22 | »Die kleinen Truthahndiebe« von RheaWinter92
»Die kleinen Truthahndiebe«
Eine Kurzgeschichte aus dem Genre Abenteuer von RheaWinter92
Triggerwarnungen: Keine
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„Mmh, Albertine, das riecht ja köstlich!" Opa Claas beugt sich hinunter, um an dem Truthahn zu schnuppern, denn seine Tochter da gerade in den Ofen schiebt.
„Finger weg, Opa, der ist für später!", ertönt Klein Lasses helle Kinderstimme in der Küche und Lasse stellt sich schützend vor den Truthahn, damit Opa Claas das Weihnachtsmahl nicht mit seinen ungewaschenen Fingern anfasst.
„Schon gut, mein Junge, ich wollte ja nur mal sehen", brummt der Opa und schlurft mit einem sehnsüchtigen Blick auf den Ofen zurück ins festlich geschmückte Wohnzimmer. „Wenn deine Tante schon einen Amerikaner geheiratet hat, dann macht der hoffentlich einen Eins-A-Truthahn. Lange genug hat er für die Füllung ja gebraucht."
Lasse kichert, während Albertine sich vornimmt, Opa Claas im Auge zu behalten. Sie kennt ihn schließlich schon ihr ganzes Leben lang, weshalb sie weiß, dass er nie auf andere hört. Außerdem liebt er es, im Schuppen herumzuwerkeln und vergisst dabei immer das Händewaschen. Dallas würde wahrscheinlich in Ohnmacht fallen, wenn Opa Claas dieses besondere Geschenk an die Familie verkeimen würde. Schließlich hat er es hier im ländlichen Dänemark schon schwer genug, seufzt Albertine, während sie die Uhr am Ofen stellt, damit der Truthahn nicht verbrennt. Die Nachbarn haben nämlich mit den Fingern auf ihn gezeigt, als sie gemeinsam durchs Dorf spazieren gegangen sind. Na gut, vielleicht hätte Dallas seinen Cowboyhut abnehmen sollen, aber er kommt nun mal aus Texas und ist stolz darauf.
„Albertine, wo bleibst du denn? Die Weihnachtswichtel haben Geschenke für uns alle gebracht!", ertönt plötzlich Pernilles Stimme aus dem Wohnzimmer. „Beeil dich, Lasse kann kaum noch warten."
Grinsend zieht Albertine die Schürze aus und eilt zur versammelten Familie ins Wohnzimmer. Neben ihrer Schwester Pernille mit ihrem Mann Eric und Klein Lasse haben es sich auch Opa Claas, Oma Jordis und natürlich Dallas auf den Sofas bequem gemacht. Lasse sitzt wie ein Rennfahrer, der den Start kaum erwarten kann, auf dem Schoss seiner Mutter. Ach, wie schön es doch ist, ein Kind zu sein. Diese glänzenden Augen, diese Aufregung, diese unbändige Freude. Kinder träumen noch und glauben fest daran, dass es auf dieser Welt mehr gibt als das, was man unmittelbar sieht. Für sie ist die Erde ein riesiger Abenteuerspielplatz.
„Warst du denn auch schön brav, Lasse?", fragt Opa Claas nun streng. „Die Wichtel sind zwar frech, aber du bist nun mal kein Wichtel und musst nett zu deinen Eltern sein."
Lasse nickt ernsthaft. „Ich hab sogar mein Zimmer aufgeräumt und den Wichteln Milch und Kekse vor die Tür gestellt. Sogar eine Mütze hab ich ihnen gegeben, damit ihre langen Ohren nicht einfrieren."
Albertine lächelt. Lasse ist so ein lieber kleiner Junge. Pernille und Eric müssen sehr stolz auf ihn sein.
„Nun gut", sagt Opa Claas nun großzügig. „Dann schauen wir mal, was wir hier haben. Oh, das ist ja ein besonders großes Paket! Was da wohl drinnen ist?" Natürlich reicht Opa Claas Lasse zuerst sein Geschenk und natürlich lässt er uns andere blöd dastehen, denn wie immer ist es das größte und imposanteste im Geschenkestapel.
Jauchzend stürzt Lasse sich auf das Geschenk und nun kommt doch das ungestüme Kind in ihm zum Vorschein, denn er reißt das Geschenkpapier herunter wie ein wildgewordener Löwe. Pernille möchte schon den Mund aufmachen, doch Eric legt ihr einen Arm auf die Schulter. Lass den Kleinen, es ist doch Weihnachten, sagt sein Blick.
„Opa, das ist das tollste Geschenk der Welt! Die Ritterburg wünsche ich mir schon seit Jahren!", ruft Lasse und strahlt dabei übers ganze pausbäckige Gesichtchen. „Jetzt brauche ich nur noch ein Schwert und dann ziehe ich ins Abenteuer! Oh Opa, du musst unbedingt mitspielen!"
Opa Claas lehnt dankend ab und zeigt auf sein leeres Weinglas. „Nachher, Lasse. Jetzt muss ich in der Küche erstmal mein Glas nachfüllen, sonst ertrage ich die schrille Stimme deines Vaters nicht, wenn wir nachher alle Stille Nacht, Heilige Nacht singen."
Eric schnappt empört nach Luft, doch da ist Opa Claas schon in die Küche entwischt. Flugs schenkt er sich Rotwein nach und seufzt zufrieden. Nanu, was ist denn das? Opa Claas zieht die Augenbrauen hoch, als er die offene Ofenklappe erblickt. Seltsam. Albertine hatte sie verschlossen, das hatte er mit seinen eigenen Augen gesehen, und seitdem war niemand mehr in der Küche.
Wie ein Detektiv beugt sich Opa Claas hinunter, um einen genaueren Blick auf diese seltsame Situation zu werfen. „Was? Das darf nicht wahr sein!"
Opa Claas entsetzter Schrei lockt den Rest der Familie vom Wohnzimmer in die Küche und nun stehen alle vor der offenen Ofenklappe und sehen- gähnende Leere.
Albertine schlägt die Hände vor dem Gesicht zusammen. „Ich verstehe nicht", jammert sie und tastet suchend mit der Hand im Ofen umher. „Der Truthahn war im Ofen und der Ofen war angeschaltet. Papa, hast du dir einen Scherz erlaubt?"
Opa Claas schüttelt den Kopf. „Mit Essen spielt man nicht, daran habe ich mich stets gehalten. Und hört ihr das?" Er deutet auf seinen knurrenden Magen. „Ich habe mich genauso aufs Weihnachtsmahl gefreut wie ihr. Wieso sollte ich da die Hauptspeise verschwinden lassen?"
Dallas kratzt sich am Kopf. „Einen Hund, der den Truthahn geklaut haben könnte, habt ihr ja auch nicht. Mmh... Vielleicht hat er noch gelebt und ist davongeflogen?"
Lasse lacht. „Dallas, Tante Albertine hat den Truthahn aus der Tiefkühltruhe geholt, solange können Tiere da drin nicht überleben. Wissen Großstadt-Amerikaner das nicht?"
Albertine wirft Lasse einen strengen Blick zu, dann übernimmt sie das Kommando. „Schaut überall in der Küche nach, na los! Vielleicht gibt es doch noch eine Erklärung!"
Gesagt-getan. Die Familie durchsucht sämtliche Schränke und Schubladen, findet aber nicht die leiseste Spur vom verschwundenen Truthahn. Schließlich ist Opa Claas so verzweifelt, weil sein Magen mittlerweile knurrt wie ein riesiger Wolf, dass er zum Telefon greift und seinen Kneipenkumpel Troels anruft. Troels arbeitet nämlich als Privatdetektiv, seit er in Rente gegangen ist, weil er sich sonst schrecklich langweilt.
Anscheinend langweilt sich Troels auch an Weihnachten, denn er steht innerhalb von zwanzig Minuten vor der Tür und trägt Sherlock-Holmes-mäßig einen schwarzen Mantel, eine karierte Baskenmütze. Lasse kichert, als er auch noch eine Lupe aus der Manteltasche hervorkramt und damit den Ofen untersucht.
„Aha!", ruft Troels plötzlich und die Familie drängt sich neugierig um den Ofen. „Da haben wir schon den ersten Hinweis!"
„Ich hab schon nachgeschaut und da war nichts", erklärt Albertine und verdreht die Augen. Möchte sich Troels nur wichtig machen?"
„Dann hast du nicht genau genug geschaut!", antwortet Troels und hebt ein winziges schwarzes Etwas hoch. Er legt es auf den Küchentisch und hält seine Lupe darüber. Albertine schaut mit in die Hüfte gestemmten Händen hindurch und hält die Luft an. „Ist das etwa... ein winziger Schuh? Wie ist der denn in den Ofen geraten? Veralberst du uns, Troels? Oder habe ich den Schuh vorhin in der Eile mit einem Rußklumpen verwechselt?"
Troels holt tief Luft. „Vermutlich haltet ihr mich für durchgeknallt, aber ich befürchte, die Weihnachtswichel haben euren Truthahn gestohlen."
Dallas lacht sein raues Cowboylachen. „Weihnachtswichtel? Ja, klar. Warum vergessen wir das Ganze nicht einfach und bestellen uns was beim Lieferservice? Pommes und nen Burger zum Beispiel?"
Opa Claas schlägt sich die Hand vor den Kopf, verkneift sich aber eine bissige Bemerkung. Dazu ist er viel zu sehr an Troels Theorie interessiert. „Na gut, dann waren es die Wichtel", stimmt er zu. „Wie bekommen wir aber den Braten wieder?"
Troels runzelt die Stirn, als denke er angestrengt nach, dann pfeift er durch die Zähne. „Heureka, ich hab's! Ihr habt doch sicher wie jede traditionsliebende dänische Familie eine Wichteltür in eurem Haus?"
Lasse nickt begeistert. Er selbst hat die kleine hölzerne Wichteltür schließlich in seinem Kinderzimmer aufgestellt, damit die Weihnachtswichtel ein Zuhause haben. An ihr hängt sogar ein winziger Adventskranz und davor stehen kleine Schuhe und ein Schüsselchen voll Milchreis, falls die Wichtel Hunger bekommen.
„Auf was wartet ihr noch? Wenn die Wichtel den Truthahn geklaut haben, dann haben sie ihn bestimmt zu ihrer Wichteltür geschleppt und ihn mit in ihr Zauberreich genommen!", ruft Troels begeistert und folgt dem auf und ab hüpfenden Lasse zu seinem Zimmer.
Nun lächelt auch Albertine. Wenn der Truthahn schon verschwunden ist, dann soll wenigstens Lasse an Weihnachten ein wenig Spaß haben. Und wer liebt die Weihnachtswichtel nicht?
Schließlich bringen sie die Geschenke und schmücken das Haus, auch wenn sie manchmal Streiche aushecken. Truthahn essen sie aber nicht. Oder doch?
In Lasses Zimmer versammelt sich die Familie nun vor der winzigen Wichteltür, die an der Wand steht. Unmöglich, dass sich dahinter ein Truthahn verbirgt. Vor der Tür steht neben dem Schüsselchen Milchreis allerdings nur noch einer der kleinen Schuhe. Kann das ein Zufall sein?
„Lasse, sei nicht zu enttäuscht, wenn die Wichtel gerade nicht da sind", warnt Pernille ihren Sohn deshalb und legt ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. „Vielleicht helfen sie gerade dem Weihnachtsmann in seiner Werkstatt am Nordpol."
Lasse kniet sich vor die Tür. „Die sind bestimmt zuhause, es ist doch Heiligabend, Mama. Da ist der Weihnachtsmann schon mit seinem Schlitten unterwegs. Sowieso werden alle Geschichten wahr, wenn man nur fest genug daran glaubt."
Pernille seufzt, als Lasse die kleine Tür öffnet. Die Erwachsenen, außer Troels natürlich, stellen sich auf eine große Enttäuschung ein, doch weil Weihnachten ist, geschieht doch noch ein Wunder.
„Opa Claas, schau nur, da ist ein kleines Guckfenster! Wenn ich durch das Fenster schaue, sehe ich eine verschneite Hütte. Oh, da sind ja die Weihnachtswichtel! Sie haben vor der Hütte eine lange Holztafel aufgebaut und feiern mit einem richtigen Festmahl! Da ist ja auch unser Truthahn! Er ist so groß, dass er wahrscheinlich für das ganze Wichteldorf reicht. Wie fröhlich sie plappern! Wie festlich sie mit ihren roten Weihnachtsmützen und den roten und grünen Pullis und gestreiften Hosen aussehen! Schaut euch das an!"
Und einer nach dem anderen späht die Familie und Troels auch durch das Fenster in die andere Welt, das sich wie durch Magie hinter der Wichteltür geöffnet hat.
Die Weihnachtswichtel haben den Truthahn gestohlen und der Familie damit das wundervollste Weihnachtsfest aller Zeiten beschert. Zu Essen gab es dann übrigens doch noch etwas, denn Troels und seine Familie haben Opa Claas, Lasse, Albertine, Dallas Pernille und Eric die Hälfte ihres eigenen Truthahns geschenkt. Und die Wichteltür? Lasse hat beschlossen, dass er die jetzt auch im Sommer aufbaut. Wer weiß, vielleicht kann er die Wichtel das nächste Mal dann beim Sonnenbaden am Strand beobachten.
ENDE
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