07 - Psychohygiene
Work-Life-Balance. Warum kommt bei diesem Wording eigentlich die Arbeit zuerst? Müsste es nicht heißen: Leben-Arbeit-Gleichgewicht? Ich finde schon. Normalerweise geht man arbeiten und zu leben und nicht umgekehrt. Das Leben ist wichtiger.
Was bedeutet denn nun dieses Gleichgewicht? Die Arbeit und das Leben teilen sich unser irdisches Dasein fünfzig zu fünfzig? Wenn wir bei den Kindern beginnen, so können wir bereits ein Ungleichgewicht feststellen. Früher blieben wir Kinder länger Kinder. Wir durften mit sechs Jahren in den Kindergarten gehen. Für uns war das eine Freude. Im Kindergarten lernten wir neue Freunde kennen und durften jeweils zwischen neun und elf Uhr jeden Morgen interessante Geschichten hören und mit gleichaltrigen Kindern spielen.
Heute müssen die Knirpse bereits mit vier Jahren in den kleinen Kindergarten, dann mit fünf in den Großen. Der Kindergarten zählt zur schulischen Ausbildung dazu, er ist Zyklus 1. Folgedessen gibt es Lernziele und Kompetenzbeurteilung. Bei vierjährigen Kindern wird im Elterngespräch darüber diskutiert, weshalb das Kind diese oder jene Kompetenz noch nicht erfüllen kann. Zudem ist der Kindergarten an zwei Nachmittagen auch zu besuchen. Die Kleinen sind oftmals mit dem Kindergarten überfordert; sie sind noch nicht bereit dafür - doch das interessiert das Bildungssystem nicht. Weinende Kinder werden ruhiggestellt.
Die Eltern sind froh, können sie ihre Kinder gratis abgeben, denn vom Neugeborenen bis zum Vierjährigen kostet die Tageskrippe viel Geld. Der Kindergarten hat Blockzeiten, damit die Eltern ihrer Arbeit nachgehen können. Wozu haben sie denn Kinder, frage ich mich. Auch für die Eltern ist da nichts von fifty-fifty, denn wenn sie müde von der Arbeit nachhause kommen, fordern die Kinder nach Aufmerksamkeit und Fürsorge.
Mit sechzehn beginnt eine Jugendliche, wenn sie nicht studieren geht, mit der Arbeit. Sie tut das bis zum Erreichen des 62. Altersjahres; Knaben beginnen im gleichen Alter, müssen jedoch drei Jahre länger arbeiten. Im Zeitalter der Gleichberechtigung ein absoluter Schwachsinn, aber voll verständlich, dass sich hier die Frauen nicht zur Wehr setzen, um endlich gleichlang arbeiten zu dürfen. Wenn wir nun annehmen, dass wir Menschen in Europa durchschnittlich 83 Jahre alt werden bedeutet das: 25 Jahre leben ohne Arbeit, 58 Jahre mit Arbeit - inklusive Schule und Ausbildung. Das ist nicht fünfzig-fünfzig.
Somit muss das eingangs erwähnte Gleichgewicht anders zu verstehen sein. Es ist nicht ein mathematisches Gleichgewicht, sondern ein gefühltes. Wenn es mir gelingt, meine Arbeit so zu wählen, dass ich die Arbeitszeit nicht als Belastung empfinde, von welcher ich mich in der Freizeit erholen muss, dann entsteht ein Ausgleich. Dann bin ich und lebe ich, unabhängig davon, ob ich nun gerade Aufträge für meine Arbeitsstelle erledige oder frei entscheiden kann, was ich mit meinem Tag anfangen möchte.
Egal welchen Beruf ich ausübe, er soll mich mit Zufriedenheit erfüllen und mir ein Gefühl geben, wichtig zu sein. Wenn ich fühle, etwas Sinnvolles zu tun, dann bin ich automatisch zufriedener als wenn ich, wie Sisyphus, Steine einen Berg hoch schleppe, damit sie wieder runter kollern können. Anerkennung ist also wichtig, damit mein gefühltes Gleichgewicht stimmen kann. Dies gilt übrigens auch für den Vater oder die Mutter, welche sich hauptberuflich mit dem Haushalt abgibt. Ohne Anerkennung und ohne Wertschätzung macht auch diese Arbeit keinen Spaß und wird zur Belastung.
An dieser Stelle tritt der Begriff 'Psychohygiene' in den Vordergrund. Ich soll meine Psyche pflegen, reinigen und gesund halten. Doch wie geht das? Habe ich Zeit dazu, wenn mich die Arbeit erdrückt und abends die Kinder schreiend durch die Wohnung rennen?
Ich finde, diese Zeit ist da; ich muss sie mir nehmen. Wenn ich für meine Chefin jederzeit erreichbar bin und ihr jeden Wunsch kurzfristig zur vollen Zufriedenheit erfülle, gewöhnt sie sich daran und stellt mir höhere Anforderungen.
Wenn ich aber zwischendurch nicht erreichbar bin und die Arbeit mit guter Qualität manchmal erst einen Tag später abliefere, gewöhnt sich die Chefin auch daran und gibt mir die Aufträge langfristiger, weil sie lernt, dass gute Qualität ihre Zeit benötigt. Sie hat nichts verloren und ich habe viel gewonnen. Zudem erledige ich meine Arbeit besser, wenn ich zufrieden bin. Zufrieden bin ich, wenn ich für die Arbeit genügend Zeit und danach etwas Wertschätzung erhalte. Es ist, wie so oft im Leben, ein Kreis.
Die Theorie klingt gut; die Realität sieht oftmals anders aus. Deshalb suchen wir uns zum Ausgleich Beschäftigungen, die uns Freude bereiten, wie beispielsweise das Schreiben, oder wir bewegen uns in der Natur oder im Sportverein. Wichtige Momente, weil sie uns die Zufriedenheit geben, die wir eventuell bei unserer Arbeit nicht erhalten. Solange die Nebenbeschäftigungen uns das Gefühl geben, im Gleichgewicht zur Arbeit zu stehen, ist alles gut. Wenn jedoch die Arbeit in einem Maße belastend wird, dass der Ausgleich keinen Platz mehr hat, dann sollte ich dringend etwas verändern.
Dann kippt die Waage; mein Alltag wird zur Belastung und ich hangle mich von Urlaub zu Urlaub oder gar von Wochenende zu Wochenende. Auf Dauer ist das extrem ungesund. Leider sehe ich auch in meinem Beruf teilweise sehr junge Lehrerinnen und Lehrer, die mit einem Burnout vor erreichen ihres dreissigsten Altersjahres wieder aufgeben müssen, obwohl sie voller Elan nach dem Studium zu arbeiten begonnen haben. Das Bildungswesen hat diese Alarmzeichen noch nicht wahrgenommen oder, noch schlimmer, ignoriert sie.
Meine Schüler haben mir schon gesagt: "Bitte nehmen Sie unsere Texte mit in den Urlaub und korrigieren Sie diese irgendwo am Strand, egal, wie lange es dauert." Auf meine Nachfrage nach einer Erklärung, sagten sie bloß, ihre Noten seien deutlich höher, wenn ich zufrieden und ausgeruht korrigierte. Wir lachten daraufhin alle und ich korrigierte die Texte auf dem Sonnendeck der Fähre von Genua nach Palermo. Und tatsächlich: Selten durfte ich so gute Texte lesen, wie dort, irgendwo auf dem Mittelmeer.
Mein Rat an alle Schüler ist immer der gleiche: Erlerne einen ersten Beruf, der dir Spaß macht, ohne bereits an eine mögliche Karriere zu denken. Dann hast du eine solide Grundlage und eine gesunde Einstellung zur Arbeit; dann bist du bereit, dich nach Neigung und Eignung weiterzubilden und deinen Weg zu gehen. Im Gleichgewicht mit dir und im Gleichgewicht mit der Arbeit.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top