17 | »Unter dem Nordlicht« von author_kim_m_meirer
»Unter dem Nordlicht«
Eine Kurzgeschichte aus dem Genre Übernatürliches von author_kim_m_meirer
Triggerwarnungen: Verlust, Einsamkeit und Konfrontation mit tiefen, mysteriösen Ängsten
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Die Nacht über Glimmerfjord war so dunkel und tief, dass man meinen könnte, die Zeit selbst hätte stillgestanden. Die Kälte der endlosen Winternächte lag schwer über der Stadt, und nur das flimmernde Nordlicht warf grüne und violette Schleier über die Dächer und schneebedeckten Straßen. Die Bewohner von Glimmerfjord waren an diese ewige Dunkelheit gewöhnt – sie gingen ihrem Alltag nach, als wäre die Sonne nur eine ferne Erinnerung, kaum mehr als ein alter Aberglaube.
In der kleinen Bibliothek, die von Generationen verschneiter Winter und vergessener Geschichten gezeichnet war, blätterte Ivor in einem alten Buch, das so brüchig war wie die Legenden, die es enthielt. Der junge Historiker war einer der wenigen, die das alte Wissen noch suchten, auch wenn die meisten es lieber ruhen ließen. „Schneegeboren" nannte man die, die den endlosen Winter im Blut trugen, und Ivor war mit seinem hellen Haar und den blassen Augen der Inbegriff eines Kindes des Nordens.
Er hatte gerade eine verblasste Karte gefunden, die von einem uralten Pfad zu berichten schien, der zu den verschollenen Siedlungen der ersten Clans führte. Die Seite war mit Rändern aus Eisblumen verziert, eine Technik, die vor Jahrhunderten verloren gegangen war. Er strich mit den Fingern über die alten Linien, als ein schweres Geräusch vom Marktplatz herüber drang.
Ein Chor von Stimmen erhob sich, zunächst gedämpft und dann immer lauter, als würde die Kälte selbst diese fremdartige Sprache formen und durch die Stadt tragen. Ivor hob den Kopf und schloss das Buch. Die Worte, fremd und doch vertraut, schienen seine Knochen erzittern zu lassen. Er zog seinen Mantel enger um sich und verließ die Bibliothek, die knarrenden Türen hinter sich lassend.
Vor dem Rathaus hatten sich die Bewohner der Stadt versammelt. Sie waren so still wie der Schnee um sie herum, den Blick auf die Fremden gerichtet, die aus der Dunkelheit gekommen waren. Sie waren eine kleine Gruppe, fünf oder sechs Gestalten, in dicken, schwarzen Mänteln gehüllt, deren Ränder mit seltsamen Symbolen bestickt waren. Ihre Gesichter lagen im Schatten, und das Nordlicht warf flackernde Reflexe auf die Kapuzen, sodass es schien, als würden Sterne in ihren Augen blinken.
Eine der Gestalten trat vor und sprach, ihre Stimme tief und kraftvoll, und doch in einem Ton, den niemand in Glimmerfjord jemals gehört hatte. Die Worte waren rau und fremdartig, doch in Ivors Ohren klangen sie wie das Echo einer verlorenen Zeit. Der Anführer der Fremden hob die Hände, als wolle er die Stadt umarmen, und sprach mit einer Klarheit, die das Knistern des Eises im Schnee übertönte:
„Wir sind der Nachtclan. Diese Stadt war einst unser Heiligtum – wir sind gekommen, um unser verlorenes Kind zu finden. Er wandelt unter euch!"
Ein Raunen ging durch die Menge. Ivor bemerkte, dass einige der älteren Stadtbewohner nervös den Blick abwandten und die Kapuzen enger zogen, als wollten sie nicht gesehen werden. Doch Ivor konnte den Blick nicht abwenden. Sein Herz schlug schneller, und eine unheimliche Vorahnung kroch in ihm hoch.
Die Fremden blieben in einer gespenstischen Ruhe stehen, als wüssten sie, dass ihre Worte bereits tief in die Herzen der Stadtbewohner eingedrungen waren. Der Anführer, ein hochgewachsener Mann mit schmalen, kantigen Gesichtszügen, die wie aus Stein gehauen wirkten, sprach erneut.
„Eure Blutlinie ist alt und stark. Doch nur die wahren Erben des Clans können das Erbe annehmen." Seine Augen – kühle, eisige Schatten unter der Kapuze – richteten sich auf Ivor. „Es ist Zeit für das Ritual, das unseren Erben offenbaren wird."
Ivor spürte ein unangenehmes Ziehen in seiner Brust. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf – er hatte diesen Moment in den Legenden gelesen, von denen er nie geglaubt hatte, dass sie mehr als Geschichten waren. Das Ritual der Erben. Ein uralter Test, von dem die Überlieferungen nur andeuteten, dass es entweder Ehre oder Verdammnis brachte.
Ein eisiger Schauer lief Ivor den Rücken hinunter, als die Worte des Fremden wie das Knirschen von gefrorenem Holz in der stillen Nacht verhallten. Die Menge starrte ihn an, manche mit Mitleid, andere mit stummer Neugier.
Es schien, als hätte jeder die stumme Aufforderung des Anführers verstanden: Ivor war gemeint. Er wusste nicht, warum oder wie er mit diesem alten Clan verbunden sein sollte, doch die Blicke brannten auf ihm wie die kälteste Winterluft.
„Warum ich?" Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als er den Anführer der Fremden ansah. Der Mann trat näher, bis er so dicht vor ihm stand, dass Ivor die feinen Stickereien auf dem Saum seines Mantels erkennen konnte – Symbole, die er nur aus den uralten Texten kannte, Zeichen des „Nachtclans", die für Macht und Ewigkeit standen.
„Du trägst das Zeichen", sagte der Mann. Seine Hand, blass und stark wie eine in Marmor gehauene Statue, hob sich und berührte Ivors Stirn. In diesem Moment durchzuckte ihn ein Schmerz, heiß und scharf wie eine Brandnarbe, die man lange vergessen hatte. Ivor wich zurück, doch der Schmerz blieb, pulsierte und schien sich wie eine brennende Linie von seiner Stirn über seine Schläfen bis hin zu seinem Herzen auszubreiten.
„Das Zeichen des Clans", wiederholte der Fremde, während sein Blick sich in Ivors Augen zu bohren schien. „Es ruht seit Generationen in deinem Blut."
Ivor stolperte einen Schritt zurück und hielt sich an den Armen fest, als könnte er die Hitze und das Kribbeln unter seiner Haut damit unterdrücken. Er wollte etwas erwidern, doch Worte versagten ihm. Die wenigen Stadtbewohner, die noch geblieben waren, standen wie versteinert da und beobachteten, wie die Fremden auf ihn warteten – als wäre alles, was er nun tun würde, schon vorherbestimmt.
„Das Ritual muss beginnen, sobald der nächste volle Mond über Glimmerfjord steht," verkündete der Anführer, ohne den Blick von Ivor zu lassen. „In drei Nächten. Es wird das Blut in dir entweder als Erben anerkennen ... oder zurückweisen."
Die Drohung in seinen Worten hing schwer in der Luft, und Ivor spürte, wie ihm eine schwache Übelkeit aufstieg. Zurückweisen? Er wusste aus den Legenden, dass jene, die sich als unwürdige Erben des Nachtclans erwiesen, der Stadt nie wieder dieselben waren – oder manchmal ganz verschwanden, in die endlosen Weiten des Nordens.
„Und wenn ich es nicht tue?" Die Frage war kaum mehr als ein Wispern, doch der Mann hörte sie trotzdem. Er zog die Kapuze zurück und zeigte ein Gesicht, das im ungewissen Licht wie das eines Geistes wirkte – hohe Wangenknochen, dünne Lippen und Augen, die schimmerten wie eine Mondspiegelung auf gefrorenem Wasser.
„Es gibt keinen anderen Weg," sagte er mit einer Stimme, die wie ein kalter Hauch durch Ivors Adern rann. „Das Blut ruft dich. Der Clan ruft dich."
Die Worte hallten in Ivors Kopf wieder, wie ein uraltes Echo, das längst in ihm geschlummert hatte. Seine Gedanken jagten durch die Bücher und Manuskripte, die er so oft in der Dunkelheit der Bibliothek gelesen hatte. Geschichten von Geistern und Kriegern, von dunklen Mächten, die in den tiefsten Winternächten über die Menschen kamen. Immer hatten sie ihm wie Märchen erschienen, Stoff, um einsame Abende zu füllen. Doch nun standen diese Geister leibhaftig vor ihm, und das Märchen forderte einen Preis.
„Und was ... was genau muss ich tun?" fragte er schließlich, die Worte schwer auf der Zunge liegend.
„Du musst den Pfad beschreiten," antwortete der Anführer und deutete in die Ferne, hinaus auf die weißen Weiten, die Glimmerfjord umgaben. „Der Nordpfad. Dorthin, wo unser Clan einst das Eis gebrochen hat und wo unser Erbe vergraben liegt. Es wird dir deinen Wert zeigen."
Ivor spürte, wie sein Herz schneller schlug. Der Nordpfad. Er hatte in den Texten von ihm gelesen – ein Weg, der in die Eiswüste führte, dorthin, wo die Legende von einem alten, verborgenen Heiligtum sprach. Man sagte, die Geister des Clans wachten dort, und nur die wahren Erben konnten den Pfad lebend zurückkehren.
„In drei Nächten. Sei bereit."
Der Anführer wandte sich ab und verschwand lautlos in der Dunkelheit, gefolgt von den anderen Fremden. Die Stadtbewohner sahen ihnen nach, und als die Stille zurückkehrte, wagte niemand zu sprechen.
Ein alter Mann trat schließlich an Ivor heran und legte ihm zitternd eine Hand auf die Schulter. „Der Nordpfad," flüsterte er. „Ich dachte, das sei nur eine Geschichte."
„Ich auch," murmelte Ivor, den Blick noch immer auf die dunklen Silhouetten gerichtet, die langsam im Schatten der Stadt verschwanden. Doch etwas in ihm – ein längst vergessener, tiefer Instinkt – sagte ihm, dass er diesen Pfad gehen würde. Dass der Ruf des Clans nicht zu ignorieren war.
Die Nacht legte sich wieder wie ein dichter Schleier über Glimmerfjord, und Ivor stand allein auf dem Marktplatz, das Nordlicht über ihm flimmernd.
In den Tagen, die folgten, konnte Ivor kaum schlafen. Jeder Gedanke an den Nordpfad ließ seine Nerven wie gespanntes Eis zerbrechen, doch eine seltsame Sehnsucht regte sich in ihm, als hätte er diesen Weg immer schon gekannt, wie ein lange verlorener Teil seiner Seele.
Am Abend vor der dritten Nacht packte er seinen Mantel, ein dickes Fell und eine Laterne mit langem Docht – Dinge, die ihn vor der Dunkelheit und Kälte schützen sollten. Er stand allein am Rand der Stadt, die hinter ihm in schattigen Hütten und schneebedeckten Dächern ruhte. Der Wind peitschte ihm ins Gesicht, und die Kälte kroch ihm tief in die Knochen.
Noch nie hatte sich Glimmerfjord so fremd angefühlt. Es war, als hätte die Stadt ihn bereits losgelassen, bevor er den ersten Schritt tat.
Der Nordpfad begann an einem kleinen Hang, der auf die weite Schneewüste hinausführte. Ein schmaler Pfad, kaum mehr als eine Einkerbung im Schnee, führte in die Dunkelheit, und Ivor wusste, dass dies der Beginn einer Reise war, die ihm entweder das Erbe des Clans oder das Ende seines Lebens bringen würde.
Er ging los.
Der Wind klang bald wie das Heulen eines Tieres, und die Dunkelheit wurde dichter, während er sich von der Stadt entfernte. Der Nordpfad war tückisch – Schneewehen türmten sich vor ihm auf, und das eisige Leuchten des Nordlichts oben am Himmel schien sich zu verändern, es wirkte wie ein flimmernder Schleier aus grünem und violettem Feuer, der ihn beobachtete.
Schritt für Schritt kämpfte er sich voran, seine Laterne in der Hand haltend, die schwaches Licht auf die endlose weiße Weite warf. Es war unheimlich still, nur das Knirschen seiner Stiefel im Schnee war zu hören, als ob die ganze Welt in Erwartung seines nächsten Schrittes den Atem anhielt.
Eine Weile lang verlor Ivor das Zeitgefühl. Die Dunkelheit, die Kälte und das monotone Weiß verschmolzen zu einem einzigen Bild, das seinen Geist verwirrte. Doch dann, nach einer Ewigkeit des Gehens, spürte er, dass sich etwas veränderte. Die Luft wurde schwerer, und eine Präsenz, alt und mächtig, schien ihn umgeben.
Er blieb stehen und sah sich um. Aus dem Schnee und der Dunkelheit begannen Formen aufzutauchen – unscharf und kaum zu erkennen, als wären sie nicht ganz real. Gesichter zeichneten sich in der Ferne ab, geisterhafte Schemen, die ihn stumm beobachteten. Es waren die Gestalten des Nachtclans, die ihn auf diesem Weg begleiteten, alte Krieger und Geister aus vergangenen Zeiten. Sie standen nur da, blickten ihm entgegen und verschwanden wieder im Dunst, kaum dass er sie wahrnahm.
„Warum bin ich hier?" flüsterte Ivor, und sein Atem bildete kleine, eisige Wolken vor seinem Gesicht.
Doch niemand antwortete ihm. Die Geister schwiegen, als ob sie darauf warteten, dass er selbst die Antwort fand.
Er ging weiter, tiefer in die Eiswüste hinein, bis die Geister sich ihm wieder näherten, diesmal klarer, als hätten sie auf diesen Moment gewartet. Einer von ihnen trat vor, eine Frau mit strengem Gesicht und einem Umhang aus schwarzem Pelz, der im Wind flatterte, obwohl sie selbst keinen Schatten auf den Schnee warf. Ihre Augen waren eisblau, so tief und dunkel wie der arktische Winter.
„Ivor." Die Stimme der Geisterfrau klang wie ein Flüstern, das durch die Weiten des Schnees getragen wurde, und doch fühlte es sich an, als würde sie direkt in ihm sprechen. „Du gehst den Weg der Erben."
Er nickte, unfähig zu sprechen. Die Kälte in ihrer Nähe war intensiver, fast schmerzhaft, und er spürte, wie seine Hände unter den Handschuhen zu schmerzen begannen.
„Was ist das Erbe?" fragte er schließlich, die Worte gepresst und leise. „Warum ruft ihr mich?"
Die Frau neigte den Kopf und sah ihn lange an, bevor sie antwortete.
„Es ist mehr als das Blut, das du trägst. Es ist die Dunkelheit, die in deinem Herzen schläft. Das Erbe des Nachtclans ist nicht für Schwache." Ihre Augen verengten sich, und sie schien ihn zu durchdringen. „Du musst deine Stärke beweisen – nicht gegen uns, sondern gegen dich selbst."
Mit diesen Worten verschwand sie, als hätte sie sich in den Wind aufgelöst, und die Geister ringsum taten es ihr gleich. Die Einsamkeit umfing Ivor erneut, doch die Worte hallten in ihm nach: Die Dunkelheit, die in deinem Herzen schläft.
Er hatte keine andere Wahl als weiterzugehen. Seine Beine wurden schwerer, die Müdigkeit zog an ihm, und die Kälte begann ihm zuzusetzen, als wäre sie ein lebendiges Wesen, das ihn ersticken wollte. Er wusste nicht, wie lange er noch gehen konnte, doch das Gefühl, dass dies nur der Anfang seiner Prüfung war, ließ ihn nicht los.
Nach einer Weile sah er in der Ferne eine schwache Lichtung, ein schwaches Glühen, das ihn wie ein Leuchtfeuer anzog. Als er sich näherte, erkannte er, dass es ein großes steinernes Tor war, dessen Oberfläche mit Symbolen verziert war – die gleichen Zeichen, die er auf den Umhängen der Fremden in Glimmerfjord gesehen hatte.
Er blieb stehen und betrachtete das Tor. Die Symbole schienen sich unter seinem Blick zu bewegen, fast so, als würden sie lebendig werden. Das Tor schien ein Eigenleben zu haben, als ob es auf ihn wartete, als ob es seine Ankunft schon vor Jahrhunderten vorausgeahnt hatte.
Ivor streckte zögerlich die Hand aus und berührte die kalte Steinoberfläche. In diesem Moment zuckte eine Welle von Energie durch seinen Körper, und er spürte, wie die Dunkelheit in ihm aufwallte. Bilder fluteten über ihn hinweg – Bilder von Kriegern, die in der eisigen Kälte kämpften, von alten Ritualen im Mondschein, von Blut, das auf Schnee tropfte und in der Kälte gefror.
Er erkannte, dass er an der Schwelle zum Erbe des Nachtclans stand. Doch um einzutreten, musste er die Dunkelheit annehmen, die seit Generationen in ihm schlummerte.
Ein letztes Mal hielt er inne. Würde er als derselbe Mensch zurückkehren, wenn er diesen Pfad beschritt? Oder würde er den Preis zahlen und ein Teil des Nachtclans werden, gefangen in der Dunkelheit, die in seinem Blut erwachte?
Doch bevor er den Gedanken ganz fassen konnte, zog ihn eine unsichtbare Kraft durch das Tor. Die Kälte und die Dunkelheit umfingen ihn, und Ivor wusste, dass es nun kein Zurück mehr gab.
Seit jener Nacht, als Ivor den Nordpfad beschritt, hatte ihn niemand mehr in Glimmerfjord gesehen. Anfangs warteten die Menschen in stiller Erwartung, doch die Tage vergingen, und bald war von Ivor nur noch ein gehauchtes Flüstern in den Tavernen und den dunklen Gassen übrig. Die Fremden, die diese Dunkelheit durchbrochen hatten, waren ebenfalls verschwunden. Sie hatten den Stadtbewohnern ein Ritual auferlegt, um den „wahren Erben" des Clans zu finden, und Ivor war dem Ruf gefolgt – allein und ohne Rückkehr.
Die Menschen der Stadt, die ewige Dunkelheit gewöhnt, verloren langsam die Hoffnung und richteten sich wieder in ihrem Schattenleben ein. Dunkelheit und Nordlicht, das zarte, kalte Leuchten über den Bergen, waren ein vertrauter Trost, die einzige Konstante. Doch dann, eines Morgens, veränderte sich der Himmel: Ein fremdes, warmes Licht schob sich über den Horizont und tauchte Glimmerfjord in einen Hauch von Helligkeit. Die Menschen traten aus ihren Häusern, die Augen schützend gegen das ungewohnte Leuchten. Sie wussten nicht, was sie sahen – es war die Sonne, die durch die ewige Nacht drang und die Stadt in sanftes Gold tauchte. Für Glimmerfjord war dies so unwirklich wie ein Traum.
Niemand konnte sich erklären, wie oder warum das geschehen war. Alte Frauen murmelten, dass dies das Ende der ewigen Nacht sei, ein Zeichen dafür, dass der Nordpfad nicht umsonst gewesen war. Manch einer meinte, dies müsse das Werk des Nachtclans sein – vielleicht war das Ritual, das Ivor vollzogen hatte, erfolgreich gewesen und hatte ein neues Kapitel über die Stadt geschrieben.
Die Menschen strömten aus ihren Häusern und betrachteten den Himmel, das Licht, das sich über ihnen erstreckte und die Kälte ein wenig milder erscheinen ließ. Die Stadt wirkte wie verwandelt, lebendiger, als hätte das Licht eine neue Energie in die alten Steine und Wege gegossen. Kinder lachten und hielten sich die Hände vors Gesicht, um ihre Augen an das Helle zu gewöhnen, während die Alten still und nachdenklich am Rand des Platzes standen, überwältigt von der plötzlichen Schönheit ihrer Heimatstadt.
Und doch blieb die Frage: Was war mit Ivor geschehen? War das Licht eine Botschaft von ihm, eine Art letztes Geschenk, das er der Stadt hinterlassen hatte? Oder war er irgendwo dort draußen, jenseits des Nordpfades, in einem Reich, das die Menschen von Glimmerfjord nicht verstehen konnten? Die Fremden hatten keine Spur hinterlassen, und niemand wusste, ob oder wann sie jemals zurückkehren würden, um das Geheimnis ihrer Anwesenheit aufzuklären.
Die Bewohner der Stadt wussten nur eines sicher: Das Licht blieb. Es kroch Tag für Tag weiter über die Berge, bahnte sich seinen Weg durch die engen Straßen, brachte Glimmerfjord langsam zum Erwachen und füllte es mit einem seltsamen, fast heiligen Glanz. Die Dunkelheit, die einst das Wesen der Stadt geprägt hatte, begann zu verblassen, und mit ihr schwand auch das letzte Echo des Nachtclans.
Von Ivor jedoch – von dem jungen Historiker, der einst die alten Legenden erforscht hatte, war nichts mehr zu hören. Seine Geschichte ging in die Chroniken von Glimmerfjord ein, und sein Name blieb in den Stimmen derer, die an die geheimen Mächte des Nordens glaubten.
Ob er das Ritual bestanden hatte oder ein anderer Preis eingefordert worden war, wusste niemand. Aber die Menschen akzeptierten es stillschweigend, wie ein Geschenk, das in tiefster Dunkelheit empfangen und in neuer Helligkeit enthüllt worden war.
ENDE
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