3. Türchen

Von Schnee ist weit und breit nichts mehr zusehen. Man würde nicht ahnen, dass vor knapp einer Woche noch kleine Flocken vom Himmel gefallen sind. Mit dunklen Augenringen steht Harry auf. Es ist kurz vor sechs und er war bis fast zehn Uhr auf der Wache. Er würde gerne noch eine Weile weiterschlafen, aber er kann nicht. Seine Gedanken sind zu laut. Er hievt sich aus dem Bett und stellt die Kaffeemaschine an. Noch bevor das Wasser durchgelaufen ist, klingelt sein Handy.

„Guten Morgen", sagt er, ohne draufzuschauen. Es muss jemand von der Wache sein, sonst hätte das Handy nicht laut geklingelt. Er hat so eingestellt, als er Detective geworden ist.

„Der Morgen ist nicht gut", antwortet Quentin ihm.

„Scheiße."

„Ich habe hole dich mit einem Streifenwagen ab. Deine Ausrüstung bringt Miller mit. Ich bin in fünfzehn Minuten bei dir", gibt er Harry Bescheid und legt auf. Eine Viertelstunde, na super. Er stoppt die Kaffeemaschine und anstatt auf einen Milchkaffee zu warten, drückt er auf die Tasse, die ihm einen doppelten Espresso zubereitet. Eilig zieht er sich an, kippt das bittere Getränk herunter und greift sich eine Banane. Für ein anderes Frühstück ist keine Zeit mehr.

Quentin hupt einmal, als er vor dem Haus steht. In diesem Moment zieht Harry sich gerade die Schuhe an. Der Aufzug funktioniert schon ewig nicht mehr, also muss er die drei Etagen hinunter laufen.

„Weißt du schon genaueres?"

„Die Infos müssten gerade gekommen sein", antwortet Quentin und deutet auf den Laptop, der vor Harry auf der Ablage liegt.

„Victoria Park. Der See", liest Harry vor.

„See?"

„Weißt du, wo das ist?"

Quentin nickt. „Ja. Wir brauchen nicht lange." Harry liest weiter. „Es ist wohl wieder ein junger Mann. Ein Portemonnaie hat er nicht dabei. Der Park wurde weitläufig abgesperrt. Mehr weiß ich noch nicht."

Sie parken am Eingang des Parks. Die Streife, die dort steht, kennen sie beide und sie müssen daher den Ausweis nicht vorzeigen, um durchgelassen zu werden. „Meinst du das ist ein Zufall?", fragt Quentin Harry.

„Ich hoffe es", antwortet dieser, aber stellt sich darauf ein, dass es nicht so sein wird. Der junge Mann liegt auf einem Tuch der Spurensicherung. Ein Kollege der Streife kommt auf sie zu. „Er wurde im Wasser gefunden. Er trieb zwischen den Sträuchern dort. Dr. Walker weiß schon Bescheid und noch ist nichts zu den Medien durchgedrungen."

„Das klingt nicht gut", bemerkt Harry und der Polizist kräuselt die Lippen. „Das sollten Sie sich selbst ansehen."

Er trägt eine Jeans und ein Shirt. Das Shirt ist zerrissen und hängt nur noch an den Schultern. Darunter trägt er nichts und die Augen sind weit aufgerissen.

„Würgemale", stellt Harry fest und tritt näher ran. „Es sind große Hände gewesen, schau mal hier."

Quentin tritt näher und betrachtet die Abdrücke. Um die Augen sind punktförmige Einblutungen unter der Haut zu sehen. „Die Hände müssen größer als deine gewesen sein." Harry nickt und betrachtet den halb nackten Körper. Seine Befürchtung ist aller Wahrscheinlichkeit nach eingetreten.

„Viele Schnittwunden."

„Aber kein Stich ins Herz", stellt Quentin fest. „Und er trägt die meiste Kleidung noch."

„Du glaubst, es war keine Sexualstraftat?"

„Ich schließe es nicht aus, aber ich glaube nicht", überlegt er laut. Für eine endgültige Antwort müssen sie auf den Bericht von Dr. Walker warten, der gut eine halbe Stunde später eintrifft.

Harry und Quentin stehen an der Seite und warten, bis Dr. Walker einen ersten Befund hat. „Er wurde durch erwürgen getötet. Die Stiche sehen auf den ersten Blick alle danach aus, als wären sie vorher entstanden." Er steht wieder auf und geht zu dem Detective und dem Polizisten.

„Ich würde sagen, es ist der gleiche Täter. Die Schnitte sind ähnlich tief und auch die Fesselspuren ähneln sich. Er wurde außerdem letzte Nacht getötet und hier abgelegt. Er war noch nicht lange im Wasser" erklärt er. „Genau kann ich das erst nach der Autopsie sagen. Den Bericht von Josh Fisher habe ich noch nicht ganz fertig, aber er wird heute Vormittag noch auf ihrem Schreibtisch liegen, Mr Styles."

Harry nickt und betrachtet den Mann. Wenn es wirklich der gleiche Täter ist, müssen sie schnell arbeiten, bevor er wieder mordet. Durch die Würgemale kann man ziemlich sicher sagen, dass es ein Mann ist. Kaum eine Frau hat so große Hände. Viele weitere Spuren rund um den Tatort gibt es wieder nicht. Harry verflucht den britischen Dauerregen im Winter.

„Wir brauchen alle aufnahmen von den umliegenden Verkehrskameras. Hier im Park gibt es keine, oder?"

„Nein, leider nicht", antwortet Quentin und ruft sich einen Streifenpolizisten heran, der die Aufnahmen besorgen soll. Theoretisch ist er nicht ihr Chef, da sie keine Rookies sind, aber Quentin ist schon so lange bei der Wache, dass ihn jeder kennt und respektiert. Wenn er etwas benötigt und man die Zeit darüber hat, übernimmt man die Aufgabe.

„Hattest du schon einmal einen Serientäter?", fragt Harry ihn, als sie auf dem Weg zurück zur Wache sind. Nein, bisher nicht. Immer nur einzelne Fälle. Ich muss gleich ein paar Anrufe machen. Erweiterst du die Tafel?" Harry stimmt zu. Er fängt direkt an, als sie auf der Wache sind. Alles, was sie bisher wissen, steht dort drauf. Viel ist es nicht. Sie wissen noch nicht einmal, wer dieser Mann ist. Er hofft, dass sie es mit Zahnabdrücken herausfinden. Der gesamte Autopsiebericht ist inzwischen auch da. Wie Dr. Walker schon vermutet hat, ging das Messer bei Josh Fisher direkt ins Herz und hat ihn getötet. Die Schnitte sind alle tief und früher oder später wäre Josh daran verblutet, aber sie sind nicht die Todesursache. Das Messer war ein handelsübliches Küchenmesser. Zumindest ist das Dr. Walkers Theorie. Die Klinge war nichts Besonderes, allerdings sehr scharf. Der Abdruck des Griffs auf der Brust verrät nur, dass der Griff oval war. Eine wage Info, mit der Harry aktuell nicht viel anfangen kann. Auf dem Rücken sind nur wenige Schnitte, die nicht so tief sind. Deswegen haben sie sie nicht gewesen, als sie beim Tatort waren. Das Blut ist nicht durchgesickert. Es war schon getrocknet. Außerdem steht in dem Bericht, dass die Schnitte über drei Tage zugefügt wurden. Harry wird schlecht, als er das liest. Josh Fisher wurde drei Tage lang gefoltert. Er war nicht dehydriert, aber hatte über diese Zeit nichts gegessen. Der Drogentest war negativ. Nicht einmal Alkohol hatte er im Blut. Das Seil, mit dem er gefesselt war, war aus Jute. Ein normales Baumarktseil. Er hat sich versucht zu wehren. Die Haut ist abgeschürft.

Harry legt den Bericht weg und atmet tief durch. Quentin hält ihm plötzlich eine Tasse vor die Nase. „Das ist Tee. Das hilft."

„Danke", sagt er leise. „Der Bericht ist gekommen."

„Ich weiß. Bist du durch?"

„Ja. Es ist grausam."

Quentin nickt verstehend und sieht auf die Akte. „Ich habe vorhin bei einer anderen Wache angerufen. Ohne Imogen schaffen wir das nicht. Ich muss meine Rookies weiterhin ausbilden und sie bleibt noch eine Weile. Ihre Mutter hatte eine Schlaganfall und braucht Hilfe. Sie hat Sonderurlaub beantragt", erklärt Quentin. „Uns wird ein anderer Detective geschickt. Er müsste gleich hier eintreffen."

„Danke."

„Es sind zwei Morde in einer Woche. Ich will nicht, dass noch ein Mord geschieht."

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich so schnell in meiner Karriere mit einem Serientäter zu tun hätte", antwortet Harry und trinkt eine Schluck Tee. Quentin hat recht, das hilft wirklich.

„Wir bekommen das hin. Miller spricht gerade mit dem Bürgermeister. Ich habe überlegt, ob wir veranlassen sollen, dass die Parks schon ab neun Uhr schließen und nicht erst um zehn."

„Dr. Walker meinte, die Leichen wurden später abgelegt. Meinst du, es bringt etwas, die Tore früher zu schließen?"

„Du denkst daran, dass es Angst schüren könnte", versteht Quentin. Harry nickt. „Wir müssen auf jeden Fall die Presse informieren, da führt kein Weg dran vorbei. Aber ich möchte dem Täter nicht das Gefühl geben, Macht zu haben. Er foltert, bevor er die Opfer tötet. Er will diese Macht spüren und Angst spielt ihm in die Hände", überlegt Harry laut. Alles, was er über solche Morde weiß, kennt er nur aus der Theorie. Er hat keine Übung darin, es anzuwenden, aber ihm bleibt keine Wahl.

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