
Schwedisch - Det smakar himmelskt.
Deutsch - Das schmeckt himmlisch.
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