14 | »Das verlassene Skigebiet« von Tegnaja

»Das verlassene Skigebiet«

Eine Kurzgeschichte aus dem Genre Mystery/Thriller von Tegnaja

Triggerwarnungen: Keine

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„Warum sind wir eigentlich hier und nicht wie jeder normale Mensch drüben in Schneeheim?"

„Weil da ungefähr zehntausend andere Menschen auch sind und wir hier zumindest entspannt fahren können."

„Aber es ist gruselig hier!"

Entnervt schaue ich meine beiden Freunde an. Da ist selbst keine wirkliche Meinung zu dem Thema habe – Hauptsache wir fahren Ski – war es mir egal, ob wir nun in das Hauptskigebiet der Umgebung oder hierher fahren.

Hierher bedeutet, dass wir die einzigen Menschen weit und breit auf der verlassenen Skianlage vor uns sind. Und, dass es vermutlich nicht ganz legal ist, hier zu sein.

„Es gibt nicht mal einen verdammten Skilift, wir müssen jedes Mal den Berg hoch laufen!"

„Das sagst du nur, weil du absolut keine Ausdauer hast! Außerdem dauert der Weg höchstens zehn Minuten."

Tatsächlich dauert der Weg 22,3 Minuten. Ich habe die Zeit gestoppt.

Natürlich werfe das nicht ein, schließlich will ich diese hitzige Diskussion nicht noch weiter vorantreiben.

„Zehn Minuten, dass ich nicht lache. Wir laufen mindestens eine Stunde bis nach oben!"

„Dafür müssen wir auch keine Stunde warten, bis wir endlich runter fahren können!"

„Leute", mische ich mich ein, „Leuteee."

Wie durch ein Wunder schauen die beiden Streithähne mich sogar an und schließen ihre Münder.

„Das ist doch jetzt scheißegal. Jetzt sind wir hier und wir können jetzt entweder nochmal hoch und fahren, oder wir lassen es bleiben, weil es gleich sowieso dunkel wird. Euer Streit bringt uns gar nichts."

„Wir streiten nicht, wir diskutieren nur", kommt die Antwort unisono.

Manchmal frage ich, wie die beiden eigentlich befreundet sein können. In Anbetracht der Tatsache, dass sie jede freie Millisekunde damit verbringen, mit der anderen Person zu diskutieren, sieht es von außen eher so aus, als würden sie einander auf den Tode nicht leiden können.

Aber entweder haben sie beide das Konzept von Freundschaft noch nicht so ganz verstanden, oder sie haben einfach eine sehr seltsame Art Liebe auszudrücken.

Ich tippe auf beides.

Und dann bin da ich, die dritte im Bunde. Eigentlich bin ich die, die anders ist als die beiden und von der man erwarten würde, dass es zu Konfliktpotenzial kommt.

Allein die Tatsache, dass ich weiblich bin und sie männlich, ist laut Amy, meiner Nachbarin und Freundin, schon Unterschied genug.

Aber anscheinend hatte Gott, Satan, oder wer auch immer das bestimmt hat, andere Pläne für uns und so bin ich es, die regelmäßig als Streitschlichterin fungiert, damit sich niemand verletzt.

Okay, das ist vielleicht übertrieben, bis jetzt hat sich noch nie jemand verletzt. Und meistens sind Max und Finn ja eigentlich ganz lustig.

„Ok, also dürfen wir jetzt wieder einen Marathon laufen, nur um einmal runterzufahren!"

„Es ist kein Marathon, es ist höchstens ein Hundert-Meter-Lauf."

„Hey, Max, Finn, es reicht jetzt wirklich! Streitet, diskutiert, oder was auch immer zuhause weiter, ich will jetzt Sport machen!"

Manchmal fühle ich mich, als wäre ich mit zwei Kleinkindern unterwegs, die rein zufällig auch meine besten Freunde sind.

„Sorry", sagt Max, „Dann gehen wir eben nochmal den Berg hoch."

„Sag ich doch", entgegnet Finn.

Bevor es zu einem erneuten Streit kommen kann, laufe ich vor den beiden her und folge dem schmalen Pfad, der sich ineffektiv in weiten Bögen den Berg hochzieht.

Vereinzelt stehen an der Seite Bäume, oben beginnt dann der eigentliche Wald. Max hat recht, es ist unheimlich hier.

Der Lauf nach oben ist zäh und anstrengend, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass ich nun schon zum neunten Mal heute hier hoch marschiere. Vielleicht kann ich Max doch etwas verstehen.

Finn beginnt, über den Computer zu reden, den er sich gerade zusammenbaut und erzählt irgendwas von einer fehlenden Grafikkarte oder so.

Wobei, so fehlend kann sie gar nicht sein, denn anscheinend funktioniert sein PC ja, und das würde er ja nicht ohne Grafikeinheit, oder?

Jedenfalls bin ich dann komplett raus, als er beginnt, uns die Leistungen seines Monitors in Pixeln und Herz darzustellen.

Was Computer angeht erfülle ich jegliche weiblichen Klischees und bin absolut unfähig. Ich weiß ja nicht einmal, wie mein WLAN-Router funktioniert.

Irgendwann ändert sich das Thema zum Glück und plötzlich geht es weniger um Computer als um die kommenden Bundestagswahlen und da kann ich zumindest mitreden.

Endlich erreichen wir die Anhöhe.

„Nur noch durch den Wald", erklärt Finn eine Spur zu motiviert, während Max entgeistert in den Himmel schaut.

„Wann ist es bitte so dunkel geworden?", fragte er. Ich meine, in seiner Stimme eine Spur von Angst zu hören, aber ich kann mich auch täuschen.

„Müssen wir durch den Wald gehen? Das ist verdammt gruselig zu der Uhrzeit."

Jap, definitiv Angst.

„Sei kein Angsthase", gibt Finn seinen Kommentar ab, „du hast zu viele Horrorfilme gesehen."

„Ihr könnt nicht abstreiten, dass der Wald bei Nacht gruselig aussieht!"

Tatsächlich würde auch ich nicht alleine durch diesen Wald gehen, aber immerhin sind wir zu dritt. Außerdem ist mir der Weg eigentlich egal, mir geht es um das Ziel – die Abfahrt. Also zucke ich mit den Schultern.

„Es ist nur ein Wald."

Ich muss nicht erwähnen, dass Finn sehr schlecht darin ist, anderen Leuten Mut zuzusprechen.

Unsere kleine Gruppe setzt sich wieder in Bewegung, zügiger als vorher. Ein richtiges Gespräch will auch nicht mehr in die Gänge kommen.

Ich beobachte die ausladenden Bäume um mich herum, die wirklich etwas einschüchternd wirken. Eigentlich laufen wir durch die perfekte Horrorfilm-Kulisse.

Bis auf das Knacken, das bei jedem unserer Schritte ertönt und das Rauschen der Blätter im Wind ist es komplett still. Fast beginne ich, die Ruhe zu genießen, als Max abrupt stehen bleibt.

„Habt ihr das gesehen?", höre ich Panik in seiner Stimme mitschwingen. Also drehe ich mich um und beobachte meine Umgebung aufmerksam.

„Da ist nichts."

„Doch. Ganz sicher. Hinter uns."

Ich blicke nochmal hinter mich.

„Da ist nichts."

Die ganze Situation ist mir suspekt, jetzt fühle ich mich auch unwohl und vor allem beobachtet.

Finn zuckt mit den Schultern und läuft weiter.

„Vielleicht hat er Slenderman gesehen", flüstert er mir lachend zu.

„Das ist nicht witzig", empört sich Max, der ihn natürlich verstanden hat.

Ich will diesen verdammten Wald einfach nur noch hinter mich bringen. Den anderen scheint es zum Glück genauso zu gehen, denn fast schon rennend stapfen wir durch die Blätter und Äste auf dem Boden.

Über uns schaukeln die Äste bedrohlich und es fühlt sich ein bisschen so an, als wären wir in einem Horrorfilm.

Weil ich einen Ohrwurm habe – und um mich abzulenken, auch wenn ich das natürlich nicht zugeben würde – pfeife ich ein Lied, das ich auf der Hinfahrt erst im Radio gesehen habe.

Mein Blick ist stur geradeaus gerichtet und ich versuche, mich auf den etwas moderigen Geruch des Waldes zu konzentrieren, den ich normalerweise so liebe.

Plötzlich bleibt Finn neben mir stehen und ohne mich zu drehen, weiß ich, dass etwas nicht stimmt.

„Wo ist Max?"

Frage ich genau im gleichen Moment wie er. Wir sehen uns an und zum ersten Mal an diesem Abend kann ich so etwas wie Panik in seinen Augen erkennen.

„Er war gerade noch neben mir."

Finns Stimme zittern ein bisschen und sein Kopf schwenkt hin und her, auf der verzweifelten Suche, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, irgendwas.

Doch hier ist nichts.

Keine Spur von Max, unserem besten Freund.

Dem besten Freund, der abends in einem dunklen, gruseligen Wald verschwunden ist und vielleicht nie wieder auftaucht.

„Wir müssen ihn suchen."

Auch meine Stimme ist brüchig, auch wenn ich mein Bestes gebe, um möglichst gefasst zu wirken. Wenn ich jetzt einen Nervenzusammenbruch kriege, bringt das auch niemandem etwas.

„Ok. Am besten teilen wir uns auf, dann können wir mehr auf einmal ablaufen", schlägt Finn vor.

Ein hysterisches Lachen entweicht meinem Mund und ich schaue ihn entgeistert an.

„Du willst, dass wir nachts alleine im Wald rumlaufen? Obwohl hier vielleicht noch eine Person ist, die wir nicht kennen und die Max eventuell etwas angetan hat? Hast du noch nie einen Horrorfilm gesehen? Alle die sich aufteilen, sterben."

„Nach der Logik stirbst du sowieso, weil du etwas Weißes an hast und man das Blut darauf am besten sieht", kontert Finn und deutet auf meine Jacke. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Scheiß Übersprungshandlung.

„Aber meinetwegen können wir zusammenbleiben", erklärt mir Finn und legt gönnerhaft seinen Arm um meine Schultern. Mein Herzschlag normalisiert sich etwas.

Zumindest, bis ich das laute Knacken hinter uns höre.

Ich spüre, wie Finn neben mir zusammenzuckt. Mein Herz springt förmlich aus meiner Brust, als ich mich langsam umdrehe, unwissend, was mich dort erwartet.

Dort ist er.

Der Schatten, von dem Max uns erzählt hat. Unserem angeblichen Verfolger. Hätten wir ihm doch bloß geglaubt.

Einige Sekunden starrt die Person, zumindest gehe ich davon aus, dass sie menschlich ist, uns an. Obwohl ich es so sehr versuche, kann ich meinen Blick nicht von ihr reißen.

Jeden Moment könnte der Schatten mit einer Waffe auf uns zu rennen. Oder uns erschießen. Oder schlimmeres.

Dann wendet er sich ab, huscht davon. Mit wenigen, schnellen Schritten verschwindet er zwischen zwei Bäumen.

Mir läuft es kalt den Rücken hinunter.

Finn löst langsam meine Finger, die sich in seinen Arm gekrallt haben.

Ich will mich entschuldigen, aber ich bin unfähig auch nur ein Wort zu sagen. Stumm schaue ich ihn an, in der Hoffnung, dass er irgendwas von dem, was ich ihm sagen möchte, versteht.

Ein Blick sagt mehr als tausend Worte oder so.

Wir laufen weiter. Müssen wir schließlich. Wir müssen Max finden, müssen endlich aus diesem verdammten Horrorwald.

Und ich bin mir sehr sicher, dass wir verfolgt werden. Ich kann niemanden sehen. Oder hören. Aber ich spüre die Blicke, die sich in meinen Rücken bohren.

Finn scheint es neben mir genau so zu gehen wie mir, genau wie ich schaut er alle paar Sekunden über die Schulter.

Ich will einfach rennen. Rennen, bis wir diesen beschissenen Wald hinter uns gelassen haben. Aber ich kann nicht. Denn wir müssen Max finden.

Ich bin wütend auf ihn und das ist so egoistisch, aber ich kann nicht anders. Wäre er nicht verschwunden, wären wir schon längst hier raus.

Den sicheren Pfad haben wir längst verlassen, immer tiefer wagen wir uns ins Unterholz des Waldes. Der Wind zieht kalt über meine Haut. Niemand von uns sagt etwas, still hängen wir unseren eigenen, schicksalhaften Gedanken nach, obwohl wir uns insgeheim vermutlich das Gleiche wünschen.

Und dann steht er vor uns.

Ich habe keine Zeit zu reagieren, zu schreien, zu flüchten, irgendetwas zu tun. Ich bin regungslos. Gefangen.

Stumm und voller Entsetzen starre ich ihn an. Den Schatten.

Seine Augen sind dunkel und sie mustern mich. Wie seine Beute.

Er hebt seine Hand. Ich kann nicht sehen, ob er etwas darin hält.

Noch immer bin ich wie gelähmt. Ich will wegrennen, irgendetwas tun, aber ich kann nicht. Ich bin eingefroren.

Nur das laute Pochen meines Herzens verrät mir, dass ich noch am Leben bin.

Und dann geht alles ganz schnell. Also noch schneller als vorher.

Ich liege auf dem Boden. Mein Kopf dröhnt, mir ist kalt, nur langsam spüre ich meine Gliedmaßen wieder.

Der Schatten beugt sich über mich, hält mir seine Hand hin.

Hinter ihm stehen Max und Finn, betrachten mich besorgt.

Ich schließe meine Augen. Ich öffne meine Augen.

Wie in Trance nehme ich die Hand, die vor meiner Nase baumelt. Sie fühlt sich angenehm an, sanft und weich. Ich kenne diese Hand.

Ich kenne auch den Schatten, der mich durchdringend mustert. Auch er wirkt besorgt. Besorgt um ... mich.

„Tut mir leid", sagt der Schatten, der in Wirklichkeit mein Bruder ist.

Ich bin nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen oder zu tun. Ich lehne mich an einen Baumstamm. Einatmen, ausatmen.

Es ergibt alles Sinn. Warum wir hier sind. Warum Finn so cool geblieben ist. Warum er nicht direkt bemerkt hat, dass Max weg war.

„Das ist echt ... nach hinten losgegangen."

Ich kann noch nicht ganz zuordnen, wem die Stimme gehört.

„Eigentlich sollte es nur ein Scherz sein, nur ein dummer Scherz. Quasi eine Art Weihnachtsüberraschung. Also, dass dein Bruder hier ist. Aber deine Panikattacke war auf keinen Fall geplant, wir haben damit nicht gerechnet, wir wussten nicht, dass das passiert. Wir wussten auch nicht, was wir dann tun sollten. Gott, es tut mir so leid, wenn ich das gewusst hätte. Nein, ich hätte es wissen sollen..."

Ich winke ab.

Ich weiß nicht, wieso ich ihnen so schnell verzeihe. Vielleicht will ich jetzt gerade einfach nur inneren Frieden haben. Es ist schließlich Weihnachtszeit.

Vielleicht habe ich die gesamte Situation noch immer nicht ganz realisiert.

Vielleicht bin ich sehr froh, meinen Bruder nach drei langen Monaten endlich wiederzusehen. Ich hätte nicht gedacht, dass er es schafft zu uns zu kommen, obwohl Weihnachten ist.

Fuck.

Gerade dieses Schimpfwort beschreibt meinen Gefühlszustand am besten.

Ich werde in eine Gruppenumarmung gezogen, spüre die kalten Hände der anderen in meinem Rücken.

„Aber keine Sorge", sagt Finn, „Du kriegst auch noch ein richtiges Weihnachtsgeschenk."

ENDE

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