02 | »Frozen Embers - Das Lied der flüsternden Winde« von Vereoo
»Frozen Embers - Das Lied der flüsternden Winde«
Eine Kurzgeschichte aus dem Genre Übernatürliches von Vereoo
Triggerwarnungen: Gewalt, Verletzungen, Verlust und düstere Atmosphäre
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„Denn heute Nacht sind wir
jede Version unserer selbst –
wunderschön, schimmernd, zerbrechlich.
Und wenn wir zerbrechen,
dann in tausend funkelnde Stücke."
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Keine Menschenseele war zu sehen.
Nichts. Nur Bäume, stumm und reglos.
Er stand allein in der absoluten Stille des Waldes. Kein Nachtvogel rief, kein Wind regte sich. Nur die Sterne glitzerten wie Augen am Himmel, während der Wald in Dunkelheit gehüllt war – einer Schwärze, die unnatürlich wirkte, wie das Flimmern vor ihm.
Die Barriere – eine unsichtbare Kuppel, die mehr als nur Bäume verbarg. Geheimnisse, die nur jene kannten, die sie zu tragen wussten.
Der Forst verschwamm, als er hindurchtrat. Ein leises Knistern erfüllte die Luft, während die Welt um ihn herum neu Gestalt annahm.
Plötzlich ging er entlang der Straßen und Häuser, die still und weiß unter der ersten Decke des Winters lagen. Flocken glitzerten in der Luft, während er in das Dorf zurückkehrte – so sanft und leise, als wäre er selbst frisch gefallener Schnee.
Sloan Everthorne – so nannte man ihn. Und wie sein Name es versprach, kehrte er immer wieder hierher zurück – an einen Ort, der ihn wie ein Echo rief.
Die Lichter am Dorfrand erinnerten ihn an bunte Glühwürmchen, lebendig und schimmernd, als würden sie den Wald bewachen. Laternen tauchten den Marktplatz in warmes Licht, während Zelte über schlichte Tische gespannt waren. Ein bemalter Steinboden führte zum Herzen des Dorfes – dem Gasthaus, umringt von einer still tanzenden Menge. Feiernde Bewohner.
Seit den letzten Feierlichkeiten hatte sich für Sloan Everthorne hier nichts verändert. Hoffnung ließ sein Herz schneller schlagen. Vorfreude. Es kribbelte unnachgiebig in seinen Fingern.
Ein Duft von Zimt und gebratenem Fleisch lag in der Luft. Und irgendwo in der Nähe erklang eine Gitarre. Aber niemand sang. Falls doch, verbargen Masken die Gesichter der Sänger.
Die Dorfbewohner tanzten an ihm vorbei, ihr Schmuck funkelte – Messing, das Beste, was sie für das Fest der Flüsternden Winde aufbringen konnten. Eigentlich eine Feier des Glanzes und des Goldes, doch hier lernte man, selbst den kleinsten Schimmer zu schätzen.
Während Everthorne durch die Menge glitt, erkannte er sie – jene, die unruhig umhergingen. Es waren weniger als im letzten Jahr, doch ihre Wachsamkeit war ungebrochen. Dunkle Schatten in der Menge. Sie gehörten nicht zu den Dorfbewohnern. Für die meisten waren sie besondere Gäste – „Wächter", die das Dorf sowohl jenseits der Barriere als auch innerhalb schützten.
Woher er das wusste?
Sie waren wie er – Männer in Ledermänteln, mit Waffen auf dem Rücken. Männer, die schweigend warteten, bereit, lautlos zu töten.
»Sloooaaaan!« Ein blonder Schopf mit winziger Maske schob sich durch die Menge.
»Shh, Yvie,« flüsterte Sloan, als er sie trotz der Aufmachung erkannte. »Nicht so laut beim Fest der Stille.«
Es war Tradition: kein Wort, kein Gesang – für den Wächter eine endlos lange Schweigeminute für jene, die verloren waren. Einmal im Jahr versuchten die Dorfbewohner, sich daran zu halten. Meistens.
Yvie war die Ausnahme: »Du bist zurückgekommen«, staunte sie. »Das ist so toll ... das muss einfach ausgesprochen werden.«
»Natürlich bin ich zurückgekommen«, entgegnete er knapp. Yvie würde ohnehin nicht verstehen, dass sie einer der Gründe war. »Heute ist doch ein wichtiger Tag, nicht wahr? Wie immer, wenn der Winter den–«
»Herbst fortgewischt«, vollendete sie leise. Im nächsten Moment gab sie nach, warf sich in seine Arme. »Ja, ich weiß.«
Sloan spürte ihre kleinen Hände – ihre Umarmung war wärmer als alles, was er gewohnt war. Nach allem, was geschehen war – mit ihm, den Menschen, dem ganzen Land. All das war der Grund, warum das Dorf sich hier abschottete.
»Du hast mir wirklich gefehlt, Kleine«, sagte Sloan leise.
Außerhalb der Barriere hatte er versucht, Yvie aus seinen Gedanken zu verbannen – ebenso wie die bittere Wahrheit, wie erbarmungslos das Leben war. Eingepfercht an diesem Ort war sie ein Widerspruch zu dem, was sie hätte sein sollen: frei, neugierig, bereit, die Welt mit staunenden Augen zu entdecken. Doch sie ahnte nicht, dass ihr Zuhause längst von Intrigen durchzogen war.
»Jedes Jahr sagen sie, ich soll nicht auf die Straßen gehen. Dabei gibt es doch die Wächter, oder? Und dich. Das Fest macht mir keine Angst, auch nicht der Wald ...« Ihr Blick wanderte zum Dorfrand, wo die bunten Lichtpunkte schimmerten.
»Wieder ein Jahr älter, und du wirst immer mutiger. Mit Abstand die Tapferste im ganzen Dorf.« Doch tief in seinem Inneren wusste Sloan, dass es egal war – nichts konnte das Schicksal der Kinder ändern. »Wo ist denn eigentlich dein Freund? Wie hieß er noch gleich ... Jona?«
Sloan erinnerte sich an den Jungen mit den runden Wangen, die so auffällig waren wie sein Mut. Neu im Dorf, hatte er am ganzen Körper gezittert. Und doch war er Yvie beim letzten Fest keinen Moment von der Seite gewichen.
Yvie zuckte kaum merklich zusammen, ein Schatten zog über ihr Gesicht. »Jona, er... er ist nicht mehr hier,« antwortete sie leise, ihre Stimme nur ein Hauch.
Sloan spürte, wie sich eine unsichtbare Schlinge um sein Herz legte. »Nicht mehr hier?« wiederholte er, obwohl er die Antwort ahnte – die Art von Antwort, die in einem Dorf wie diesem oft unausgesprochen blieb.
Yvie blickte zu Boden, ihre kleinen Hände klammerten sich an den Saum ihres Mantels. »Er ist seit dem letzten Winter ... fort,« flüsterte sie schließlich. »Er hat es nicht geschafft, Sloan. Der Wald hat ihn geholt.«
Ein eisiger Schmerz breitete sich in ihm aus. Es war immer dasselbe: Nicht nur ein unbarmherziger Ort oder ein unerbittliches Schicksal für ein Kind – es gab immer ein weiteres, das den Verlust tragen musste.
»Es tut mir leid, Yvie.« Es war das Einzige, was er sagen konnte – und doch viel zu wenig.
Sie sah ihn an, ihre Augen glänzten im Licht der Laternen. »Es ist schon länger her, also nicht mehr so schlimm,« sagte sie leise und biss sich auf die Unterlippe. »Er hat gesagt, ich soll stark bleiben.«
»Ja, das hat er,« erwiderte Sloan und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. »Und das wirst du. Für ihn.«
»Und du für sie,« Yvie nickte, und für einen Moment wirkte sie so viel älter.
„Für sie" - Sloans Herz geriet ins Stolpern. Die Worte eines kleinen Mädchens brachten es so heftig zum Schlagen, dass ihm fast übel wurde.
»Ich hatte gehofft, du würdest dieses Mal nicht kommen,« erklang es plötzlich hinter ihm.
Sloan fuhr herum, doch niemand war zu sehen. Die Stimme hallte nur in seinem Kopf wider – ein Klang, der ihm erschreckend vertraut war.
Sein Blick wanderte zögernd durch die Menge. Yvie durfte nicht allein bleiben – nicht hier, nicht heute. Doch etwas zog ihn fort, weg vom Licht der Laternen. Mit schweren Schritten trat er in die Schatten der Zelte, hinaus in die Nacht, fort vom Fest.
Dann spürte er es – starke, unerbittliche Hände, die ihn tiefer in die Dunkelheit zogen.
»Endlich,« murmelte Sloan, während sich ein eiserner Griff um ihn schloss.
»Guten Abend,« flüsterte die vertraute Stimme. Die Gestalt, die ihn festhielt, verbarg ihr Gesicht unter einer Kapuze.
»Das ist aber nicht die feine Gastfreundschaft, die ich kenne«, bemerkte Sloan ruhig, fast spöttisch. »So empfängt man also einen Wächter?« Doch tief in seinem Inneren wusste er längst, wer ihn gepackt hatte.
Das Mauerwerk war kühl und rau in seinem Rücken, und die Nähe zwischen ihnen raubte ihm den Atem. Zwei Körper, verborgen im Schatten hinter dem Gasthaus, fernab des Festes.
»Everthorne,« hauchte sie, während die Kapuze langsam zurückglitt.
»Lyssa,« flüsterte Sloan, sein Atem stockend.
Ihr elfengleiches Gesicht trat ins Mondlicht, eine Strähne fiel ihr in die Stirn. Ihr Haar schimmerte, als trüge es die Sterne in sich – genauso wie damals, als seine Finger hindurchgeglitten waren.
Vor einem Jahr. Und viele Jahre davor.
»Na, hast du mich vermisst?« Ihre Stimme war ein leiser Hauch. Sie war so untrennbar mit diesem Dorf verbunden wie sein eigenes Schicksal.
„Ja", wollte er sagen, doch entschied sich anders. »Du weißt doch, wie es ist. Die Sommer sind trostlos kalt, und die Winter umso wärmer.« Denn bei jedem Schneefall hatte er insgeheim gehofft, sie wiederzutreffen.
»Poetisch wie eh und je.« Lyssas Atem streifte seinen Mund, warm und nah. »Dabei sagt man, die Männer jenseits der Grenzen seien eiskalt.«
»Die meisten, aber nicht alle.« Sloans Blick wanderte zu ihren Lippen, blutrot, als hätte sich all ihre Aufregung darin gesammelt.
Nicht dieses Mal würde er sich abwenden.
Nicht, nachdem er all die Monate verstreichen lassen hatte, nur um diesen Moment zu erleben.
Ihre Nasenspitzen berührten sich fast.
So gefährlich. So nah, wie nur einmal im Jahr.
»Ich kann das nicht, Sloan«, brach sie die Spannung. »Nicht, wenn du morgen wieder fort bist.« Ihr Atem war rau wie der Wind, der über das Dorf fegte – ein Zug, der Sloan glauben ließ, er könnte ihn fortreißen.
»Und doch bist du hier – wie ein Schatten, der still auf mich gewartet hat. Jeden Winter. Jedes Jahr. Als würdest du hoffen, dass sich etwas geändert hat. Dass ich mich geändert habe«, sagte er mit belegter Stimme. »Aber ich bin ein Wächter. Und wir kommen aus guten Gründen hierher.«
»Damit niemand die Barriere durchbricht, wenn sie am schwächsten ist«, erwiderte sie leise.
Er trat näher, sein Blick hielt sie gefangen. »Vor allem um sicherzustellen, dass niemand die Kuppel verlässt«, fügte er hinzu. »Ich kann dich nicht mitnehmen, Lyss.«
»Das weiß ich«, antwortete sie kaum hörbar.
»Hast du dir jemals ausgemalt, was passieren würde, wenn ein Wächter dich über die Grenze bringt?« Seine Stimme klang umso schärfer.
»Du hättest nicht kommen sollen«, presste sie hervor, ihr Blick traf ihn wie ein Schatten. »Es macht alles nur komplizierter. Für uns beide.«
Die Worte hingen zwischen ihnen, so schwer wie die Nacht selbst. Sein Atem stockte. Dann holte ihn die Wahrheit ein: Die Wächter schützten das Dorf – das Geheimnis ihrer Existenz. Doch nichts zwang ihn, hierher zurückzukehren.
Es war sein eigener Wunsch gewesen.
Warum? Hoffnung? Was ließ ihn alles riskieren – sein Leben, seinen Eid?
Doch der Grund war egal. Er konnte nichts ändern. »Es tut mir leid«, flüsterte er.
»Wie hast du dir das hier nur vorgestellt?« Ihre Worte zerschnitten die Stille.
»Ich wollte dich sehen«, erwiderte Sloan leise. Weiter hatte er tatsächlich nicht gedacht. Wie töricht von ihm zu glauben, dass sie alles riskieren würde – nur für diesen Moment.
Für ihn.
Doch dann – ein leises Geräusch. Es wehte heran, schlich durch die Bäume. Kein Wind, sondern Stimmen. Ein Wispern, so sanft und unheimlich, als würde der Wald selbst atmen.
»Die flüsternden Winde«, murmelte Sloan. »Es beginnt.«
»Letzten Winter haben sie Jona geholt«, sagte Lyssa, ihre Augen schimmerten traurig. »Die Dorfbewohner ließen sich wie immer zu sehr vom Fest ablenken. Sie haben nicht bemerkt, dass er plötzlich fort war.«
Das Fest hatte nur einen Zweck: die Dorfbewohner ruhig zu halten, während die Wächter mit Argusaugen wachten. Doch der Schutz war dünn – der Wald blieb eine ständige Bedrohung.
Und die Angst, dass auch Lyssa dasselbe Schicksal ereilen könnte wie Jona, schnürte Sloan die Kehle zu. »Ich weiß«, sagte er schließlich, wohlwissend, dass nur ein Fehltritt zu spät sein könnte. »Doch der Wald und seine Schatten werden heute niemanden holen. Dafür sorge ich.«
In der Ferne drangen die Stimmen der Dorfbewohner zu ihnen herüber, gedämpft, doch nervös. Die Lichter flackerten unruhig, als spürten sie die wachsende Angst.
»Die anderen Wächter sollten längst in Position sein«, sagte Sloan, seine Stimme wurde schärfer. »Ich muss zu ihnen, an die Grenze.«
Die Nacht war dunkler als je zuvor, und er wusste nicht, welche Worte ihm noch blieben. Alles, was blieb, war der Schmerz – sie anzusehen und zu wissen, dass sie für ihn unerreichbar war.
Gerade wollte Sloan sich abwenden, doch sie hielt ihn zurück. »Warte.« Lyssas Finger schlossen sich um seine, die Umgebung flackerte – die Barriere.
Ein gewitterähnliches Beben durchzog die Luft.
Die Stimmen aus dem Wald wurden lauter, als wollten sie die Nacht zerreißen.
Doch Lyssa ignorierte das Chaos. Ihr Blick blieb fest auf Sloan gerichtet. »Wir könnten von hier fortgehen. Nur dieses eine Mal.«
Er spürte einen bitteren Stich. »Und was ist mit den anderen? Was ist mit ... Yvie?« Seine Stimme zitterte. Es gab keine Rettung – nicht für Lyssa, nicht für ihn. Nicht für sie beide, ohne unzählige Opfer. »Du bist zu wichtig für das Dorf. Wenn du es verlässt, wird die Außenwelt über sie hereinbrechen, und sie werden sterben. Du bist ihre einzige Hoffnung, Lyss.«
Ihre Finger klammerten sich an seinen Arm, als könnten sie Halt finden. »Aber was, wenn die Barriere ohnehin bricht?« Ihr Blick fiel auf den schwarzen Ring – das Symbol auf seiner Haut, das beständig war. Beständiger als sie. »Was, wenn unser Untergang unvermeidlich ist? Was, wenn es schon heute passiert?«
Wie auf Kommando zerriss ein Knall die Nacht. Ein geisterhaftes Gewitter, das über ihnen zerschellte, als prasselten unsichtbare Scherben herab.
Die Barriere. Wieder.
Sloan taumelte, nicht nur körperlich – auch seine Gedanken gerieten ins Wanken. »Wie meinst du das?«
»Ich sagte doch, ich hatte gehofft, du würdest heute nicht hier sein ... beim letzten Fest, an dem die Barriere bricht.« Ihre Stimme war leise, doch die Worte trafen ihn wie Donner.
Lyssa hob eine Hand, und ein schimmernder Lichtfaden entstand zwischen ihren Fingern. Sanft tanzte er, wuchs und legte sich schließlich wie ein schützendes Band um Sloans Hand. Dann verschwand er, floss in seine Haut und wurde wieder das Tattoo, das es zuvor gewesen war. Für einen Moment schien es, als wolle sie ihn damit beruhigen, ihn halten, bevor alles um sie zerbrach.
Und dann wusste er es wieder – die Barriere durfte nicht fallen. Es waren Lyssas Augen. Sie glühten, voller Magie, wunderschön und gefährlich zugleich. Sie war der Grund, warum Wesen wie sie hinter der Barriere verborgen bleiben mussten.
Sloan dachte an das Dorf. An Yvie.
An all jene wie Lyssa – die er um jeden Preis schützen musste.
Und der Gedanke, dass der Wald noch lange nicht das Ende aller Gefahren war, verließ ihn nicht.
Dann kam die Schwärze – explosiv. Unverhofft. Sloan zwang sich, die Augen zu öffnen. Plötzlich stand er am Rand des Waldes. Lyssas Magie hatte ihn dorthin gebracht.
Und dann war es wieder da – jetzt ganz nah.
Das Singen.
Es durchdrang die Dunkelheit, lauter und schräger als zuvor aus der Ferne. Sloan spürte, wie das Blut in seinen Adern gefror. Neben ihm stand Lyssa regungslos, gefährlich dicht an der Grenze, während die Glühlichter über ihren Köpfen bunt im Rhythmus des unheimlichen Gesangs flackerten.
»Die Seelen haben noch nie so früh gesungen«, murmelte sie, den Blick fest auf die Lichter gerichtet. »Sie hören nicht auf.«
»Zurück!« Sloan trat vor Lyssa, schob sie hinter sich. Sie hatte das Rascheln hinter den Bäumen nicht bemerkt. »Sie sind schon längst hier«, knurrte er, seine Stimme angespannt und tief.
Er spürte es genau. Die Kreaturen waren da – sie gehörten zum Wald, bewegten sich mit ihm und schlugen zu, schneller, als man reagieren konnte. Normalerweise verliefen die Feste glimpflicher – doch diesmal war alles anders.
Sloan erkannte die Fackeln der anderen Wächter in der Ferne – ein schwacher Lichtblick. Doch sie waren noch nicht hier. Und wie er selbst waren sie nicht auf das vorbereitet, was kommen würde.
»Deine Gefährten sind zu weit weg. Und die Waldläufer kommen zu schnell, sind zu nah!« Lyssas Stimme bebte. »Die Barriere wird schwächer. Du musst es doch spüren!«
»Warum ist sie so schwach?« Sloans Stimme zitterte, während er das Schwert von seinem Rücken riss und die Augen fest auf die Schatten heftete.
Die kalte Luft schnitt scharf in ihre Lungen. Brennend. Begleitet von einem Gesang – unheilvoll und schrill, wie ein dunkles Omen.
»Dieser Lockruf ... er zieht nur noch mehr von ihnen hierher,« flüsterte sie, als hätte sie Angst, die Worte laut auszusprechen.
Sloans Blick flog über die Bäume. Es schien, als würde sich die Dunkelheit dahinter immer schneller bewegen.
Er hielt das Schwert fester. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. »Euer Schutz – er wird wirklich fallen.«
»Ja, ich spüre es. Eindeutig«, sagte Lyssa leise. »Die Barriere hält nicht mehr lange. Und wenn sie fällt...« Sie ließ den Satz offen.
Sloan wusste, was das bedeutete.
Das war der Grund, warum die Wächter jedes Jahr hierher kamen.
Doch dieses Mal war es anders.
Dieses Mal war er hier, weil sie hier war.
»Die Grenze muss sofort gesichert werden«, seine Stimme klang fester, als er sich fühlte. »Du darfst nicht hier sein, Lyssa. Geh. Sofort!«
»Ich bin mit der Barriere verbunden«, sagte sie bitter und lächelte. »Du weißt, dass ich bleiben muss.«
Im nächsten Augenblick riss ein Schatten durch die Nacht - schnell, lautlos.
Lyssa keuchte.
Doch bevor Sloan reagieren konnte, zerrte sie etwas zur Seite. Heftig. Unbarmherzig. Ihr Schrei, kurz und scharf, durchschnitt die Stille. Dann das gleißende Aufblitzen von Krallen, die ihr Fleisch aufrissen.
Lyssa krachte zu Boden.
Blut sickerte aus einer tiefen Wunde an ihrer Seite und färbte den Schnee unter ihr rot.
Eine Gestalt aus dem Wald war durch den Schutz gedrungen - einfach so, als wäre er nicht mehr da.
Sloan starrte für einen Moment auf die Szene, bevor er endlich reagierte. Sein Herz raste, sein Atem stockte. Während aus ihrer Kehle nur noch ein ersticktes Stöhnen drang.
»Lyssa!« Sloans Schrei zerriss die Nacht, verklang erst, als er mit einem schnellen Schlag dem Waldläufer den Kopf abtrennte.
Schwer atmend fiel er vor ihr auf die Knie. Blut strömte unaufhaltsam aus einer Wunde an ihrer Seite. Er presste seine Hände darauf, verzweifelt versuchend, es zu stoppen.
»Shh. Shh. Es ist zu spät«, flüsterte die andere Hälfte seines Herzens, während ihre Augen glitzerten. »Ich bin zu schwach.«
Sloan packte ihre Schultern, schüttelte sie, als könnte er ihre Worte einfach wegwischen. »Nein! Das ist noch nicht das Ende! Hörst du mich? Wir halten das auf!«
Ein markerschütternder Knall zerriss die Nacht. Ein roter Blitz flammte am Horizont auf – groß, drohend, pulsierend wie ein Herzschlag.
Doch er verschwand nicht.
Es war ein Riss in der Barriere.
Ein Sturm aus Dunkelheit raste über sie hinweg, gefolgt von einem Heulen – roh und gierig, wie die Stimme des Waldes selbst. Die Waldläufer hatten ihre Chance gewittert. Der Tod stand ihnen im Nacken, lauernd im Schatten des Waldes.
Sloan rührte sich nicht. Bei ihr zu sein – das war alles, worauf er ein Jahr lang gewartet hatte, auch wenn es alles zerstören würde, was er geschworen hatte zu schützen.
Das Dorf. Sein Eid.
Doch das war jetzt egal.
Er war bei ihr, das eine Mal im Jahr.
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