16 | »Spuren im Schnee« von mariethegenius

»Spuren im Schnee«

Eine Kurzgeschichte aus dem Genre Romantik von mariethegenius

Triggerwarnungen: Keine

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Ich folgte ihren Spuren im Schnee. Sie führten mich an einen bekannten Ort. Das Waldstück ihrer Familie - ein Ort meiner Kindheit. Wie oft ich hier war. Wie oft ich mit ihr gemeinsam durch den Wald strich. Ihr Lächeln ansah. Wie oft wir im Sommer zur Abkühlung von den warmen Sonnenstrahlen, die trotz der Bäume über uns auf unserer Haut brannten, in dem kleinen Bach schwammen. Wie oft ich danach neben ihr auf einer Decke lag und beobachtete, wie die Sonnenstrahlen über ihre zarte Haut tanzten. Und wie oft ich ihr in den Momenten, in denen wir uns beinahe küssten, meine Liebe gestehen wollte, aber aus Angst bei beidem einen Rückzieher machte. Doch diese Zeiten sind nun vorbei. Der Bach war eingefroren und mir haben die Folgen meines Herzfehlers mittlerweile aus dem Leben gerissen, weswegen ich mit dem trostlosen Dasein als Geist, der stets zum ersten Schneefall aus seinem Todesschlaf erwachte, vorliebnehmen musste.

Anstatt weiter Trübsal über die verlorene Liebe zu blasen, erhob ich mich in die Lüfte auf den Weg zu ihr. Ich hatte schließlich noch was vor. Würde ich noch leben, könnte ich die kalte Luft des Fahrtwindes spüren, die mir mit aller Kraft übers Gesicht peitschte. Allerdings spürte ich nichts, meine Empfindungen waren wie in Watte eingehüllt. Ja, das meiste konnte ich wahrnehmen. Gleichzeitig war da noch die Hülle aus Watte, die mich schmerzlich daran erinnerte, dass da ein unüberwindbarer Graben zwischen mir und den Lebenden existierte.

Während ich durch die Gegend flog, verfolgte ich die Schneespuren aufmerksam. Nach einiger Zeit führten sie zu der knorrigen Eiche, unter deren Schatten sie, also Olivia und ich, auf einer ausgebreiteten Picknickdecke sitzend jeden Sommer unsere Nachmittage verbrachten. Dort wäre es auch beinahe geschehen - mein Liebesgeständnis. Normalerweise dichtete ich nicht, aber für sie tat ich es inbrünstig. Eins dieser Gedichte las ich ihr auch vor.

"Derjenige, an den du das Gedicht gerichtet hast, kann sich richtig glücklich schätzen", lobte sie meine Verse. Niedergeschlagen musste ich feststellen, dass Olivia es nicht verstanden hatte. Ich hatte diese Verse nicht für irgendwen geschrieben, sondern mein ganzes Herzblut für sie reingesteckt. Hätte ich nur gesagt: "Dieser irgendwer, das bist du, Olivia. Dich liebe ich von ganzem Herzen." Habe ich aber nicht getan. Wofür ich mich noch heute verfluche.

Nach und nach kam ich wieder in der Realität an. Unter diesem Baum saßen nicht mehr die 16-Jährige Natalie und die ein knappes Jahr ältere Olivia, sondern unter dieser Eiche, an deren Äste schon die Eiszapfen herunter hingen, stand Olivia mit ihm. Er hatte auch einen Namen: Alexander.

Schon immer war Alexander mir ein Dorn im Auge. Weil er der Sohn des besten Freundes von Olivias Vater war, strich er auch gerne mal durch dieses Waldstück. Damals war er besonders gut darin, jeden schönen Moment, den ich mit Olivia hatte, zu zerstören. Jedes Mal, wenn Olivia und ich uns beinahe küssten, kam er um die Ecke und wurde zum Zentrum Olivias Aufmerksamkeit. Doch nun musste er mich nicht mehr aus dem Wege drängen, denn sie war jetzt da. Er war derjenige, der sie zum Lachen brachte. Er war derjenige, der in ihre himmelblauen Augen sah, während er ihr eine Strähne ihres glänzend schwarzen Haares aus dem Gesicht strich. Er war derjenige, der mit seinem Daumen über ihre Wange fuhr, die von Sommersprossen - wie dem Nachthimmel von Sternen - bedeckt wurde. All das hätte ich eigentlich tun sollen. Ich hätte stehen müssen, anstatt seiner. Dem war aber nicht so. Nach weiterer Zeit des Trübsals schwebte ich gerade auf einen Eiszapfen zu, der genau über Alexanders Schulter hing. Ich schnippte gegen diesen Eiszapfen, in dem Wissen, dass dieser Eiszapfen mit einem lauten Platschen auf seinem ach so teuren beigen Mantel landen würde. Alexander aber ging aber einige Schritte zur Seite und zog Olivia sachte mit sich, wodurch der Eiszapfen im tiefen Schnee versank. Erzürnt über meinen Misserfolg fluchte ich wie ein Bierkutscher.

„Das war knapp. Der hätte dich treffen können", sagte Alexander mit einem fürsorglichen Unterton, den ich noch nie in der Art von ihm gehört hatte. Olivia bedankte sich darauf bei ihm mit einem Strahlen im Gesicht, dass sie mir nie geschenkt hatte. Da war wieder dieser Gedanke.

„Ich müsste da eigentlich sein!", schrie mein Unterbewusstsein. Schreien, das hätte ich auch gerne getan. Ich wollte mich einfach nur meiner Gefühle entledigen. Wieder Frieden empfinden. Obwohl mich eh niemand gehört hatte, entschied ich mich dagegen, denn Schreien hätte doch eh nichts verändert. Stattdessen entschied ich mich dazu, ihnen weiter zu folgen. Nach einiger Zeit liefen sie los. Ich einige Schritte hinter ihnen. Abgesehen von einigen Vögeln, die hin und wieder ihr Lied sangen, herrschte Stille, sodass ich neben den Gesprächen von Olivia und Alexander das Knarzen des Schnees unter ihren Füßen hören konnte. Nur knarrte der Schnee nicht unter meinen Füßen. Wütend musste ich einsehen, dass mir selbst dieser Teil des Winters genommen wurde. Überschwemmt von angestauter Wut lief ich weiter stillschweigend hinter ihnen her. Der Weg, den wir liefen, kam mir nur allzu bekannt vor. Er führte direkt zu der kleinen Waldhütte, in der wir damals immer Weihnachten gefeiert hatten. Ergab ja auch irgendwie Sinn: Heute Abend wurde schließlich Weihnachten sein.

Nach einiger Zeit sind wir endlich angekommen. Diese Hütte erfüllte jedes Klischee, das man über Hütten dieser Art hoben konnte. Großes Satteldach, Ballon an der Front mit Heide im Balkonkasten, im Haus Holzpanelen an der Wand sowie Parkett als Boden und hin und wieder war dieser Parkettboden von ein weinrot-royalblauen Perserteppichen verdeckt. Vom Wohnzimmer aus wärmte ein Kamin das ganze Haus. Ich sprach ja von Klischees. Nachdem Olivia und Alexander gemeinsam die Hütte betreten hatten, folgte ich ihnen, indem ich durch die Tür schwebte.

Sie ließen sich im Wohnzimmer nieder. Nach einer Weile begannen sie schließlich, das Haus für den morgigen Tag zu dekorieren. Wobei das auch nicht ganz der Realität entsprach. Vielmehr waren sie damit beschäftigt, sich während des Dekorieren sich gegenseitig die Liebe zu beweisen. Jedes Mal, wenn ich die Worte "Schatz, ich mach das schon." hörte, drehte sich mir der Magen um. Wie ein Brand entfachte die Wut in mir. Blinde, alles verschlingen wollende Rage, die mein Blut zum Kochen brachte. Am liebsten wäre ich Alexander an die Gurgel gegangen und hätte ihn eigenhändig erwürgt. Irgendein Gefühl in ­mir - wahrscheinlich das letzte bisschen Vernunft in mir, das nicht von Gefühlsregungen vereinnahmt wurde - hielt mich jedoch davon ab. Allerdings langte ich innerhalb von Sekunden in die Kiste mit den Baumkugeln, die neben mir standen, und warf sie mit voller Wucht nach Alexander. Sie traf ihn aber nicht, sondern zerschellte laut klirrend auf dem Parkettboden. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag spürte ich diese unaufhaltbare Wut. Schon zum zweiten Mal konnte ich ihr nicht vernünftig Luft machen.

Schnell stand ich auf. Wenn ich mich schon nicht rächen konnte, dann wollte ich wenigstens meine Zeit an einem Ort verbringen, an dem ich mir nicht die Turteleien zwischen Olivia und Alexander anschauen musste, sondern mich wohlfühle. Mit geradem Schritt marschierte ich nach draußen. Auf den kleinen Schafstall hinter der Hütte zu. Schon lange hielt Olivias Familie eine kleine Herde von Ouessantschafen, da sie sich mit Leidenschaft für den Erhalt geschützter Arten einsetzten.

Die Stalltür knarrte, als ich sie öffnete. Vor mir sah ich nun sechs kleine Schafe liegen, die sich dicht aneinander gekuschelt hatten. Ich konnte nicht anders als zu lächeln. Dieser Anblick brachte schöne Erinnerungen zurück. Ich ließ mich schließlich neben einem der Schafe nieder. Große Schafsaugen sahen mich an. So als könnte es mich sehen, obwohl ich eigentlich nicht da war. Angespornt dadurch versuchte ich, dem Schaf durch die Wolle zu streichen. Es funktionierte allerdings nicht. Die Wolle blieb so, wie es war. Es war, als würde nur ein leichter Luftzug an ihm vorbeistreifen, was mich schmerzlich daran erinnerte, dass ich nie wieder ein Teil dieser Welt sein würde. Auf diese Art und Weise verweilte ich nun einige Zeit. Gedanken strichen durch meinen Kopf. Sowie Erinnerung aus meinem vergangenen Leben. Wie oft ich hier damals saß und Zeit mit den Schafen verbrachte. Wie oft Olivia dann hin und wieder hereinkam.

„Natalie, ich dachte du könntest neben den Schafen noch etwas Gesellschaft brauchen", flüsterte sie und lehnte sich dann an meiner Schulter an.

Beinahe meinte ich, das Knarren der Tür zu hören, mit dem Olivia den Stall betrat. Das Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Erschrocken sah ich hoch. Da stand tatsächlich Olivia. Sie sah mich geradezu an, als wusste sie ganz genau, dass ich hier saß. Meine Wangen wurden heiß. Als würden sie unter Olivias Blicken versenken.

Fast wie gezielt setzte sie sich neben mich. Ich versuchte mich gleichzeitig davon zu überzeugen, dass ich mir das alles doch nur einbilden würde. Für einige Zeit verweilten wir so. Doch aus dem Nichts legte sie ihre Hand auf meiner Schulter ab. Vor Schreck kam ein kleiner Schrei über meine Lippen. Davon schrack Olivia hoch. Hatte sie mich gehört? Ich wunderte mich dir eine Weile darüber. Da sie aber die restliche Zeit schwieg, ging ich davon aus, mich geirrt zu haben.

Nach einer Weile seufzte sie und fing an zu sprechen: „Natalie, ich weiß, dass du da bist." Ich glaubte, ich sei verrückt geworden

„Du weißt, dass ich hier bin?", fragte ich ungläubig. Allerdings ging davon aus, dass ich sowieso keine Antwort kriegen würde. Da täuschte ich mich aber.

„Ja", bestätigte sie, „Ja, ich kann dich sehen, Natalie."

„Wie?", ich war verwirrter als zuvor.

„Jeder, der einen Toten geliebt hat, kann ihn sehen", erklärte sie. Unkontrolliert stieg Wut in mir auf.

„Du hast mich geliebt und es mir nie gesagt?!", schrie ich.

„Ja, ich hab dich geliebt. Ich habe es dir nur nie erzählt, weil ich Angst hatte, dass das unsere Freundschaft zerstören könnte", ihr Ton war ruhig, aber ich konnte genau spüren, dass sie den Tränen nahe war.

„Du hattest so viel Angst unsere Freundschaft zu zerstören, dass du nach meinem Tod dich direkt an Alexander rangeschmissen hast. Fast schon als hättest du darauf kalkuliert", mein Blut kochte für Wut. Meine Gefühlswelt war ein einziges Chaos. Hass stieg in mir für einen Menschen auf, den ich einst so geliebt hatte.

„Nein, Natalie, so war das nicht. Wir wussten nicht, dass du einen Herzfehler hattest", ihr liefen die Tränen runter. Sie wirkte fast schon verzweifelt.

„Ihr wusstet es nicht, weil es euch nie interessiert hat. Selbst als ich mal beinahe draufgegangen bin, hat euch der genauere Grund nie interessiert. Und jetzt weinst du, als wärst du hier die Arme in der Situation. Als hätte man dir die Möglichkeit genommen, jemals Liebe zu empfinden und erwidert zu bekommen. Als könntest du nicht mehr den Wind spüren, als könntest du nicht mehr weltliche Sachen berühren. Als hätte man dir alles genommen. Dem ist aber nicht so. Viel Glück mit Alexander", ich stand auf und schwebte davon. Mein Herz raste und mein Körper fühlte sich tauber an als sonst. Nach einiger Zeit sah ich eine kleine ruhige Lichtung. Dort ließ ich mich nieder. Wahrscheinlich ging das Geturtel in der Hütte weiter.

Die Zeit verging. Der Wind rauschte durch die Tannen und über meinen Kopf hinweg.

„Vielleicht muss es so sein", sagte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich in die Richtung, aus denen die Worte kamen. Vor mir stand eine Frau in meinem Alter. Sie war größer als ich, hatte langes blondes Haar und eisblaue Augen, die mich in eine Art Bann rissen.

„Du musst sie hinter dir lassen. Sonst wirst du nie Frieden in dir entwickeln. Komm mit mir", wies sie mich an und deutete mit dem Kopf in Richtung des Baches, „Ich bin ein Geist, genau wie du. Einige von uns wollen morgen dort Weihnachten feiern. Sie warten schon auf dich."

Wie magisch angezogen, folgte ich ihr. Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht war es besser loszulassen.

Der Fußmarsch fühlte sich lange und gleichzeitig so kurz an. Schließlich waren wir angekommen. Und dort saßen sie alle um einen mit Tannenzapfen geschmückten kleinen Baum. Alte, junge, kleine und große Geister. Ich ließ mich direkt neben dieser mysteriösen Frau nieder.

Vielleicht wird ja alles gut, dachte ich, Hoffentlich geht es Olivia gut. Vielleicht komme ich über sie hinweg.

Doch mein Augenmerk lag auf der Weihnachtsfeier, die mir bevorstehen würde. Lächelnd sah ich in die Richtung der mysteriösen Frau. Sie erwiderte das Lächeln und legte ihren Arm um mich. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich Wärme. Zum ersten Mal seit langer Zeit war ich glücklich.

ENDE

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