6. Türchen

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6.

„Guten Morgen."

Eine tiefe und entspannte Stimme mischt sich mühelos in die Ruhe und den Frieden des beginnenden Morgens. Jeongguk dreht sich zu ihr herum und sieht einen Schüler, etwa in seinem Alter.

„Guten Morgen", erwidert Jeongguk, ein bisschen atemlos vom Laufen (oder von anderen Dingen, an die an dieser Stelle noch nicht einmal gedacht werden kann).

„Du bist der neue Schüler, oder? Jeongguk Jeon?"

Es klingt eigentlich zu selbstsicher, um noch als Frage durchzugehen. Jeongguk nickt trotzdem, als wäre sie ihm gestellt wurden und bestätigt: „Genau."

„Hast du dich verlaufen? Du siehst...", ein musternder Blick, ein müder Augenaufschlag, obwohl die Augen darunter wach sind und klar und sein Gegenüber tritt ein paar Schritte auf ihn zu. „ ... verschwitzt aus."

„Ich war laufen", erklärt Jeongguk, mit einem entschuldigenden Schulterzucken, weil er überhaupt nicht weiß, ob das für diese Zeit normal und was überhaupt ein normales Verhalten ist für einen Schüler in den fünfziger Jahren ist.

Der andere Schüler scheint es nicht weiter kommentieren zu wollen. Er mustert ihn noch einmal mit undeutbaren Blick, dann breitet sich ein freundliches und zuvorkommendes Lächeln auf seinen Lippen aus. „Brauchst du Hilfe? Soll ich dich zurück zum Schloss begleiten?"

Und Jeongguk nickt wieder, auch wenn er die Hilfe sicher nicht braucht, wäre es sinnvoller – glaubwürdiger, wenn er sie trotzdem annimmt.

„Gerne", lächelt er zurück und bemerkt erst dann, die grüne Krawatte und das aufgestickte Emblem der Schlange, das Symbol für das Haus Slytherin. Kurz wägt Jeongguk ab, ob er die Zusage zurückziehen kann ohne komplett seltsam zu wirken, aber strafft sich dann innerlich.

Du hast so viel Zeit unter Schlangen verbracht. Eine weitere Begegnung schaffst du auch noch. Und außerdem – Sie sind nicht alle so. Hier nicht und nicht einmal Zuhause.

Der neue, der andere Schüler ist ruhiger als die Gryffindors es waren. Jeongguk kann sich nicht vorstellen, dass er nicht neugierig ist und nicht auch Fragen hat (schließlich ist es selbst für ein magisches Schloss wie Hogwarts noch etwas zu früh, als dass sich hier bereits Gerüchte und/oder Informationen über ihn verbreitet haben könnten), aber Slytherins sind viel zurückhaltender als die Löwen es sind und lassen sich nicht gerne in die Karten schauen. Sie würden ihre Neugier niemals offen zugeben. Daher bemüht sich seine Begleitung auch nicht um erzwungene Konversation, sondern begleitet ihn schweigend, und Jeongguk beschließt (der in den vergangenen Jahren genug und viel zu oft geschwiegen hat) dem Gespräch eine Chance zu geben.

„Es ist schön hier... Hogwarts", sagt er, weil ihm nichts Besseres einfällt und auch, weil es das ist, was ihm eben die gesamte Zeit über durch den Kopf gegangen ist. "So friedlich." 

Das Lächeln auf dem Gesicht seines Gegenübers ist beinahe sanft.
„Das ist es", bestätigt er Jeongguks Aussage und Jeongguk fällt erst jetzt so richtig auf, wie schön er ist. Er ist etwas kleiner als Jeongguk selbst, mit dunklen, schwarzen Haaren, die in der Morgensonne seidig wirken, und perfekt zurechtgelegt sind. Er trägt einen seitlichen Scheitel, auf der einen Seite sind die Haare dadurch etwas länger, sodass sie sich wellen können und sein Gesicht in weichen Locken umrahmen. Seine Hautfarbe ist blass, aber nicht kränklich, sondern viel mehr erhaben, elegant. Gemeinsam mit den dunklen Haaren, den dunklen Augen und den plumpen Lippen (Schmollmundlippen, fällt Jeongguk als Beschreibung dazu nur ein, selbst in ihrer normalen Haltung bilden sie einen natürlichen Schmollmund) erinnert der Schüler an einen Prinzen aus den Märchenbüchern, die seine Mutter ihm früher vorgelesen hat.

"Wo du herkommst, gab es vermutlich nicht viel davon, oder?"

"Was meinst du?"

Und sein Gegenüber lächelt nachsichtig und verständnisvoll, bevor er leise sagt: "Frieden." 

"Nein", bestätigt Jeongguk lächelnd - und es ist das traurigste Lächeln, dass er je gelächelt hat - "davon gab es wirklich nicht viel."

Schweigen breitet sich wieder zwischen ihnen aus und Jeongguk muss zugeben, dass sein erster Gesprächsansatz nicht besonders erfolgreich war. 

"Willst du mich nicht fragen, wie der Krieg ist?" 
Super Jeongguk, weil das ja auch so ein erheiterndes Thema ist, mit dem man seinem Montagmorgen füllen sollte... Für einen tollen Start in den Tag. 

"Möchtest du denn darüber reden?"

"Nein", gibt Jeongguk zu und blickt verlegen auf. "Aber die anderen haben danach gefragt. Es war das Thema, dass sie meisten interessiert hat." 

"Grausame Ereignisse sind immer am Spannendsten - solange sie uns nicht selbst betreffen." Und da liegt eine bittere Note, auch in der Stimmlage des anderen Schülers. Jeongguk erkennt sie so spielend leicht wieder, weil es die gleiche ist, die auch in seinem Herzen klingt, wann immer er an den Krieg denkt. 

"Du fragst nicht, weil du den Krieg kennst, oder?", schlussfolgert Jeongguk daher. 

Sein Gegenüber blickt ihn überrascht an. Eine Sekunde lang nur weiten sich seine Augen eine Winzigkeit. Dann legt sich wieder der gleiche ruhig und beherrschte Ausdruck auf sein Gesicht. "Ja", gibt er trotzdem zu. 

"Woher?", will Jeongguk wissen. Haben sie vorher schon Kriegsflüchtlinge aufgenommen? Hat Professor Dumbledore ihm deswegen diese Geschichte als Ausrede mitgegeben? Aber warum hat er dann nicht erzählt, dass es noch andere gibt? 

"London." 

Jeongguk ist froh darüber, dass er so gut in magischer und nicht-magischer Geschichte aufgepasst hat. Sonst könnte er mit der einsilbigen Antwort seines Gesprächspartners sicher nicht viel anfangen. So ist ihm bewusst, dass es vermutlich eine Anspielung auf die Angriffe der deutschen Luftwaffe auf London in 1940 und 1941 darstellt. Er hat die Bilder von London nach der Bombardierung gesehen. Sein Herz zieht sich bei der Erinnerung daran schmerzhaft zusammen. 

"Du warst dabei?"

"Ja." 

Aber kein Wort mehr. Jeongguk hat noch so viele Fragen (Warum warst du in London? Lebst du in London? Sind deine Eltern Muggel und ihr konntet deswegen nicht weg? Magie hätte euch doch beschützen sollen - Bomben können nicht stärker sein als magische Barrieren... oder?) und versteht plötzlich, wie es den anderen Jungs in Gryffindor ging, als sie ihn mit ihrer Neugier durchbohrt haben. Aber er versteht auch, wie es seiner Begleitung geht, versteht ihn viel zu gut. Er redet auch nicht gerne über den Krieg und das Grauen und die Grausamkeit, die er mit sich bringt. Es ist zu schrecklich und Worte werden dem niemals gerecht. Man muss es miterlebt haben, um das Ausmaß des Terrors verstehen zu können. Nicht, dass Jeongguk irgendjemanden wünscht, diese Erfahrung machen zu müssen. Trotzdem tut es gut  zu wissen, dass er nicht alleine damit ist. Dass es jemanden in Hogwarts gibt, der zwar nicht die gleichen Erfahrungen gemacht hat, aber ähnliche, und ihn versteht

Sie tauschen einen Blick aus, der mehr sagt als tausend Worte. 

Komm schon, Jeongguk. Du bist doch sonst nicht so schlecht in Konversation. Gib' dir ein bisschen mehr  Mühe und wechsel' das Thema. Ein leichteres Thema diesmal bitte. Danke. 

„In welchem Schuljahr bist du?", fragt Jeongguk, obwohl er erst fragen wollte – bist du schon lange hier? – und den Impuls zum Glück im letzten Moment noch unterdrücken konnte, weil ihm da dann aufgefallen ist, wie dämlich die Frage so gestellt klingen muss.

„Im siebten Schuljahr. Du auch, oder?" Wieder klingt die Erwiderung nicht nach einer Frage und Jeongguk fragt sich unwillkürlich, ob es so etwas wie eine spezielle Art von Höflichkeit ist. Fragen nur aus dem Prinzip heraus zu stellen, obwohl man sich der Antwort bereits bewusst ist.

„Ja, genau. Dann sind wir Klassenkameraden. Auch wenn du in einem anderen Haus bist, haben wir doch sicher manchmal Unterricht zusammen", sagt Jeongguk und gibt sich größte Mühe damit, seine Aussage wie eine Vermutung klingen zu lassen. 

„Richtig", bestätigt seine Begleitung. „Es gibt häuserübergreifenden Unterricht. Ich bin in Slytherin. Wir haben zusammen mit den Gryffindors Verteidigung gegen die dunklen Künste, Zauberkunst und Zaubertränke."

„Zaubertränke ist mein Lieblingsfach", weiß Jeongguk beizusteuern und gratuliert sich innerlich dazu, dass er einen weiteren Themenwechsel durchgezogen hat, der keinerlei Wunde Punkte berührt. 

„Oh? Das ist vermutlich ungewöhnlich für einen Gryffindor."

"Ist das so?"

"Ja, die meisten deiner Hauskameraden scheinen eher eine natürliche Abneigung für das Fach zu empfinden..." 

"Aber warum? Es ist das Beste!"

Sein Gesprächspartner lächelt vorsichtig, als würde er ihm innerlich zustimmen, aber die Zustimmung nicht laut verbalisieren wollen. Warum auch immer. Dann antwortet er: "Vielleicht weil der Professor, der es unterrichtet, der Hauslehrer von Slytherin ist." 

Oh, das ist schlecht. Was ist, wenn er keine Gryffindors mag?

"Aber du musst dir keine Sorgen machen", beginnt er (und hat damit vielleicht direkt in Jeongguks Kopf gesehen, der gerade damit anfangen wollte sich Sorgen zu machen), "unser Lehrer, Professor Slughorn, wird es lieben, dass du so eine große Begeisterung für sein Fach hegst. Er hat ein weiches Herz für ungewöhnliche Charaktere. Und du scheinst äußert... ungewöhnlich zu sein."

Die Betonung lässt vermuten, dass es ein Kompliment ist. Jeongguk spürt, wie er bis zu den Haarspitzen errötet und räuspert sich schnell und verlegen: „Und wie ist er sonst so? Professor Slughorn? Wie sind die Lehrer generell? Gibt es irgendwen, vor dem ich mich in Acht nehmen sollte?"

„Professor Slughorn ist speziell, aber in Ordnung. Alle Lehrer sind in Ordnung. Sie haben ihre Vor- und Nachteile, aber man kommt mit ihnen zurecht. Professor Dumbledore ist der Hauslehrer von Gryffindor, aber vermutlich wurde dir das bereits erzählt. Er unterrichtet Zauberkunst." Die Aussage ist charmant, aber mehr oder weniger nichtssagend. Höflich und zurückhaltend. Es spiegelt sich auch im Lächeln des anderen Schülers wider und Jeongguk mag seine ruhige Art und das ihr Gespräch so anders ist, als das überwältigende erste Aufeinandertreffen mit den Gryffindors.

„Du hast Glück. Dein erster Unterrichtstag beginnt mit deinem Lieblingsfach. Nach dem Frühstück haben wir eine Doppelstunde Zaubertränke."

„Das ist tatsächlich eine freudige Überraschung. Welcher Trank wird gerade behandelt?"

Den restlichen Weg bis zum Schloss füllen sie mit leichter Unterhaltung über den aktuellen Unterrichtsstoff. Die Stimmlage seiner Begleitung ist so entspannend, dass es Jeongguk leichtfällt, sich in das Gespräch fallen zu lassen und nicht zu bemerken, wie weit sie bereits gekommen sind.

Erst vor den Flügeltüren von Hogwarts fällt ihm auf, dass sie ihr Ziel erreicht haben.

„Dann sehen wir uns später?" Und bei Jeongguk klingt es wirklich wie eine Frage, obwohl es keine sein müsste. Seine Stimmlage ist irgendwo in der Nähe von beinahe hoffnungsvoll und aus einem Impuls heraus hängt er an: „Vielleicht können wir sogar zusammenarbeiten? Ich habe das Gefühl, du bist wirklich gut in Zaubertränke und vermutlich wird es mir das in der Anfangszeit einfacher machen."

„Meine Fähigkeiten in Zaubertränke sind ausreichend."

„Ist das eine bescheidene Form um auszudrücken, dass du der Klassenbeste bist?"

Ein amüsiertes Grinsen umspielt seine Mundwinkel und erklärt Jeongguk nonverbal, dass er mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hat. „Wenn das so ist, sollten wir erst recht zusammenarbeiten."

„Und ist das eine bescheidene Form um auszudrücken, dass du dich an meinen Fähigkeiten bereichern möchtest?"

„Ich möchte nur lernen."

Kein skeptischer Blick, nur ein nachsichtiges Funkeln aus seltsam müden und wachen Augen zugleich und ein fast unmerklich angehobener Mundwinkel. „Es ist ebenfalls ungewöhnlich für Gryffindors und Slytherins freiwillig zusammenzuarbeiten."

„Ist das ein Nein?"

„Nein. Ich möchte dich nur auf den Umstand hinweisen, da du offensichtlich neu bist und mit den Gewohnheiten deines Hauses noch nicht vertraut."

„Die Gryffindors erscheinen mir offen und nicht so engstirnig. Oder fällt es eher dir schwer, freiwillig mit einem Gryffindor zusammenzuarbeiten?" Jeongguk ist sich bewusst darüber, dass in seiner Tonlage eine gewisse Provokation mitschwingt. Er benutzt sie absichtlich, aber sein Gegenüber ist zu gelassen, um tatsächlich darauf einzugehen.

„Natürlich nicht", antwortet er charmant.

„Dann ist es beschlossen?", hakt Jeongguk nach und weiß selbst gar nicht so genau, warum er darauf besteht. Vielleicht, weil sein Gegenüber so schön ist, dass es an Lächerlichkeit grenzt und ihr Gespräch eine Art zarte Verbindung zwischen ihnen aufgebaut hat, von der er nicht bereit ist, dass sie allzu schnell wieder abreißt, nur weil sie in unterschiedlichen Häusern sind. Jeongguk weiß es nicht, woran es genau liegt, hat sich außerdem nie anfällig für äußere Reize gehalten, aber vielleicht waren sie nur nie auffällig genug und – ist er eine Veela? Er sieht zumindest aus wie eine Veela. Könnte definitiv eine Veela sein. Werde ich unbewusst von ihm verzaubert?!

„So soll es sein, Jeongguk Jeon."

„Ich freue mich auf die Zusammenarbeit..." und Jeongguk will den Namen seines Gegenübers ebenso gewichtig verwenden, bis ihm auffällt. „Ich kenne deinen Namen gar nicht."

„Habe ich vergessen mich vorzustellen?", die überraschte Stimmlage klingt glaubwürdig, aber irgendwas an ihr kommt Jeongguk seltsam vor, als wäre doch eine Spur Absicht mit ihr gemischt. Als hätte er nur auf den richtigen Moment gewartet, um seinen Namen der Zuschauerschaft Preis zu geben. 

„Mein Name ist Yoongi, Yoongi Min. Ich bin der Schülersprecher und der Vertrauensschüler von Slytherin. Schön, dich kennenzulernen, Jeongguk Jeon."

Und Jeongguk läuft es eiskalt den Rücken herunter. Yoongi Min. Auch, wenn der Name nicht mehr aktiv gebraucht wird, ein Tabu auf ihm lastet, damit ihn niemand mehr so nennen kann und darf, ist er doch jedem Zauberer:in bekannt. Es ist der gebürtige Name von Lord Voldemort.

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dödödöööömmmm

Happy Nikolaus, ihr Herzen!
 Deswegen gab es auch ein etwas längeres Kapitel heute. Ich hoffe, es hat euch gefallen und nachdem wir jetzt schon ein bisschen was über Jeongguk erfahren haben, freut ihr euch hoffentlich genauso sehr wie ich darauf, endlich auch Yoongi kennenzulernen! :]

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