20. Dezember ♡︎❄︎

Als die Türen des Zuges sich schlossen, hatten Avery und ich uns bereits auf zwei nebeneinanderliegende Plätze gesetzt- ich am Fenster, sie am Gang.

Langsam nahm das Gefährt an Schnelligkeit  auf, bis schließlich die Landschaft draußen zu einem einzigen Durcheinander aus Farben wurde. Einige Minuten saßen wir schweigend da, dann beendete Avery zögerlich die Stille.

"Es geht mich nichts an und du musst selbstverständlich nicht antworten aber... Wie kann es sein, dass du meine Angst sehen konntest? Das Spiegelbild. Ich meine, deine konnte ich ja auch nicht sehen, sondern habe nur an deinem Gesichtsausdruck geahnt, dass sie kommen."

Ich hustete kurz ausgesprochen schlecht gefälscht, um die unangenehme, zurückkehrende Stille zu überbrücken. Ja, warum hatte ich Avery's Spiegelbild gesehen? Weil ich irgendwelche besonderen Kräfte besaß, die sie nicht hatte? Ja, klar.

Die einzige Möglichkeit wahr wohl... Ich wurde rot und vermied es, sie anzusehen, als ich antwortete. "Wenn das wirklich unsere größte Angst war, wie du gesagt hast, habe ich wohl am meisten Angst davor, dass... Die Menschen, die mir etwas bedeuten, enttäuscht von mir sind oder mich nicht mehr mögen... Oder vergessen, ausschließen, allein lassen, was auch immer."

Ich machte eine kleine Pause um der Dramatik Willen- okay, vielleicht auch einfach nur, weil es mir so verdammt peinlich war. Hoffentlich würde sie das jetzt nicht irgendwie... komisch interpretieren.

"Und du warst wohl irgendwie bei den Ängsten dabei.", nuschelte ich undeutlich, doch Avery hatte es offensichtlich verstanden und ich wusste nicht, ob ich das jetzt gut oder schlecht finden sollte.

"So was in der Art hab ich schon vermutet", meinte Avery gedankenverloren, wonach wir während der gesamten Zugfahrt, die sich nebenbei bemerkt über mehrere Stunden streckte, kein Wort mehr über dieses Gespräch und den Anlass dazu verloren.

Nach einigen Malen Umsteigen und unzähligen Zwischenstopps waren wir schließlich da- Paris. Doch gerade als ich beinahe schon entspannt aus der Bahnhofshalle ins Freie trat und ein paar Sekunden zum ersten Mal in meinem Leben die Luft von Frankreich's Hauptstadt zu atmen, traf der Anblick mich wie ein Schlag- pechschwarze Tinte quoll, gut sichtbar, wenn man darauf achtete, aus einer Nebenstraße.

Avery und ich sahen uns an, dann rannten wir gleichzeitig los. Okay, ich hatte, um ehrlich zu sein, nicht erwartet, so schnell schon eine Spur zu finden, aber manchmal musste man wohl eben auch Glück haben...

Keuchend blieben wir vor einem hoch in den Himmel ragenden, altehrwürdigen Haus stehen, das wie eine Erinnerung an viktorianische Zeiten wirkte und offensichtlich verlassen war.

Die efeubewachsene Steinfassade wurde von teilweise zersplitterten Fenstern geziert und die hölzerne Tür besaß einen bereits rostenden Türklopfer in Form eines Löwenmaules. Langsam zwängte sich die Tinte durch die Lücken zwischen Tür und Wand und tropfte langsam die Fenster hinab, durch die ich jedoch glücklicherweise sehen konnte, dass die Flüssigkeit lange nicht bis zur Decke reichte.

"Wir müssen da rein", sprach Avery aus, was ich dachte. Prüfend rüttelte ich an der Tür, die zu meinem Entsetzen nach einem kräftigen Ruck mit einem schmerzhaften Geräusch aufschwang, wodurch mir ein Schwall Tinte entgegenkam. Fluchend sprang ich zurück und warf einen besorgten Blick in Richtung des Bahnhofs, doch der Schatten der großen Häuser schien uns bis jetzt noch zuverlässig Deckung gegeben und keine neugierigen Passanten angelockt zu haben.

Ein Glück. "Na dann mal los, bevor noch ganz Paris überschwemmt wird.", meinte ich und es war eher scherzhaft gemeint, aber bei der Vorstellung kroch mir trotzdem eine Gänsehaut über den Rücken.

Die Haustür ließen wir sicherhaltshalber weit offen, was einerseits ein Risiko darstellte, uns andererseits aber auch das Leben retten könnte.

Wir standen in einer Art Empfangshalle, doch die Tinte quoll von oben die breite Wendeltreppe hinab, die wir auf dem Geländer überquerten, um möglichst wenig Zeit in der Tinte zu verbringen.

Oben angekommen musste ich mich erst orientieren, doch dann sah ich ziemlich eindeutig, wie das ekelhafte Zeug aus einem Raum quoll. Nach kurzem Warten auf Avery lief ich los und versuchte dabei, die bedrohlich unsicher wirkenden Holzdielen zu ignorieren.

Mitten in dem Raum, in dem uns die Tinte kniehoch stand, befand sich ein hölzerner, elegant gefertigter Schreibtisch, auf dem eine museumsreife, von einem leichten Schimmern umgebene Schreibmaschine thronte.

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