03 | »Zwischenzeit« von GwendolynDumbledore
»Zwischenzeit«
Eine Kurzgeschichte aus dem Genre Übernatürliches von GwendolynDumbledore
Triggerwarnungen: Trauer, Schmerz, Verlust
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Als Sophie an jenem Morgen erwachte, war das Erste, was sie sah, das Bild ihres Vaters, das auf dem Nachttisch stand. Wehleidig blieb sie zunächst im Bett liegen, zog sich die Decke bis zum Kinn und genoss die wohlige Wärme. Für einen Moment schloss sie die Augen, bevor die Erinnerung an ihren Geist drang: Heute war Weihnachtsmorgen.
Weihnachten war seit ihrer Kindheit ihr Lieblingsfest gewesen. Sophies hatte es sogar mehr gemocht, als ihren eigenen Geburtstag. Die vorangehenden besinnlichen Wochen, mit dem Duft von Gebäck und den Heimlichkeiten, die stets in der Luft lagen, hatten ihre Vorfreude auf den Tag noch gesteigert. Begeistert hatte sie Geschenke eingepackt, ihrer Mutter bei den Essensvorbereitungen geholfen und gemeinsam mit der Familie den Weihnachtsbaum geschmückt.
Doch dieses Jahr war alles anders.
Es sollte das erste Weihnachtsfest sein, dass sie ohne ihren Vater feiern mussten.
Bevor sich Tränen zwischen ihren Lidern hervorkämpfen konnten, schlug Sophie die Decke zurück, stand auf und ging zum Fenster. Als sie die Vorhänge aufzog, strahlte ihr reines Weiß entgegen. Über Nacht war der erste Schnee gefallen.
Als sie das Fenster öffnete, erklang das Kratzen der Schneeschaufeln und Sophie wurde sich dem Treiben auf der Straße bewusst. Dann nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung auf dem Bürgersteig wahr. Für einen Herzschlag pochte ihr Puls heftig bis zum Hals, doch im nächsten Moment verwandelte sich das Gefühl in eine eisige Welle der Enttäuschung. Es war nur ihr Bruder, der vor dem Haus Schnee schaufelte.
Die Welt verschwamm vor Sophies Augen.
Sie würde nie wieder ihren Vater beim Schneeräumen sehen.
Sie würde nie wieder mit ihm Schlitten fahren, eine Schneeschlacht veranstalten oder einen Schneemann bauen.
Ihr Vater war tot. Nun beinahe ein Jahr schon.
Niedergeschlagen schloss Sophie wieder das Fenster und ging ins Bad, um sich die Spuren der Tränen aus dem Gesicht zu waschen. Sie wollte es ihrer Familie durch ihren Anblick nicht noch schwerer machen.
Es war für sie alle das erste Weihnachten ohne ihn.
Der Duft von Gebäck oder anderen Speisen blieb aus, als Sophie die Küche betrat. Ihre Mutter saß am Tisch, lächelte ein etwas gezwungenes Lächeln und wünschte ihr ein leises »Frohe Weihnachten«. Sophie erwiderte den Gruß.
»Möchtest du einen Kakao?«, fragte sie und erhob sich auf das Nicken ihrer Tochter hin, um die Milch auf den Herd zu stellen.
Sophies Blick fiel ins Wohnzimmer, auf den dekorierten Tannenbaum, dessen Lichter in einem warmen Weiß strahlten.
»Er ist schon geschmückt?«, fragte sie überrascht. Die Enttäuschung breitete sich in ihr aus, kühl wie Tauwasser.
Ihre Mutter folgte ihrem Blick, gab Kakaopulver in eine große Tasse und erklärte: »Ich habe es heute Nacht gemacht, Schatz, weil ich nicht schlafen konnte ...«
Sophie antwortete nicht. Alles würde anders sein.
Als es läutete, ging sie zur Tür und hielt sich vorsichtshalber dahinter in Deckung. Jonas stellte jedoch nur die Schneeschaufel an die Hauswand und klopfte seine Schuhe ab. Dann begrüßte er seine Schwester knapp und kam herein. Für einen Moment blieb Sophie nur stehen.
Kein Einseifen, kein Drohen mittels Schneeballs und keine kalten Hände an ihrem Hals. Wo waren die Streitlust und der Schalk ihres Bruders geblieben?
»Dein Kaffee ist fertig«, rief ihre Mutter herüber.
Jonas lächelte knapp, zog sich die Winterjacke aus und trat in die Küche. Sophie blickte ihm nach, spürte die schmerzende Leere zwischen ihnen und fragte sich, wie Weihnachten je wieder Weihnachten sein sollte.
Auch der Rest des Tages verging schleppend langsam. Sophies ältere Schwester Marie kam erst am frühen Abend aus ihrem Zimmer. Gemeinsam deckten sie den Tisch und stellten schließlich das schlichte Abendessen auf.
In den Jahren zuvor hatte ihre Mutter stundenlang summend in der Küche gestanden, um ausgefallene Speisen zu zaubern. Heute gab es nur Würstchen und Kartoffelsalat.
Sie alle bemühten sich weder die Trauer noch die Enttäuschung zu zeigen. Aus dem Radio klangen leise Weihnachtslieder und Marie hatte die Kerzen des Adventskranzes angezündet. Trotzdem kam keine festliche Stimmung auf, wenngleich ihre Mutter darum bemüht war, sie alle zu unterhalten.
Doch jemand fehlte einfach.
Sophie vermied es, den Stuhl am Kopfende anzusehen. Er war leer geblieben, seit dem Tag, an dem ihr Vater verunglückt war. Es hatte ihn plötzlich aus dem Leben gerissen und die ganze Familie vor eine schier unüberwindbare Tatsache gestellt.
Keiner hatte Abschied nehmen können.
Sophie würgte den letzten Löffel des Puddings herunter und schob das Schüsselchen von sich. Als das Klirren des Bestecks verklang, war es für einen kurzen Moment still im Raum. Bedrückend still. Es schien fast, als seien sie alle, in die eigenen Gedanken versunken.
»Sollen wir die Geschenke öffnen?«, fragte Marie schließlich.
Sophie zog es das Herz zusammen. Die Geschenkezeremonie war immer der Höhepunkt ihrer Feier gewesen. Sie hatten sich gegenseitig die Päckchen überreicht und sich gemeinsam gefreut. Doch Sophies Herzenswunsch würde nie in Erfüllung gehen.
Wie sollte sie sich nun über Nichtigkeiten freuen?
Zudem schämte sie sich für die belanglosen Präsente, die sie für ihre Lieben ausgewählt hatte. Sie waren das Produkt kurzfristiger und gestresster Einkäufe gewesen. Früher hatte Sophie monatelang überlegt, womit sie ihren Geschwistern und Eltern eine Freude machen konnte. Doch dieses Jahr hatten andere Gedanken sie eingenommen.
Erst als die Familie vom Tisch aufstand, um zum Baum hinüberzugehen, kam Sophie wieder zu sich. Ihr wurde schummrig, und ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in ihren Gliedmaßen aus.
Mit wankenden Schritten trat sie vor, um das erste Päckchen zu öffnen. Als ihre Hand danach griff, schien der Raum kurz zu verschwimmen. Das Geschenk war befremdlich leicht, beinahe schwerelos, und Sophie betrachtete das dunkelgrüne Papier, das mit einer goldenen Schleife fixiert war. Für einen Moment kniete sie nur da, bevor sie fragte: »Von wem ist es?«
Niemand antwortete.
Verwundert wandte Sophie sich zu ihrer Familie um. »Von dir, Mutter?«
Sie reagierte nicht, weder mit Worten noch mit einer Geste, sondern sah nur mit einem melancholischen Lächeln auf Sophie herab.
»Mutter?«
Sophie spürte ein mulmiges Gefühl im Magen und wandte sich an ihre Geschwister. Doch auch Jonas und Marie standen nur da und starrten, ohne zu blinzeln, auf sie herab. In einem Anflug von Panik ließ Sophie das Geschenk von ihrem Schoß gleiten und sprang auf.
Sie trat zu Marie und streckte die Hand aus, um sie zu berühren – doch ihre Schwester blieb reglos und steif, wie eine Puppe. Perplex starrte Sophie die Gesichter ihrer Familie an, bevor sie sich unsicher in den Arm zwickte. Sie spürte einen leichten Schmerz.
Was war hier bloß los?
All ihre Bemühungen um Aufmerksamkeit waren vergebens. Hilfesuchend sah sie sich um.
Ihr Vater hatte in jeder Situation gewusst, was zu tun war.
Doch Sophies Vater war tot.
Panisch und verängstigt rannte Sophie aus dem Wohnzimmer, passierte die Küche und riss schließlich die Haustür auf. Sie brauchte Hilfe!
Ihre beste Freundin wohnte nur ein paar Häuser entfernt. Vielleicht würde sie Sophie helfen können.
Barfuß lief sie durch den Schnee, ohne die Kälte zu spüren. Die Straßen waren still und verlassen, denn es war Heiligabend.
Als Sophie am Haus ihrer Freundin ankam, klopfte sie energisch gegen die Tür. Niemand öffnete. Sie rief und klingelte Sturm und es erzeugte keine Reaktion. Entschlossen stieg sie über die verschneiten Buchsbäume im Garten und spähte durch die Vorhänge hindurch ins Esszimmer.
Dort saß die Familie ihrer Freundin zusammen reglos und scheinbar stumm. Sophie klopfte ans Fenster, doch sie verharrten, wie eingefroren.
Es war, als sei die Zeit stehen geblieben.
Verwundert richtete sich Sophie auf, zog ihren Pulloverärmel vom Handgelenk und sah auf ihre Armbanduhr.
Die Zeiger standen still.
Geschockt ließ sie den Arm sinken und blickte zurück zu ihrem Elternhaus, das nur ein paar Meter entfernt war. Warmes Licht schien durch die offengelassene Haustür nach draußen. Da fiel Sophie plötzlich auf, dass sie keinerlei Spuren im Schnee hinterlassen hatte.
Verwirrt tat sie bewusst einen Schritt in den Schnee.
Nichts geschah. Kein Abdruck, kein Gefühl von Kälte oder Nässe.
Nichts.
Die Welt stand still.
Sophie fühlte, wie panische Angst von ihr Besitz ergriff. Ein Impuls durchzuckte sie und trieb sie zurück nach Hause. Es war wie der Hauch einer Erinnerung, der sich nicht greifen ließ, aber Sophie folgte ihm – schwerelos, ohne ein Geräusch zu verursachen oder Spuren zu hinterlassen.
Zu Hause war alles so, wie sie es verlassen hatte. Ihre Mutter und ihre Geschwister standen im Wohnzimmer und blickten zum Fuß des Weihnachtsbaumes hinunter, genau dorthin, wo sie eben noch gekniet hatte. Mit zusammengezogenen Brauen trat Sophie näher, als sie eine Bewegung am Esszimmertisch bemerkte. Der Stuhl am Kopfende war nicht mehr leer.
Eine Gestalt saß dort, vertraut und doch seltsam fern. Ein kaltes Kribbeln durchströmte sie, und ein schwerer Druck legte sich auf ihren Brustkorb.
»Du bist hier?«, fragte Sophie heiser.
»Ich bin immer hier«, antwortete die Gestalt sanft.
Es war ihr Vater.
Sophie war für einige Atemzüge überwältigt, bevor sie misstrauisch näher trat. Sie schüttelte leicht den Kopf und sagte: »Das kann nicht ... du bist ... du bist nicht mehr hier. Wie ... wie ist das möglich?«
Er lächelte liebevoll. Es war ein vertrautes Lächeln, und doch schmerzte es sie tief. All die Monate hatte sie sich nach seinem Anblick und seiner Stimme gesehnt. Jetzt war er hier – an Heiligabend. Ein Geschenk des Himmels.
»Seltsam, nicht wahr?«, sprach er schließlich. »Dieser Moment, als wäre die Zeit stehengeblieben.«
Sophie nickte, während Tränen lautlos auf den Holzboden tropften.
»Doch das ist sie nicht, Schatz. Es ist nur eine kleine Zwischenzeit, in der wir uns gerade befinden.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Sophie und trat noch näher heran.
Ihre Hände suchten Halt an der Stuhllehne und klammerten sich so fest daran, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Doch sie spürte nichts davon. Weder das Holz, noch die verkrampften Muskeln.
»Du bist nicht echt, oder?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Ich träume, nicht wahr?«
»Nein, Sophie. Du träumst nicht, aber es ist auch nicht das, was du denkst.« Sein Blick wurde ernst. »Du bist gerade in einem Zustand, den man nicht oft erlebt. Du hattest einen Herzstillstand.«
»Einen Herzstillstand?«, wiederholte sie ungläubig. »Aber ... ich ... ich bin doch hier.« Sie sah an sich herab und trat einen Schritt vom Tisch weg.
»Du bist hier und dort.« Der Blick ihres Vaters ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer und Sophie folgte ihm.
Plötzlich erfüllte blaues Blitzlicht den Raum, das von draußen im schnellen Rhythmus durch die Fenster flackerte. Die Geschenke lagen verteilt unter dem Baum, und vor ihm knieten zwei Personen in rot-weißer Kleidung. Zwischen ihnen lag eine kleine, gebrechliche Gestalt, ein junges Mädchen mit nussbraunem Haar und blassem Gesicht. Erst als Sophie näher hinsah, drang die Erkenntnis wie kalte Eiszapfen durch ihren Körper und die Worte ihres Vaters ergaben plötzlich Sinn.
»Ich bin tot?«
»Manchmal«, erklärte er, »wenn man zwischen Leben und Tod schwebt, erhält man eine Chance. Eine Gelegenheit, mit denen zu sprechen, die einem am meisten bedeuten. Du und ich, wir haben noch ein wenig Zeit, bevor du dich entscheiden musst.«
»Wozu entscheiden?«, fragte Sophie atemlos.
»Ob du weitergehst oder ob du zurückkehren möchtest.«
»Ich bleibe bei dir!«, sagte sie ohne zu zögern und wandte sich von der Szene ab. »Papa, ich habe dich so sehr vermisst. Jeden Tag seit du weg bist. Du fehlst uns!«
»Ich weiß, mein Schatz«, sprach er einfühlsam. »Ich vermisse dich auch – euch alle. Jede Nacht war ich an eurem Bett, jeden Tag habe ich versucht, eure Tränen zu trocknen, doch keiner konnte mich hören. Ich bin da. Ich bin bei euch, auch wenn ihr mich nicht sehen könnt.«
Sophie schnürte es die Kehle zu und sie wischte sich verzweifelt die Tränen aus dem Gesicht, während sie sich fühlte, als würde sie an all dem Schmerz ersticken.
»Du kannst hierbleiben, wenn du magst. Oder zurückkehren und deiner Mutter und deinen Geschwistern die Wahrheit mitteilen. Ihnen etwas Trost und vielleicht auch Heilung schenken, Sophie. Das ist das Geschenk, das du heute Nacht erhalten hast.«
»Ich kann nicht zurück!«, rief sie lauter als gewollt. »Ich ertrage das nicht mehr! Warum hast du uns alleine gelassen?«
»Es war nicht meine Wahl, Sophie.« Er schob den Stuhl von sich und stand auf. »Das Leben verläuft oft anders, als wir es uns wünschen. Aber du bist stark, mein Schatz. Die Liebe, die wir teilten, hat dich hierhergebracht.«
Er schloss sie in die Arme und es fühlte sich echt an. Warm, vertraut, sicher. Sophie ließ sich in diese tröstende Umarmung fallen, nach der sie sich all die Monate gesehnt hatte und schluchzte an seine Brust. Die Trauer und der Verlust entluden sich in einem Strom aus Tränen.
»Ich weiß nicht«, wimmerte sie leise, »ob ich weitermachen kann. Es tut so weh.«
»Doch, du kannst es, Sophie«, erwiderte er sanft. »Es gibt noch so vieles, das auf dich wartet.«
Sophie verharrte eine Weile in der Umarmung, bevor sie zurücksah. Ihr Blick fiel auf die beiden Sanitäter, die auf dem Boden kniend, um ihr Leben kämpften. Es war surreal, nicht begreiflich und viel zu abstrakt, als dass es sie abschreckte.
Dann jedoch schwand der Schein der weihnachtlichen Lichter und Sophie sah zu den Gestalten, die daneben ausharrten. Sie waren zunächst nur schemenhafte Silhouetten, flimmernd und ungreifbar, doch je länger Sophie hinsah, desto mehr begriff sie, dass es ihre Familie war. Jonas hielt ihre weinende Mutter in den Armen, die vor Schmerz und Erschöpfung zusammenbrach, während Marie, wie erstarrt, mit einem geschockten Ausdruck im Gesicht im Sessel daneben saß.
Der sanfte Schein, der von der Weihnachtsbeleuchtung ausging, verblasste unter dem zuckenden Blaulicht. Verzerrte es und tauchte es in ein gespenstiges grausames Ambiente.
Sollte dies das Weihnachtsfest ihrer Familie sein?
Sollte das die Zukunft der einzigen Menschen sein, die Sophie geblieben waren?
Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, als sie wieder ihre Familie betrachtete, unfähig, sich zu entscheiden.
Langsam löste Sophie sich von ihrem Vater, doch sie griff nach seiner Hand, als wollte sie ihn festhalten, damit er ihr nicht entglitt. Für einen Moment war sie wieder sein kleines Mädchen. In Obhut ihres Beschützers, und niemand konnte ihr mehr etwas anhaben.
Auch nicht der Tod.
Als Sophie sich wieder der Szene zuwandte, drangen die Worte und Bilder ihres Vaters tief in ihren Geist.
»Das ... das bin wirklich ich? Das passiert gerade?«
Seine Hand schloss sich fester um die ihre. Die Wärme in dieser Berührung fühlte sich wie eine Verbindung zwischen den Welten an. Dann sagte er: »Ja, und deine Familie ist bei dir.«
Das Leiden, der Schmerz und das Entsetzen, die sich auf den Gesichtern ihrer Mutter und Geschwister abzeichneten, waren wie ein Schlag gegen ihren Brustkorb. Dabei hatten sie alle in den vergangenen Monaten bereits genug davon gehabt.
»Ich kann nicht bleiben, oder?«, flüsterte Sophie in endgültiger Erkenntnis. »Das könnte ich ihnen nicht antun.«
»Du hast jetzt die Wahl, Sophie. Du kannst zurückgehen und dein Leben weiterführen. Oder du kannst bei mir bleiben. Aber denk an deine Geschwister, an deine Mutter ... sie brauchen dich.«
Seine Worte schnürten ihr die Kehle zu. Diese Entscheidung zu fällen, war fast unerträglich. In den vergangenen Monaten hatte Sophie nur mit dem Wunsch gelebt, ihren Vater wiederzusehen und hätte alles getan, um wieder bei ihm zu sein. Doch nun verstand Sophie, welchen bitteren Preis sie dafür zahlen und wie viel Unglück es mit sich bringen würde.
Sie konnte nicht ein Leben gegen drei eintauschen.
Sophie drückte feste die Hand ihres Vaters und flüsterte: »Ich habe Angst.«
»Angst zu haben ist menschlich, mein Schatz. Aber das Leben ist voller Überraschungen und Wunder. Und egal, wohin du gehst, du wirst nicht alleine sein. Ich werde immer da sein.«
Diese Worte spendeten ihr Trost.
»Und ich werde dich wiedersehen? Irgendwann?«
»Ja. Wenn du es wünscht, werde ich da sein, um dich abzuholen.«
Sophie atmete tief durch, nickte sich selbst zu und sah ihren Vater an. In seinem Gesicht lag ein sanftes und mildes Lächeln, das ihr das Gefühl gab, dass sie die richtige Entscheidung traf. Das penetrante Piepen einer Maschine drang an ihren Geist.
»Ich hab dich lieb, Papa«, flüsterte sie.
»Ich dich auch, Sophie.«
Eine beruhigende Schwerelosigkeit erfüllte sie von innen. Plötzlich war sie frei von Trauer und Schmerz. Für einen flüchtigen Moment spürte sie den sanften Druck seiner Hand, während die Dunkelheit sie behutsam einhüllte.
»Und ich bin so stolz auf dich!« Hörte sie die körperlose Stimme. Die Worte brannten sich wie heißes Eisen in ihr verletztes Herz.
Verunsichert klammerte Sophie sich an die verblassende Hand, bis nichts mehr von der Berührung übrig geblieben war.
»Geh und lebe.«
Dann ließ Sophie sich in die Dunkelheit fallen, bereit für das, was kommen würde.
Als Sophie an jenem Morgen erwachte, war das Erste, was sie sah, das vertraute Antlitz ihrer Mutter. Der sterile Raum um sie herum war eindeutig das Zimmer eines Krankenhauses. Ein sanfter Nebelschleier trübte noch ihre Sicht, doch allmählich fokussierte sie die Szene, die sich vor ihr entfaltete. Von Erleichterung übermannt, griff ihre Mutter sofort nach Sophies Hand und schluchzte laut. Der Klang ihres Weinens hallte durch den Raum, als wäre es das erste Mal, dass sie es zugelassen hatte. Die Schwere der vergangenen Stunden schien sich in diesem Moment aufzulösen.
Ihre Reaktion zog auch die Aufmerksamkeit von Jonas und Marie auf sich. Beide kamen sofort ans Krankenbett.
»Mein Schatz«, schluchzte ihre Mutter kraftlos, die Stimme voller Schmerz. »Mein kleiner Schatz ...«
Sophie lächelte schwach, drückte ihre Hand kurz, und blickte von ihrer Mutter zu ihren Geschwistern. Die Worte, die sie sagen wollte, fielen ihr schwer, und sie musste all ihre Kraft aufbringen, um überhaupt sprechen zu können.
»Papa ... er ist bei uns«, sagte Sophie heiser. »Ich kann ihn sehen ...«
Und tatsächlich fiel ihr Blick auf etwas, das hinter ihrer Familie schimmerte. Es war nur ein kaum wahrnehmbares warmes Leuchten, doch Sophie erkannte die Silhouette der Gestalt nun ganz deutlich. Der vertraute Umriss ihres Vaters, der liebevolle Ausdruck in seinem Gesicht, der sie stets begleitet hatte, war da.
Die Dunkelheit der vergangenen Monate schien sich aufzulösen, und die Erinnerungen an all das, was er ihnen immer gegeben hatte, blieben zurück. Ihr Vater würde immer bei ihnen sein und jeden ihrer Schritte begleiten – in Gedanken, in Taten, in Liebe – und Sophie wusste, dass sie nie wirklich von ihm getrennt gewesen waren.
Er würde immer bei ihnen sein.
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