01 | »Vor dem ersten Ton« vom Adventskalender Team
»Vor dem ersten Ton«
Eine Kurzgeschichte aus dem Genre Mystery/Thriller vom Adventskalender Team
Triggerwarnungen: Kindesverschwinden, angedeutete psychische Belastung, Trauer, unheimliche Ereignisse
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Der Frost hatte das kleine Dorf schon vor Wochen in einen eisigen Griff genommen. Dicke Schneeschichten lasteten schwer auf den Dächern der alten Fachwerkhäuser, und der Atem der wenigen Menschen, die sich noch nach Einbruch der Dunkelheit hinauswagten, bildete kleine Wolken in der stillen Winterluft. Die Straßenlaternen warfen trübes Licht auf die menschenleeren Straßen. Es war der Abend des 23. Dezembers, und eine unheimliche Stille lag über dem Dorf.
Jeder wusste, was heute Nacht geschehen würde. Niemand sprach es laut aus, doch es war so sicher wie der Winter selbst: Ein Kind würde verschwinden.
Marie saß in ihrem kleinen Wohnzimmer, die Hände fest um eine dampfende Tasse Tee geschlungen. Sie versuchte, sich zu beruhigen, doch die Unruhe wuchs in ihr wie ein unerträglicher Schmerz. Ihr Sohn Tim war erst sechs Jahre alt – genau im Alter der Kinder, die bisher verschwunden waren. Alle hatten dieselbe Regel befolgt: Bleibt im Haus. Lasst die Kinder nicht aus den Augen. Doch es hatte nichts genützt.
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Tim spielte oben in seinem Zimmer mit seinen Holzklötzen. Sein fröhliches Summen drang gedämpft durch die alten Holzdielen. Marie horchte darauf und fühlte einen Hauch von Trost. Er war hier. Sicher. Sie hatte die Fenster und Türen überprüft, jedes Schloss zweimal kontrolliert.
Die Standuhr in der Ecke schlug zehnmal, der Klang hallte durch das Haus wie ein düsterer Vorbote. Plötzlich flackerte das Licht. Die Glühbirne summte unangenehm, und ein leichter Luftzug ließ die Gardinen zittern. Marie fuhr zusammen, ihr Herz begann schneller zu schlagen.
»Tim?« rief sie nach oben.
Keine Antwort.
Das Unbehagen in ihrer Brust wurde zu Panik. Sie stellte die Tasse ab und stürmte die knarrende Treppe hinauf. Als sie die Tür zu Tims Zimmer aufstieß, blieb sie wie angewurzelt stehen. Das Zimmer war leer.
Das Fenster – das verschlossene Fenster – stand offen. Eisiger Wind wehte durch den Spalt, Schneeflocken glitzerten auf dem Boden.
»Tim!« schrie sie in die Nacht hinaus.
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Die Suche begann, wie jedes Jahr. Männer mit Laternen durchkämmten die Wälder, Frauen liefen durch die Straßen und riefen verzweifelt den Namen des Jungen. Aber es war, als hätte die Dunkelheit selbst ihn verschluckt. Kein Fußabdruck führte vom Haus weg, keine Spur war im frischen Schnee zu finden.
Als der Morgen dämmerte, trafen sich die Dorfbewohner in der alten Kirche. Niemand sprach laut über das, was geschehen war, doch die Last des Schweigens war erdrückend. Die Kirchenbänke füllten sich, und der Pfarrer trat an den Altar.
Die Weihnachtsmesse war Tradition, auch wenn sie inzwischen von einer düsteren Aura überschattet wurde. Niemand wollte das erste Lied singen, aber alle wussten, dass es getan werden musste.
Der Pfarrer hob die Hand. »Lasst uns beten und dann singen«, sagte er mit bebender Stimme. »Stille Nacht ...« begann er, doch bevor der erste Ton erklang, ertönte ein Geräusch.
Die schwere Kirchentür knarrte, als sie sich langsam öffnete. Eiskalte Luft strömte herein, ließ die Kerzenflammen tanzen und die Schatten an den Wänden flackern. Alle Köpfe drehten sich zur Tür.
Dort stand Tim.
Er war barfuß, in seinem dünnen Schlafanzug, und seine Haut war blass wie Schnee. Seine Augen, sonst so lebendig, waren glasig und leer.
»Es ist noch nicht vorbei«, murmelte er mit einer Stimme, die nicht die seine war. Sie klang älter, fremd, und sie hallte durch die Kirche, als käme sie von überall und nirgendwo zugleich.
Bevor jemand reagieren konnte, brach der Junge zusammen. Marie schrie auf und stürzte nach vorne, doch bevor sie ihn erreichte, erklang ein Geräusch.
Es war ein Summen, melodisch und kalt, das die Luft erfüllte. Die Dorfbewohner hielten den Atem an. Das Summen schwoll an, formte sich zu einer Melodie, die keiner kannte, aber die dennoch tief vertraut wirkte. Es war, als spräche das Lied direkt zu ihrer Angst, zu ihrem Verlust.
Die Glocke der Kirche schlug Mitternacht. Und die Dorfbewohner wussten, was das bedeutete: Es war nicht vorbei. Das Verschwinden würde weitergehen, Jahr für Jahr. Der erste Ton des Weihnachtsliedes hatte niemals erklingen dürfen.
Tim öffnete langsam die Augen und blickte seine Mutter an. »Ich habe sie gesehen«, flüsterte er, ehe er in ihren Armen in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.
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Draußen begann der Schnee erneut zu fallen, und die Dunkelheit schien sich dichter um das Dorf zu legen. In den Häusern schwiegen die Menschen, während die Kerzen erloschen. Niemand sprach aus, was sie alle fühlten: Die Bestie, oder was immer es war, hatte sie noch immer in ihrer Gewalt.
E N D E
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