20. Türchen
„Immer noch kein Empfang", wechselt Louis das Thema. Er sieht auf sein Handy. Keine Nachricht geht durch. Sie haben bereits beide versucht die Wache und ihre Kollegen zu kontaktieren. Ohne Erfolg. Auch einen Abschleppdienst haben sie nicht erreichen können, wobei es sowieso fraglich ist, wie lange es dauern würde, bis jemand hier ist. Sie werden nicht die einzigen sein, die im Schnee steckengeblieben sind.
„Falls dir kalt wird, sag Bescheid, dann stelle ich den Motor noch einmal an."
„Noch ist es okay, danke", antwortet Louis. Er hat die Schuhe ausgezogen und die Beine in den Schneidersitz hochgezogen. Es ist einigermaßen bequem. Harrys Schuhe stehen ebenfalls im Fußraum, aber er hat nur ein Bein angewinkelt. Louis mustert ihn. Wie kann es sein, dass Harrys Frisur immer noch sitzt? Bei ihm selbst sieht man ganz genau, dass der Wind seine Haare komplett durchgepustet hat. Richtig in Form bekommt er sie nicht mehr.
„Hast du Hunger?", möchte Harry dann wissen und verwundert sieht Louis ihn an. „Was willst du machen? Essen bestellen?"
Ihm rutscht der Spruch einfach so heraus und er presst die Lippen zusammen. Harry schmunzelt, ganz entgegen seiner Befürchtung, aber nur und schüttelt den Kopf. Er nimmt Louis den Spruch nicht böse, er findet es eher amüsant.
„Wir haben vier Müsliriegel", erinnert er ihn.
„Oh, stimmt. Sorry."
„Möchtest du einen?"
„Noch nicht", antwortet Louis. „Wer weiß, wie lange wie hier noch feststecken. Wenn wir wirklich bis morgen früh warten müssen, sollten wir die aufsparen", überlegt er laut. Man könnte einen heute Nacht und den anderen morgen früh essen. Jetzt gerade hat er noch nicht allzu viel Hunger.
„Okay", stimmt Harry und sieht nach draußen. Seitdem sie hier sind, ist kein anderes Auto an ihnen vorbeigefahren. Die Autobahn ist bestimmt wieder frei. Jemand der stattdessen bei diesem Wetter über eine nicht beleuchtete, nicht gestreute Landstraße fährt, ist schön blöd. So wie sie beide.
Harry öffnet die Tür.
„Was wird das?", fragt Louis, als kalte Luft von draußen in das Auto strömt. „Mach die wieder zu!"
„Ich schaue, wie es hier aussieht. Man sieht von drinnen nichts", antwortet Harry und schaltet die Taschenlampe seines Handys an. Es schneit nicht mehr und der Wind hat ein bisschen nachgelassen, aber es ist bitterkalt. Er schlägt die Tür zu.
„Harry!", ruft Louis wieder und ist drauf und dran, den Wagen zu verlassen. Wieso ist dieser Kerl ausgestiegen? Was soll das? Lässt er Louis jetzt wirklich allein im Auto? Louis hofft nur, dass Harry jetzt nicht auf die Idee kommt, zu Fuß zurückzugehen. Seine Schuhe hat er schließlich wieder an. Allerdings liegt seine Jacke noch hier und - Harry öffnet die hintere Tür. Louis kann seinen Gedanken dadurch nicht mehr folgen.
„Was wird das?"
„Vorne ist es unbequem. Ich kann wegen der Pedale meine Beine nicht ausstrecken", antwortet Harry ihm und schließt die Tür hinter sich. Er nimmt sich seine Jacke von vorne und knüllt sie zusammen, um sie als Kissen zu nutzen. Er lehnt sich an die Tür und als die Schuhe wieder ausgezogen sind, legt er die Beine auf der Rückbank lang.
„Besser", sagt er zufrieden und dreht seine Füße ein bisschen. Er sieht zu Louis nach vorne. „Wir können später auch mal wechseln, wenn du möchtest, dann kannst du ein bisschen schlafen."
„Noch bin ich nicht müde, aber danke", erwidert er und Harry schließt die Augen.
„Schläfst du jetzt?", will Louis daraufhin wissen.
„Nein, wahrscheinlich nicht, aber ich ruhe mich ein bisschen aus. Der Tag war lang."
„Wir hocken jetzt schon fast 30 Stunden aufeinander", stellt Louis fest.
„Mhm. Schlimm?"
„Ich glaube nicht. Zumindest jetzt nicht mehr", sagt Louis ehrlich. „Vorhin hätte ich noch etwas anderes gesagt", fügt er hinzu und lächelt schief. „Ich finde es irgendwie gut, dass wir darüber gesprochen haben."
„Jetzt ist es anders, oder?"
„Dir ist es auch aufgefallen?"
„Natürlich. Ich bin Detective", antwortet Harry und schmunzelt. Louis lacht leise. „Stimmt, wie konnte ich das vergessen."
Die Sprüche sind anders als früher. Sie können es beide nicht sein lassen, aber beide merken, dass sie es nicht mehr böse meinen und nicht sagen, um den anderen zu verletzen. Im Gegenteil. Jetzt amüsiert es sie beide. Es hebt die Stimmung definitiv und Louis kann nicht anders, als sich zu fragen, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie damals besser miteinander gesprochen hätten.
„Meinst du, wir wären ein gutes Team gewesen? In der Academy meine ich."
„Da habe ich auch schon drüber nachgedacht", antwortet Harry ihm und Louis ist ein bisschen überrascht. Er sieht Harry durch den Rückspiegel an, den er gerade verstellt hat. „Ernsthaft?"
„Ja. Und ich glaube, wir wären ein gutes Team gewesen, immerhin sind wir das jetzt auch."
„Findest du?"
„Von den Motzereien mal abgesehen", merkt Harry an und zuckt mit den Schultern. „Aber wir kommen voran. Wenn ich ehrlich bin, wäre ich allein wahrscheinlich noch nicht so weit."
Dass Louis daraufhin lächelt, sieht er nicht. Harry hat immer noch die Augen geschlossen. Louis sieht ihn hingegen immer noch an. Er wäre nicht böse, wenn Harry einschläft für ein paar Stunden. Sie haben beide die letzten Tage nicht viel geschlafen und jetzt gerade können sie sowieso nichts machen. Harry lächelt ein bisschen. Es fällt Louis erst nach einem kurzen Moment auf. Es sieht schön aus, wenn Harry lächelt. Er hat bisher nicht darauf geachtet und es auch nicht oft gesehen. Seine Lippen sind pink, nicht rosa. Sie sind schön geschwungen, wenn er lächelt. Harry sieht zufrieden aus, trotz der Situation. Oder gerade wegen der Situation? Louis ist sich sicher, dass sie niemals so miteinander gesprochen hätten, wenn sie nicht hier im Schnee gelandet wären. Wohlmöglich hätten sie es niemals geklärt.
Harry schläft kein bisschen, aber er genießt die Ruhe. Louis sieht nach draußen. Er hatte gehofft, dass man irgendwann Sterne sieht, aber die Luft ist immer noch nicht klar. Man sieht kaum zwanzig Zentimeter weit. Jetzt gerade ist er froh, dass der Wagen nicht auf der Straße steht. So ist das Risiko, dass sie jemand übersieht und in sie reinfährt, massiv verringert. Ob der Schnee immer noch so hoch ist? Kurzerhand wechselt er über die Mittelkonsole auf den Fahrersitz und startet den Motor. Harry öffnet die Augen. „Was wird das?"
„Ich probiere was", antwortet Louis und stellt den Sitz vor. Der Motor läuft und die Heizung springt an. Er drückt aufs Gaspedal - aber nichts. Es passiert nichts.
„Scheiße!", flucht er und versucht es mit dem Rückwärtsgang.
„Der Schnee ist zu hoch", sagt Harry trocken. „Und es schneit übrigens schon wieder. Wir kommen hier heute Nacht nicht weg.
„Ein Versuch war es wert", sagt Louis gefrustet. Er lässt den Motor noch zehn Minuten laufen und dreht die Heizung auf Anschlag. Es wird mollig warm im Auto. Als der Motor wieder aus ist, klettert er umständlich nach hinten zu Harry. Dieser zieht die Beine ran und sieht ihn verwundert an. „War vorne zu wenig Platz für dich?", fragt er ihn und Louis bemerkt erst da, was er gerade getan hat.
„Äh..."
„Setz dich."
Louis lässt sich Harry gegenüber auf die Rückbank nieder. Einen Moment sehen sie sich an. Harry sitzt im Schneidersitz und mustert Louis.
„Gibt es eigentlich jemand, der nach dir sucht? Jetzt gerade meine ich?"
Louis sieht ihn verwundert an. „Nein, wie kommst du darauf?"
Harry zuckt mit den Schultern. „Bei mir auch nicht. Meine Familie und meine Freunde wundert sich nicht, wenn ich mich ein paar Tage nicht melde. Sie wissen, wie viel ich gerade zu tun habe."
„Dito. Und ich bin Single, falls du darauf hinauswolltest."
„Ich auch."
„Ich weiß", sagt Louis knapp und versucht zu ignorieren, dass sein Herz schneller schlägt. Was passiert hier gerade? Wieso fragt Harry ihn, ob er Single ist? Und wieso wird er davon nervös? Seine Gedanken überschlagen sich. Er reibt die Hände aneinander.
„Ist dir wieder kalt?", fragt Harry und er nickt, obwohl es nicht stimmt. Es ist vielmehr eine Übersprungshandlung. Harry greift die Decke und reicht sie Louis. „Hier."
„Es ist deine Decke."
„Und?"
Louis schweigt. Er rutscht in die Mitte der Rückbank und breitet sie über ihnen beiden aus. Harry tut es ihm gleich. „Okay?"
„Ja, sicher. Uhm..." Louis beißt sich auf die Innenseite seiner Wange. Fuck, wieso stottert er? Das ist ganz seltsam gerade. Das sollte so nicht sein. Oder? Nein, sollte er nicht.
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