12. Türchen

Wortlos hat Harry Louis bei der Wache abgesetzt. Sie haben kein Wort auf der Rückfahrt miteinander gesprochen – nicht dass es einen von ihnen sonderlich gestörrt hätte. Fast wollte Harry Louis fragen, ob er ihn Zuhause absetzen soll. Dann kam ihm dieser Gedanke aber unglaublich dämlich vor. Wieso sollte er das tun? Für ihn selbst wäre es wahrscheinlich ein Umweg gewesen und Louis ist nun wirklich nicht die Person, der man gerne einen Gefallen tut. An der Wache angekommen, ist Louis ohne sich zu verabschieden aus dem Auto ausgestiegen und nach Hause gegangen. Das ist inzwischen zwei Stunden her und eigentlich wollte er schon längst schlafen. Stattdessen sitzt er noch auf seinem Sofa und schaut irgendeine dumme Sendung, dessen Inhalt ihm total egal ist. Er hat sich Pizza bestellt und war duschen. Seitdem lassen ihn seine Gedanken nicht mehr in Ruhe. Wieso kann sein Kopf nicht einfach die Klappe halten? Er geht immer wieder den Abend durch. Er sieht die Szene vor seinem inneren Auge. Wie konnte Harry das nicht merken? Und wieso hat Harry in seiner Arbeitszeit angefangen zu flirten? Das gehört sich einfach nicht. Wenn er als Detective unterwegs ist, hat er einen Job zu erledigen und nicht seinen nächsten Lover zu suchen. Abgesehen davon war der Kerl komisch. Und der Anmachspruch wirklich schlecht. Wieso ist Harry darauf eingegangen? Freundlichkeit kann es nicht sein, denkt Louis sich. Harry ist nicht freundlich.

Es ist nach Mitternacht, als er sich ins Bett legt. Er ist hellwach und seine Gedanken kreisen um seinen dummen Kollegen. Nicht einmal jetzt kann Harry ihn in Ruhe lassen. Er möchte doch nur schlafen, ist das wirklich zu viel verlangt?

Er hasst es, zu spät zu sein. Louis hat den Wecker nicht gehört (oder im Halbschaf ausgeschaltet, er ist sich da nicht ganz sicher) und deswegen über eine halbe Stunde später auf der Wache, als normalerweise. Er ist müde und genervt und bei dem Gedanken daran, sich jetzt gleich einen dummen Spruch von Harry anzuhören, würde er am liebsten wieder umdrehen und sich zurück in sein Bett verkriechen. Das würde er aber natürlich niemals zugeben. Sein erstes Ziel ist die Küche. Er macht sich Tee und sieht, dass eine Dose mit Muffins auf dem Tisch steht. Er hat nicht gefrühstückt. Wer sagt, dass man Muffins nicht frühstücken kann? Er nimmt sich einen und holt die Milch aus dem Kühlschrank.

Die Muffins schmecken gut. Schokolade und Nuss, das geht immer. Er geht zu seinem Schreibtisch. Harry steht, wie so oft, vor der Tafel. Er hat auf der Karte die Lokale markiert, in denen sie gestern waren. Es fehlen noch einige und Louis seufzt leise. Er will nachher nicht schon wieder mit Harry unterwegs sein.

„Auch mal da", sagt Harry, ohne Louis anzuschauen.

„Offensichtlich", antwortet Louis knapp und wartet auf den dummen Spruch, der sicherlich folgen wird. Harry sagt nichts. Louis wird skeptisch. „Das wars? Mehr sagst du dazu nicht?"

„Was soll ich dazu sagen? Es ist deine Sache, wie wichtig dir dieser Fall ist."

„Bitte was?"

„Übrigens, vor einer halben Stunde war der Chaptain hier. Er wollte wissen, wie der Stand ist."

„Fuck", flucht Louis leise. Harry zuckt mit den Schultern und dreht sich zu ihm um. „Du warst nicht da. Was das bedeutet, kann ich dr nicht sagen, da musst du selbst drüber nachdenken."

„Du bist schlecht gelaunt", bemerkt Louis. Harry sieht ihn an, aber er kann den Ausdruck nicht deuten. Louis wird skeptisch. Wieder keine dumme Antwort. Was ist hier los?

„Ich möchte nicht, dass es noch einen Mord gibt. Wir haben ziemlichen Zeitdruck und wir kommen nicht weiter. Ich habe das Gefühl, wir übersehen etwas", erklärt er Louis. Louis nickt stumm. Ja, das Gefühl hat er auch. Sie kommen nicht weiter und das macht ihn irre, Er hasst es.

„Es sind nur Männer, nur Studenten", überlegt er laut. „Und ein Mann ist höchstwahrscheinlich der Täter. Es gibt keine Spuren auf sexuellen Missbrauch und er greift seine Opfer in Kneipen oder Clubs ab."

„Und er ist Sadist", fügt Harry hinzu. „Er braucht einen Ort, wo er ungestört ist."

„Das könnte überall sein. Es isolierter Keller würde reichen."

„Und vielleicht fährt er einen Ford Fiesta."

Louis seufzt. So viele Heinweise sind schwammig und nicht sicher. Damit können sie nicht gut arbeiten. Harry lehnt sich an seinen Schreibtisch und verschränkt die Arme vor der Brust. Was übersehen sie?

„Detectives?"

Sie drehen sich um. „Hi Jennet", sagt Harry freundlich und lächelt kurz. „Was gibt's?"

„Wir sind mit dem Tatort fertig. Die letzten Ergebnisse", sagt sie und gibt Harry einen USB Stick. „Dafür musstest du doch nicht extra herkommen. Sonst machen wir das doch auch übers Intranet?", fragt Harry überrascht. Sie zuckt mit den Schultern. „Ich weiß, aber ich habe gehört, einer eurer Rookies hat gebacken. Muffins", sagt sie und geht gut gelaunt zur Küche.

„Sie ist von der Forensik, oder?", fragt Louis und denkt sich, dass Harry ihn ruhig mal hätte vorstellen können.

„Ja. Sie ist echt gut in ihrem Job", nickt Harry und öffnet die Dokumente auf dem Stick.

„Sie habe die Fußspuren untersucht", fängt er an. „Man kann zwar das Muster nicht erkennen, aber es waren Spuren darin. Sand und Dreck."

„Sand und Dreck in einem Park. Wow."

„Warte doch mal eine Sekunde. Es waren auch zwei Samen von einer Pflanze dabei. Die wächst in London nicht oft, aber unter anderem wächst sie auf einem Friedhof, nicht weit von den Parks entfernt." Harry markiert den Friedhof, der in Frage kommt. „Ich wette, der Kerl lebt nicht weit von hier."

„Er achtet so Penibel darauf, dass er keine Spuren an den Opfern hinterlässt, aber seine Schuhsohlen vergisst er?", fragt Louis verwundert.

„Offenbar. Die gleichen Pflanzensamen wurden auch bei Allen James gefunden. In keinem der beiden Parks wächst die Pflanze. Er trägt die gleichen Schuhe, wenn er die Leichen wegbringt."

„Wir können schlecht den Boden aller Kneipen nach diesen Samen absuchen", entgegnet Louis frustriert. Am liebsten würde er allerdings genau das tun.

„Wir müssen zu diesem Friedhof", beschließt Harry undnimmt sich seine Sachen. Louis folgt ihm zum Auto. Es ist kalt draußengeworden, sehr. Die Atemluft bildet kleine Wölkchen vor ihren Gesichtern und erist froh, als sie im Wagen sitzen und die Heizung anstellen können. Er hasstdie Kälte. Er friert ziemlich schnell und Schnee gibt es in London auch nicht.Schnee wäre schön. Richtiger Schnee. Nicht diese Matsche, die hier ab und zuauf den Straßen liegt. Darauf kann er lange warten. 

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