19 Einsamkeit
In Nevada gibt es eine Straße, welche ihrem Namen alle Ehre macht; der Highway 50 gilt als die einsamste Straße der USA. Ich bin stundenlang unterwegs und sehe nur Gegend. Kein anderes Auto, nicht mal im Gegenverkehr. Diese Momente genieße ich. Es ist wie nachts LKW fahren. Es gibt nur die Straße und mich, mit meiner Maschine. Diese Einsamkeit suche ich immer wieder; ein gewiefter Seelendoktor könnte mir eine Sucht danach diagnostizieren. Diese Einsamkeit ist die schönste von allen. Sie verzaubert mich immer wieder von neuem. Sehr viele meiner Texte, ganze Bücher sind auf solchen Straßen entstanden. Es ist meine ganz private Einsamkeit.
Doch Einsamkeit hat viele Gesichter.
Auf der Bühne steht die bekannteste Band des Landes. Zwanzigtausend Menschen sind gekommen, um das Konzert zu genießen und Party zu machen. Mitten unter ihnen, irgendwo in der Menge, stehe ich, mit einem Bier in der Hand, leicht im Rhythmus wippend. Party vortäuschend, Spaß imitierend. Natürlich freue ich mich über die Musik; selbstverständlich kann ich nicht ruhig stehen, wenn der Bass meine Hüften bewegt. Doch es wäre schön, diese Freude mit jemandem teilen zu können. Die Einsamkeit inmitten der Masse ist keine schöne. Sie fühlt sich an wie ein Bad in einem Fluss. Ich werde im Strudel und den Stromschnellen mitgerissen und bin doch auf mich gestellt, nicht darin unterzugehen. Unbemerkt.
Ich habe die gemeinsame Wohnung geputzt. Den Tisch habe ich hübsch dekoriert, damit das Menü, welches ich während der letzten Stunden gekocht habe, stilvoll angerichtet werden kann. Noch etwas länger warten, denn deine Nachricht, dass es später werde, hat mich soeben erreicht. Hitze reduzieren, darauf achten, dass nichts zu Pappe verkocht. Dann bist du da und auch wieder nicht. Du sitzt mir gegenüber, doch deine Gedanken sind sonstwo; noch in der Sporthalle, noch beim Event - ich weiß es nicht. Müde legst du dich ins Bett, schläfst sofort ein um für den nächsten Tag wieder fit zu sein; für einen weiteren Tag, den du ohne mich verbringen wirst. Ich drehe mich um und obwohl die andere Seite im Bett warm ist, wirkt sie kalt. Die Einsamkeit in der Beziehung ist die Krönung der Hässlichkeit. Sie zerreißt Herzen wie der Drift die Kontinente - langsam aber andauernd.
Meine Freunde wollen zum Skifahren in die Berge. Seit ich im Rollstuhl sitze, kann ich nicht mehr mitfahren. In der Bar, wenn alle tanzen, lächle ich und wippe mit. Im Europapark bewache ich die Taschen, wenn die anderen mit den Fahrattraktionen unterwegs sind. Und hier, im Skigebiet? Viel bleibt mir nicht übrig. Die Straßen sind nicht geräumt, für meine kleinen Räder gibt es kein Durchkommen. So sitze ich auf der Terrasse, gieße unglaubliche Mengen von Tee und heißer Schokolade in mich hinein und warte auf die glühenden Gesichter und lachenden Augen, die nach einem Tag im Schnee spannende Erlebnisse berichten werden. Abenteuer, die ich gerne miterlebt hätte; Szenen wie aus den Büchern, die ich lese; erzählte Bilder, welche ich im Kopf zusammenbauen muss. Nicht dazugehören zu können ist eine beklemmende Einsamkeit. Sie versteckt sich wie die Spinne im Loch und schlägt dann zu, wenn du es am wenigsten erwartest.
Ich gehöre zur Familie dazu. Alle freuen sich, wenn ich an den gemeinsamen Anlässen und in den Ferien mit dabei bin. Wie es mir geht? Auf diese Frage warte ich vergebens. «Hey, ich habe wieder ein Buch geschrieben; das Manuskript liegt fertig auf meiner Festplatte. Darin geht es um ...» Es interessiert niemanden und die Namen, über welche rege diskutiert und gelacht wird, sagen mir nichts. Ich kenne diese Personen nicht. Der Fremde in der eigenen Familie; der kinderlose Onkel ohne Partnerin. Wie schön wäre es doch, meine Gedanken auch teilen zu dürfen. Schreiben ist ein langweiliges und sehr einsames Hobby. Die Protagonisten ersetzen keine Menschen; wir tun nur so, als könnten sie es. Es gibt eine Einsamkeit, die von bunten Bildern übermalt wird, wie das stumme und geheimnisvolle Portrait einer unbekannten Frau von René Magritte.
Mein Schulabschluss ist nicht gut herausgekommen. Mit den tausend Dingen, welche sie von mir in der Schule verlangt haben, konnte ich mich nicht anfreunden; es fällt mir schwer, die lebensfernen Inhalte zu lernen und im Kopf zu behalten. Als einziger in der Klasse habe ich noch keine Lehrstelle. Das macht mir Angst, ich weiß nicht, wie mein Leben weitergehen wird. Meine Freunde berichten davon, wie viel Lohn sie im ersten Lehrjahr verdienen werden. Mein Vater ist weg, seine neue Partnerin mag ich nicht. Mutter arbeitet viel, hat keine Zeit für mich. Mein Leben mogelt sich von Tag zu Tag, ohne Aussicht auf Besserung. Ich könnte schreien vor Einsamkeit. Was mache ich hier? Minuten werden zu Stunden und Tage zu Monaten. Ich schaue mir die neuesten Videos an, wo die coolen Kids mit ihren Boards durch ihre Gärten skaten. Wir haben keinen Garten, der Balkon ist zu klein und zu hoch, doch vielleicht ist er hoch genug. Meine einzige Perspektive ist die nach unten. Im Jenseits ist jeder Besucher einsam.
Weihnachten ist das Fest der Liebe, sagt man. Weihnachten ist das Fest der Familie, spürt man. Vor allem dann, wenn man keine gesellschaftlich-normale Familie hat. Wie kann es sein, dass in einer modernen Gesellschaft Menschen aus dem Normensieb herausfallen und vereinsamen? Die Frage beantwortet sich gleich selbst. Die moderne Gesellschaft schafft sich Normen. Wer ihnen nicht entspricht, aus welchem Grund auch immer, gilt als nicht normal – was man selbstverständlich nie so deutlich sagen wird. Doch was wir Abnormale spüren, trocknet uns die Seele aus. Wir sind jene, welche vergessen und alleingelassen in den Sonnenuntergang reiten wie Lucky Luke – und selbst der hatte noch Jolly Jumper dabei.
So rufe ich zu etwas mehr Aufmerksamkeit auf. Erkennen wir die Anzeichen von Einsamkeit und tun wir etwas dagegen. Denn niemand ist gerne allein, wenn alle anderen es nicht sind. Seien wir gemeinsam nicht mehr einsam.
❄️❄️❄️
Ich habe mir heute mal einfach die Gedanken aufgeschrieben. Der heutige Text ist keine Geschichte, aber er könnte eine Ideensammlung für eine Geschichte sein; eine Art Plot-Skizze. Vielleicht versuche ich morgen, einiges davon als Geschichte zu malen.
Bei uns beginnen heute die Weihnachtsferien. Durchatmen; Seele baumeln lassen und den Kopf leeren. Ich wünsche euch einen leckeren Tee oder eine süße heiße Schokolade.
Und denkt daran – ich bin hier, am anderen Ende eurer Tastatur. Und ich werde antworten. Euer Bruno
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