12 Das Lied der Bahnhöfe
Vor vielen Jahren, in den späten Sechzigern des letzten Jahrhunderts, lebte in der Schweiz ein genialer Liedermacher mit Namen Mani Matter. Seine Lieder sind alle tiefsinnig, selbst die sinnlosen. Er schaffte es, mit wenigen Worten viel zu sagen. Einige Lieder gelten heute als Kulturgut und werden noch immer an Schulen gesungen.
Hier möchte ich auf eines der Bahn-Lieder eingehen. Dazu muss gesagt werden, dass Mani Matter als Sohn eines Eisenbahnarbeiters bei der SBB eine enge Beziehung zur Bahn und dem öffentlichen Verkehr hatte.
Da ist also dieses Lied der Bahnhöfe; ich kann es schlecht übersetzen. Es geht in darin um die Bahnhöfe, an welchen nie ein Zug hält. Entweder sei der Zug schon abgefahren oder schlicht noch nicht angekommen. Was haben wir über dieses Lied gelacht. In jedem Ort gab es einen Bahnhof, mit einem richtigen Bahnhofsvorstand, der einem mehr oder weniger freundlich ein Billett aus Karton verkaufte, mit dem man dann in den Zug klettern konnte, über die steile Leiter hoch bis zur schmalen Tür, welche der Kondukteur von innen aufhielt. Nie hätten wir gedacht, dass sich daran irgendwann etwas ändern könnte.
Die Züge wurden schneller, die Türen automatisch; Menschen wollten immer schneller von Bern nach Zürich reisen, vielleicht gar nach Genf, Bellinzona oder nach Kreuzlingen am Bodensee. Mit der Einführung des Taktfahrplanes wurden viele Bahnhöfe nicht mehr bedient. Mit der Einführung der Onlinetickets wurden dann die bedienten Bahnschalter obsolet und das Personal entweder pensioniert oder umgeschult.
Die Geisterbahnhöfe, wie sie Mani Matter einst besungen hatte, wurden eine Tatsache. Jugendliche lungern gern an solchen Orten herum; "Göhn mir Bahnhof, Bro". Züge rauschen jedoch nur noch vorbei, die gestressten Menschen möglichst schnell und pünktlich in die nächste Stadt bringend. Niemand mehr lacht über den Song, denn es gibt viele Bahnhöfe, wo nie ein Zug hält.
Wenn ich nun aber über die Landesgrenze hinausblicke, dann kann das Lied der Geisterbahnhöfe noch eine andere Bedeutung erhalten. Auch dazu muss ich rasch in der Zeit zurück blättern. Damals haben wir uns über die Bahnhöfe Italiens lustig gemacht. Wir spotteten über die zwei Züge am Tag, einer morgens und einer abends, die vielleicht kommen werden. Nebst unserer geliebten SBB galt die Deutsche Eisenbahn als das Maß aller Dinge. Wow, einmal in einem Schnellzug der DB fahren - das war ein Erlebnis.
Heute steht die DB eher in Zusammenhang mit den Geisterbahnhöfen, wie Mani Matter sie besungen hat. Entweder ist der Zug schon weg oder noch gar nicht angekommen - in den meisten Fällen jedoch wird er gar nie einfahren, weil er aus technischen oder unerfindlichen Gründen ausfällt.
Was ist los mit der DB, frage ich mich. Wo ist der einstige Glanz dieses Vorzeige-Verkehrsmittels hin? Es ist noch keine zwanzig Jahre her, als ich regelmäßig mit der Bahn aus der Schweiz nach Freiburg im Breisgau reiste, beispielsweise um meine Weihnachtseinkäufe zu tätigen. Einfach so, an einem Samstag; weil ich Lust dazu hatte, weil Freiburg eine tolle Stadt ist und weil ich mich auf das Essen in der Markthalle freute.
Heute käme mir das nicht mehr in den Sinn. Bilder von überfüllten Zügen und Bahnsteigen, Berichte von wütenden Menschen und gestrandeten Reisenden halten mich davon ab, mit dem Zug nach Deutschland reisen zu wollen. Das ist schade, denn gerade die Bahn müsste doch eigentlich ausgebaut und als zuverläßiger Reisepartner promotet werden. Umweltfreundlich, sicher, bequem und schnell. So sollte Bahnfahren sein.
In einem kleinen Land wie dem unsrigen kann man sich über Sinn und Unsinn einer gut ausgebauten Bahninfrastruktur streiten. Ich habe ja kaum die Jacke ausgezogen, da hält der Zug schon an der Landesgrenze. In einem großen Land wie Deutschland hingegen, da macht ein funktionierendes Bahnnetz echt Sinn. Die praktische Alternative zum Fliegen; schneller und sicherer als der Straßenverkehr. Wer lässt so etwas Tolles vergammeln? Heute lacht man nicht mehr über Mani Matters Lieder, nein, man lacht über die Bahn.
Dabei ist es ganz und gar nicht zum Lachen. Bahnfahren bringt Menschen einander näher. Schnell mit der Bahn in eine Stadt; keine Parkplatzsuche, kein Stau. Am Morgen hin und am Abend zurück; entspanntes Reisen. Wenn das nicht mehr möglich ist, verkleinert sich meine Welt. Meine kleine Welt, müsste ich sagen, denn dies gilt nicht für Politiker. Sie können immer staufrei überall hinfahren; meistens aber fliegen sie. Die Probleme der kleinen Menschen sieht man aus der Luft nicht.
Wenn aber die Probleme der Menschen zunehmen, weil man ihnen immer mehr wegnimmt, dann steigt die Unzufriedenheit. Und das bringt mich zu einem anderen Lied von Mani Matter, in welchem er in der letzten Zeile singt: "S'länge zum Spränge es paar Säck Dynamit." Was soviel bedeutet wie: Um das Bundeshaus zu sprengen, benötigt man lediglich einige Säcke Sprengstoff. Hoffen wir nicht, dass es je soweit kommt - doch unsere Politiker sind gut beraten, wenn sie die Bedürfnisse des Volkes hören und ernst nehmen.
Auf der Heimfahrt aus den Bergen saß ich einst im Abteil neben einer unserer Bundesrätinnen. Wir kamen ins Gespräch über dies und das und sie meinte, sie reise am liebsten mit der Bahn nach Bern. Da hätte sie Zeit ein Buch zu lesen oder vielleicht auch letzte Sitzungsvorbereitungen zu machen. Ich wünschte mir mehr von ihrer Sorte; nicht abgehoben im Jet, sondern mit einfachen Menschen plaudernd im Zug.
Wer weiß, vielleicht ist der letzte Zug noch nicht abgefahren und es gibt noch Hoffnung für entspannte Bahnreisen quer durch Europa; wie früher mit dem Interrail mal rasch ans Meer. Ich wünschte es mir - und ich freue mich bereits wieder auf das Essen in der Markthalle in Freiburg.
❄️❄️❄️
Ein kleiner Werbetext für den Öffie. Ihr wisst, ich bin auf der Straße zuhause; habe Diesel im Blut. Und dennoch bin ich ein absoluter Bahnfan, vor allem bei Städtereisen.
Wem geht es auch noch so? Wie erlebt ihr Bahnreisen?
Ich wünsche euch einen tollen Donnerstag und ... kommt gut an, wohin ihr auch immer unterwegs seid.
Euer Bruno
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