Feier Os
❗️TW: Suizid und Selbstverletzung, körperlicher und seelischer Gewalt, Diskriminierung gegen Frauen/Misogynie, Zwangsheirat und Femizid ❗️
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Verträumt blickte Elise in den Himmel. Die Wolken zogen gemächlich am Himmel Richtung Westen und die leichte Brise ließ die braunen Locken des Mädchens um ihren Kopf tanzen. Die Sonne würde bald untergehen, dann würde es wieder kalt werden, doch noch war es hell und der aufgeheizte Boden wärmte ihr den Rücken. Elise schloss ihre Augen und genoss den Duft der Wiese unter ihr. Dies war der einzige Ort, an dem sie ihre Ruhe haben konnte. Heute Abend erwartete ihr Vater Gäste, währenddessen musste sie sich wieder seinen Befehlen beugen, doch hier brauchte sie weder gerade zu stehen, noch war sie verpflichtet, ihre Haut zu verstecken. Bei diesem Gedanken vergrub sie ihre Zehen in den Grashalmen. Als Frau war es ihr verboten, in Anwesenheit anderer Personen ihre Haut zu zeigen, obwohl sie die Tochter von Adeligen war. Immer musste sie Kleider mit langen Röcken tragen, die sie schwer nach unten zogen, die Beine zusätzlich in Strumpfhosen und hohen Stiefeln. Auch lange Ärmel waren an den Kleidern Pflicht, egal wie heiß es war und wie sehr sie unter den schweren Stoffen schwitzte. Lange Handschuhe, die weit bis unter die Ärmel reichten, damit sie nicht versehentlich wegrutschen konnten, sowie ein hochgeschlossener Kragen bis unter das Kinn, waren ebenfalls Pflicht. Doch am allerschlimmsten fand Elise die Masken. Erst zog man einen Stoffstreifen um das Gesicht, damit kein winziges Stück der Haut entblößt wurde, dann wurde die Maske aufgesetzt und hinter dem Kopf so eng wie möglich festgebunden. Viele der Masken hatten auch ein Mundstück, sodass man dahinter bloß nicht sprechen konnte. Keiner Frau war es erlaubt, die Stimme gegen einen Mann zu erheben, sich dem stärkeren Geschlecht generell zu widersetzen. Trotzdem, oder vielleicht auch gerade deswegen, versuchte Elise es immer wieder. Aus diesem Grund bekam sie vor allem die Masken mit Mundstück, damit zumindest niemand sie verstehen konnte. Dabei war sie doch auch nur ein Mensch.
Elise seufzte und dachte an ihren jüngeren Bruder. Obwohl er der Zweitgeborene war, hatte er so viel mehr Freiheit als man ihr je zugestehen würde. Sie war weiblich, ein Schandfleck und nur dazu da, sie mit ihrer Volljährigkeit in eine andere Familie zu schicken. Doch Jackson, ihr Bruder, würde mit seinem 16 Lebensjahr offiziell der Erbe der Bellarose Familie werden. Er würde mit dem Tod ihres Vaters alles erben und als offizieller Erbe, würde er aus einer Vielzahl an volljährigen Frauen wählen können. Während des Hochzeitsbasars, auf dem alle Frauen im heiratsfähigen Alter präsentiert werden, dürfen sich unverheiratete adelige Herren wie ihr Bruder zuerst ihre Beute aussuchen. Je mehr Geld man bieten kann, desto eher ist man dran. Auch dabei dürfen die Frauen allerdings kein Stück ihrer Haut zeigen. Dafür sind ihre Kleider relativ eng geschnitten, sodass die Männer sich ihre Braut anhand der Körperform aussuchen können. Des Weiteren ist die mögliche Mitgift von Vorteil, wenn eine Frau keine Brüder hat, die ihren Vater beerben könnten. Natürlich würde er sich die beste Partie aussuchen, um so das Vermögen ihrer Familie noch zu steigern. Denn wenn eine Familie keinen männlichen Erben hatte, doch eine Tochter, würde das gesamte Vermögen an ihren Ehemann gehen. Würde diese jedoch allein bleiben, müsste sie mit dem Tod ihres Vaters in ein Frauenhaus ziehen, worauf das Vermögen der Familie in den Besitz des Tempels übergehen würde.
Der Tempel ... Elise hasste den Ort. Jeden Sonntag strömte die Familie gemeinsam in den nächsten heiligen Ort. Ihr Vater und ihr Bruder gingen stolz durch das Haupttor, während sie mit ihrer Mutter durch einen Seiteneingang in einen unteren Bereich nur für Frauen gehen musste. Die Männer liefen über ihre Köpfe und das engmaschige Gitter ließ durchgehend Dreck auf sie hinabregnen. Dort unten mussten sich die Frauen unbequem zusammenrotten und den Gebeten und Gesprächen der Männer lauschen. Würde auch nur ein Laut von unten hochdringen und die Männer stören, würden sie alle Frauen bestrafen. Im schlimmsten Fall würden sie die verantwortliche Frau auf den Tempelplatz zerren, ihr die Maske und Kleidung vom Leib reißen und sie nackt über die Nacht anketten, sodass jeder sie betrachten konnte. Es würde den Stand der Frau zerstören und sie würde, wenn sie die Eiseskälte der Nacht überlebte, die härtesten Arbeiten übernehmen müssen, nur, um etwas zu essen zu bekommen. Mit viel Glück würde eines der Freudenhäuser sie aufnehmen, wo sie zumindest einen Schlafplatz und Schutz vor der Kälte der Nacht bekam.
Eine laute Stimme durchbrach die Ruhe und damit auch Elises Gedanken. Die fürchterliche Zofe kam, um sie zu suchen und für den Besuch vorzubereiten. Am liebsten wäre Elise aus ihrem Elternhaus geflohen, doch keine Frau durfte allein durch die Gegend ziehen. Sie würde schnell eingefangen und bestraft werden. Also stand Elise auf und ging auf die Zofe zu. Maria war mollig und alt, ihre raue Stimme klang mehr wie die eines Mannes. Sie war eingestellt worden, da ihr Vater seinen Besitz verloren hatte und seine Tochter nicht an einen heiratswilligen Mann hatte verkaufen können. Jetzt arbeitete sie schon seit fast 50 Jahren auf diesem Anwesen, kümmerte sich um den Haushalt und die Kinder, während ihr Lohn eine kleine Abstellkammer zum Schlafen und Reste vom Essen beinhaltete. Keine Frau durfte Geld verdienen, wenn eine Frau mit Münzen erwischt wurde, galt sie als Diebin und gefallen. Diese Regeln und Gegebenheiten der Gesellschaft wurden schon den kleinsten Kindern eingeprügelt. Frauen durften nichts, nicht einmal lernen. Keine Frau konnte Lesen oder Schreiben. Das Einzige, was jungen Mädchen beigebracht wurde, waren die gesellschaftlichen Regeln und wie sie einen Mann verpflegen konnten. Dazu gehörte zum Teil kochen, putzen und andere Arbeiten, vor allem aber, dass sie den Männern nicht im Weg zu stehen hatten. Natürlich war der Lehrer ein Mann, denn er wurde von den Eltern bezahlt.
Elise war mit ihren 16 Jahren noch nicht im heiratsfähigen Alter, doch die notwendigen Arbeiten hatte sie alle noch vor Ende des zehnten Lebensjahres perfektioniert. Am liebsten hätte sie beim Unterricht ihres Bruders mitgemacht, doch das war Frauen verboten. Stattdessen musste sie Maria zur Hand gehen, doch sooft sie konnte, versuchte sie heimlich an der Tür zur Bibliothek zu lauschen, wenn ihr Bruder unterrichtet wurde. Die Zofe packte sie jetzt am Arm und zog sie stumm mit sich. Auch untereinander sprachen Frauen kaum, nur, wenn es wirklich nötig war. Jeder Verdacht auf Aufmüpfigkeit wurde bestraft, das wollten alle verhindern. Also wurde nur das nötigste gesprochen.
In dem schmalen Zimmer von Elise stand schon eine Wanne mit warmem Wasser bereit, in die sie ohne zu murren hineinschlüpfte. Maria würde ihr erst beim Ankleiden helfen, denn nicht einmal Frauen durften sich gegenseitig nackt sehen. Frisch gebadet und im Unterkleid klopfte sie an die Tür. Maria trat sofort ein und half ihr in Strumpfhose, Korsett, Handschuhe und Oberkleid. Geschickt wickelte sie das zu dem blauen Kleid passende Tuch um Elises Gesicht, bevor sie der jungen Frau eine schöne, elfenbeinfarbene Maske hinhielt. Kunstvolle, goldene Ornamente wanden sich über die Maske, betonten den aufgemalten Mund und die mit schwarzem, durchsichtigem Stoff bedeckten Augenhöhlen. Durch diese Maske würde sie wenig sehen und keine Gesichter erkennen können, gleichzeitig würde auch kein anderer ihre Augen sehen. Die perfekte Maske um eine perfekte, willenlose Frau zu demonstrieren.
Würde Elise es nicht besser wissen, würde sie denken, dass das hier die Präsentation einer heiratsfähigen Frau wird. Doch sie war noch nicht so alt, sie hatte noch eineinhalb Jahre bis zu ihrer Volljährigkeit. Zwar würde sich ihr Leben nicht grundlegend ändern, doch sie wusste von den ehelichen Pflichten, die sie als willenlose Frau zu erfüllen haben würde. Für sie klang es wie die Hölle auf Erden, denn hier hatte sie zumindest noch kleine Freiheiten wie ihren Garten, der vor Blicken geschützt war. Dort lief sie gern herum, denn niemand würde sie dort sehen, weswegen sie keine volle Kleidung anlegen musste. Diese Freiheit würde sie in einer Ehe aller Wahrscheinlichkeit nach verlieren.
Sie legte die Maske an die Seite und nahm die Blaue, die sie standartmäßig zu solchen Festen anlegte. Hier gab es keinen schwarzen Schleier, der ihre Augen verdeckte. Die Farbe passte perfekt zu ihrem Kleid und mit dem dunklen Blau würde sie fast mit den Schatten verschmelzen. Doch noch bevor Elise die Maske anlegen konnte, nahm Maria sie weg und drückte ihr die Helle vor die Brust. „Euer Vater will, dass ihr diese tragt." Die Blaue landete wieder auf dem Regal und Elise fixierte mit wütendem Blick die weiße Maske. Mit dieser würde sie nicht in den Schatten verschwinden, sie würde auffallen. Das wollte sie auf keinen Fall, doch einer Anweisung ihres Vaters durfte sie sich nicht widersetzen. Diese Maske hatte keine Bänder zum Festbinden, also würde sie sie nur mithilfe des Mundstücks vor ihrem Gesicht halten. Dadurch konnte sie kein Wort sprechen, denn dann lief sie Gefahr, dass ihre Maske verrutschen würde. Hilflos blickte sie zu der Zofe, doch diese hatte sich abgewandt und ging bereits zur Tür. Unzufrieden und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch klemmte sie sich das Mundstück zwischen die Zähne. Sie hatte keine Wahl. Als Frau hatte sie sich dem Willen der Männer zu ergeben. Mit gerader Haltung und leicht gesenktem Kopf folgte sie Maria. Als brave Frauen hatten sie im Speisezimmer auf dem Boden zu sitzen und auf die Männer zu warten.
Elise spürte, wie sich der Speichel in ihrem Mund sammelte. Sie kniete seit mehr als zehn Minuten neben ihrer Mutter, die eine Maske ohne Mundstück trug. Ihre passte farblich zum Kleid, sodass sie weniger auffiel. Endlich konnten die hören, wie der Butler die Gäste begrüßte. Kurz darauf war auch die Stimme von Elises Vater zu hören, der wohl gerade seinen Sohn vorstellte. Dann ging die Tür auf. Die drei Frauen senkten ergeben die Köpfe, um die Herren willkommen zu heißen. Erst, als diese sich gesetzt hatten, durften die Damen aufstehen und sich an den zweiten Tisch setzen. Sie mussten warten, bis die Männer sich sattgegessen und das Zimmer verlassen hatten, bevor sie essen durften. Schließlich mussten sie dafür die Masken abnehmen. Doch diesmal hielt Elises Vater sie zurück, als sie auf den Frauentisch zuging. Brav stellte sie sich neben ihn und versuchte, einen Blick auf den Gast zu erhaschen. Er war dick und kahl, wirkte wie ein aufgeblähter Teigling, nach dem, was sie erkennen konnte.
„Dies ist meine Tochter Elisa. Sie ist fleißig und wohlerzogen, wird Ihnen keine Probleme machen." Der Dicke stand umständlich auf und ging um den Tisch herum. Er war ein wenig kleiner als Elisa, und watschelte beim Gehen. „Sie hat eine gute Figur." Die Stimme des Mannes klang schleimig und ölig. Eine Gänsehaut durchfuhr ihren Körper. „Sie zählt jetzt 16 Jahre, nicht wahr?" Der faulige Atem des Mannes, war durch die Maske zu riechen und Elise hielt die Luft an. Aus dem Augenwinkel sah sie ihren Vater nicken. Der Mann kicherte: „So sind sie mir am liebsten!"
Unwillkürlich trat die junge Frau einen Schritt zurück. Wollte ihr Vater sie etwa an diesen Mann verkaufen? Dessen Frau sollte sie werden? Er war mindestens 50! Eine Träne rollte über ihre Wange. Sie suchte nach dem Blick ihrer Mutter, doch diese schaute bloß ihren Mann an. Aus dieser Entfernung und mit dem Schleier vor den Augen konnte Elise ihren Blick nicht deuten.
„Gut. Elise, setz dich." An den Mann gewandt fügte er hinzu: „Lassen Sie uns den Preis verhandeln!"
Elise hatte das Gefühl, sie würde ersticken. Für 10.000 Kronen hatte ihr Vater sie an diesen fetten Mann verkauft. Sie soll zu Beginn des nächsten Monats zu dessen Anwesen gebracht werden. In ihrem Zimmer angekommen schleuderte sie die Maske von sich und warf sich weinend auf ihr Bett. Sie hatte doch noch Zeit! Frauen wurden mit 18 verheiratet, nicht früher! Sie schluchzte so laut in ihr Kissen, dass sie nicht mitbekam, wie die Tür geöffnet wurde. Erst, als das Bett sich unter dem Gewicht einer weiteren Person bewegte, hob sie den Blick. Ihre Mutter saß dort, die Maske in den Händen. „Es tut mir leid mein Kind. Ich hatte nicht gedacht, dass er es wagen würde." Mit traurigem Blick sah ihre Mutter sie an. Auf das Verheiraten eines Mädchens vor dem 18. Lebensjahr standen zwar Strafen, doch die fielen meist recht mild aus. Damit wollte man hauptsächlich die ärmeren Bürger dazu bringen, ihre Töchter erst zum Hochzeitsbasar anzumelden, damit sich die Edelherren zuerst ihre Beute aussuchen durften. Unter Edelleuten war es höchstens verpönt. „Weißt du, Elise, ich denke, du wirst das schaffen. Du wirst überleben." Der traurige Blick ihrer Mutter verriet Elise, dass die harte, entschlossene Stimme nur vorgetäuscht war. „Du hast noch zwei Wochen, Kind. Genieße sie." Mit diesen Worten erhob sie sich und verließ eilig den Raum. Elise konnte die Tränen in den Augen ihrer Mutter glänzen sehen, ehe diese sich von ihr abwandte. Sie hatte gehofft, ihre Mutter käme mit guten Neuigkeiten, doch keine Frau durfte die Entscheidung eines Mannes in Frage stellen.
In den folgenden zwei Wochen musste Elise ihre Habseligkeiten zusammenpacken. Sie endete mit drei großen Koffern, in denen vor allem Kleider und Masken enthalten waren. Oft kam ihr der Gedanke, sich einfach davonzustehlen, doch Maria wachte mit Argusaugen über sie. Selbst in ihrem Garten war sie nie unbeobachtet. Am Abend vor ihrer Abreise saß sie auf ihrem Bett, in der Ecke ihres Zimmers stand das alte, angepasste Hochzeitskleid ihrer Mutter. Es war schlichtweiß, natürlich mit hochgeschlossenem Kragen und einem Rock bis auf die Füße. Darunter würde sie eine weiße Strumpfhose tragen. Die Handschuhe waren, wie bei Hochzeitskleidern üblich, an die Ärmel genäht, sodass sie nicht wegrutschen würden. Das Tuch für das Gesicht konnte sie sich diesmal sparen, sie würde eine Maske mit einem Schleier tragen, der rund um ihren Kopf bis auf Brusthöhe hing. Niemand würde auch nur einen Blick auf ihre Haut erhaschen können und dank der Maske mit Mundstück würde sie auch kein Wort sagen können. Frauen musste man nicht fragen, ob sie heiraten wollen, es war ihre Pflicht.
Tränen traten in ihre Augen. Am nächsten Morgen würde sie von ihrer Mutter und Maria in dieses Kleid gezwängt und perfekt gekleidet in eine Kutsche gesetzt werden. Sobald die Kutsche losfahren würde, würde Elise diesen Hof und ihre Familie vermutlich nie wieder sehen, da ihr Mann es ihr erlauben müsste.
Als ein leises Klopfen ertönte, wischte sie ihr Gesicht mit einem der Handschuhe trocken, ehe sie ihn zurück aufs Bett warf. Die Tür öffnete sich und Ihre Mutter trat ein. Sie ging auf ihre Tochter zu und schloss sie fest in ihre Arme. „Es tut mir leid, mein Mädchen. Ich habe mir so sehr gewünscht, niemals ein Mädchen in diese Welt zu gebären. Es tut mir leid, dass du das hier miterleben musst. Ich hoffe, du wirst als Mutter nie in dieser Situation sein, deine Tochter zu einem Fremden schicken zu müssen." Die Worte sprudelten nur so aus der sonst so stillen Frau, als würde sie es zum ersten Mal wagen, etwas zu sagen, das gegen den Willen eines Mannes ging. Elise spürte die Tränen ihrer Mutter an ihrer Wange und fing nun auch wieder an zu Weinen. Dies war ein eindeutiger Beweis der Mutterliebe, von der sie bisher nie geglaubt hatte, dass ihre Mutter sie empfinden würde. Sie krallte ihre nackten Hände in das Kleid ihrer Mutter und weinte bitterlich.
Als beide Frauen sich beruhigt hatten, nahm Elise Mutter ihre Tochter an die Hand und zog sie zum Bett. „Ich weiß, ich habe es dir nie gesagt, doch ich liebe dich wirklich." Die geflüsterten Worte, rührten Elise beinahe wieder zu Tränen, wo ihre Mutter doch bisher immer Abstand gehalten und nur das Nötigste ausgesprochen hatte. „Mein liebes Kind, ich habe wirklich gehofft, dich davor beschützen zu können, doch diese Gesellschaft akzeptiert uns nicht. Unsere Körper sind das einzig Interessante für die Männer, deswegen hüten sie sie so eifersüchtig. Ich habe wirklich gehofft, dass du noch mehr Zeit hast, die du in deinem Garten genießen kannst. Es tut mir so leid, mein Liebling." Elise nickte, doch sie bekam kein Wort heraus. Es fühlte sich an, als würde ihr ein Stein im Hals stecken. „Ich muss zurück in mein Zimmer, dein Vater wird mich gleich erwarten. Ich habe den Koch gebeten, dir einen heißen Kakao zuzubereiten. Hol ihn dir doch noch schnell ab, bevor du schlafen gehst." Mit diesen Worten drückte sie noch einmal die Hand ihrer Tochter, bevor sie leise aus dem Zimmer eilte.
Elise schluckte, zog ihre Handschuhe an und band sich eine Maske um. Sie liebte Kakao, doch sie bekam viel zu selten welchen. Also würde sie dieses Angebot ihrer Mutter auf keinen Fall ausschlagen. Leise schlich sie in die Küche, doch Martin, der Koch, schien gerade zur Hintertür rausgegangen zu sein. Suchend sah Elise sich nach einer dampfenden Tasse um, als ihr das Aufblitzen von Metall ins Auge sprang. An der Wand hingen an einem Magnetstreifen befestigt viele Messer, die der Koch und seine Gehilfen zum Zubereiten der Speisen nutzten. Doch eines der Messer war wohl runtergefallen und lag etwas versteckt unter einem Regal. Wie aus Reflex schnappte sie sich das Messer und versteckte es zwischen den Falten ihres Kleides, als auch schon die Tür klapperte. Elise ging ein paar Schritte zurück bis vor die Tür, damit der Koch denken würde, sie hätte die Küche gerade erst betreten. Martin war immer freundlich zu ihr, obwohl er ein Mann war. Elise hatte immer befürchtet, dass er an ihrem achtzehnten Geburtstag um ihre Hand anhalten würde, doch mit seinem Gehalt hätte er ihrem Vater bestimmt nicht genug Geld bieten können. Martin lächelte sie an: „Entschuldige, ich habe gerade noch etwas Müll rausgebracht. Die Tasse mit deinem heißen Kakao steht im Fach über dem Feuer, ich hole sie gleich runter." Er stellte einen Eimer in die Ecke und wusch sich die Hände, bevor er mit Handschuhen die große Klappe über dem Herd öffnete und eine dampfende Tasse herausholte. Elise bedankte sich, doch Martin winkte ab. „Ich bin der letzte Mann, der noch hier herumläuft, doch ich gehe jetzt auch in die Unterkunft. Du kannst deinen Kakao also ruhig hier trinken." Mit diesen Worten verließ er die Küche wieder. Ohne ihn war es seltsam ruhig hier. Elise war noch nie allein in der Küche gewesen. Sie setzte ihre Maske ab und trank in Ruhe ihren Kakao, während die letzte Flamme erlosch und nur noch die Glut den Raum erhellte.
Zurück in ihrem Zimmer, legte Elise Handschuhe und Maske ab und machte sich bettfertig, bevor sie erneut das Messer hervorholte. Vorsichtig fuhr ihr Finger über die Klinge. Sofort trat Blut aus der Fingerkuppe und eine Gänsehaut überfuhr sie. Elise überlegte, was sie damit anfangen würde, doch sie wusste ebenso, dass sie morgen eine lange Fahrt vor sich hatte. Vorsichtig schlug sie das Messer in eines ihrer Maskentücher ein. Auf keinen Fall würde Elise es morgen hier liegen lassen. Die junge Frau legte sich in ihr Bett und blickte an die Decke. Morgen würde sie den Hof zum letzten Mal sehen. Sie würde ihre Eltern das letzte Mal sehen, ebenso wie die Angestellten, die sie ihr ganzes Leben lang kannte. Mit dem Fahrer ihres Verlobten würde sie einen halben Tag lang fahren, bis zur Heiligen Kapelle, dem größten Tempel der Gegend, wo ihr Verlobter auf sie wartete, dessen Namen sie noch immer nicht kannte. Von dort aus würden sie nach der Zeremonie in einem gemeinsamen Wagen zu seinem Anwesen fahren, wo sie ab dem Zeitpunkt leben würde. Sie würde ihrem Mann keinen Wunsch abschlagen dürfen, musste sich an ihre ehelichen Pflichten halten und dafür sorgen, dass sie keine Probleme bereiten würde. Elise hatte die Stalljungen munkeln hören, dass sie wohl die siebte Frau dieses widerlichen Mannes sein würde, die letzten hat er wegen Ungezogenheit gemeldet und hinrichten lassen. Der Grund war unbekannt, doch Elise war sich sicher, dass dieser Mann ihr keine Freiheiten lassen würde. Eine Träne rollte über ihre Wange, gefolgt von vielen weiteren. Wie lange würde sie diesem Mann wohl gefallen, bevor er sie auch hinrichten lassen würde? Mit dem Gedanken an eine grauenvolle Zukunft weinte sie sich in den Schlaf.
Der nächste Morgen verging für Elise wie in einem Albtraum. Als sie von Maria geweckt wurde, war ihre Mutter schon im Raum. Gemeinsam zogen die beiden Frauen ihr die Kleidung an und sorgten auch dafür, dass alles richtig saß. Vor allem der Schleier war wichtig. Das würde das Erste sein, was ihr Angetrauter ihr abnehmen würde. Allein bei dem Gedanken musste sie sich schütteln. In einem unbeobachteten Moment versteckte sie das Tuch mit dem Messer wieder in einer Tasche des Kleides, in dem sie ihre Hände bis zur Zeremonie behalten musste, sobald sie das Haus verließ. Ehe sie es sich versah, war es auch schon so weit, dass sie vor der Tür stand. Hinter ihrem Vater lief sie auf den Hof. Er begleitete sie zu der wartenden Kutsche und half ihr beim Einsteigen, bevor er sich knapp verabschiedete und zurück zum Haus ging. Ihre Mutter sagte wie immer kein Wort, doch Elise konnte die Traurigkeit in ihren Augen sehen. Sehnsuchtsvoll sah sie aus dem Fenster, bis das Haus aus ihrem Blickfeld verschwand. Elise hatte diesen Ort nie besonders geliebt, doch bei dem Gedanken, was sie erwarten würde, kam es ihr vor wie das Paradies. Sie hatte sogar einen eigenen Garten gehabt, in dem sie keine Maske, keine Schuhe oder Handschuhe hatte tragen müssen. Das war purer Luxus gewesen.
Die Fahrt verging viel schneller, als Elise erwartet hatte. Die Kutsche wurde langsamer und die junge Frau schreckte aus ihrem tranceähnlichen Zustand auf. Sie hatte gehofft, sie würde niemals hier ankommen, doch der Kutscher half ihr aus dem Gefährt und schon stand sie vor der heiligen Kapelle, in der alle Hochzeiten der Adeligen stattfanden. Alles war mit reinem Weiß dekoriert, wie es sich die ärmeren Männer nie hätten leisten können. Wohin sie auch sah, alles war weiß. Wie sehr sie diese Farbe hasste. Sie stand für die Unterdrückung der Frau, denn es stand für die Jungfräulichkeit der zu verheiratenden Frau. Dass diese sie nach der Hochzeit dennoch gegen ihren Willen verlieren würde, davon wurde nie etwas gesagt. Elise biss frustriert auf das Mundstück ihrer Maske. Wie viele Frauen wurden hierzu wohl schon gezwungen. Sie würde nur eine weitere Frau sein, die in den Bund der Ehe gezwungen wurde und unter einem Mann leben musste, der sie misshandelte.
Elise schritt den Gang entlang, an dessen Ende dieser widerliche Mann auf sie wartete. Auch die Priester waren bloß Männer, sie konnte keine einzige Frau entdecken. Erneut stiegen Tränen in ihr auf, als sie begann, die Situation zu erfassen. Sie würde gleich verheiratet werden. Ihr Verlobter würde sich wahrscheinlich schon in der Kutsche über sie hermachen, so gierig, wie er sie ansah. Ihre Schritte wurden langsamer. Sie wollte von ihm nicht berührt werden. Sie wollte nicht einmal neben ihm stehen. Ihre Schritte stockten und mitten im Gang blieb sie stehen. Ein Raunen ging durch die Menge. Ihr Verlobter schien ungeduldig zu werden, doch sie ignorierte ihn. Langsam zog sie ihre Hände aus den Taschen, wodurch die Männer unruhig wurden. Eigentlich war vorgesehen, dass die Braut sie erst herauszog, wenn sie vor ihrem Ehemann auf die Knie ging, um zu demonstrieren, dass sie ihm dienen und gehorchen würde.
Doch Elise wollte es nicht. Sie wollte nichts davon. Sie atmete tief ein und schrie: „Ich will das nicht!" Die Maske fiel herunter und mit ihr der Schleier. Die Männer an der Tür und neben dem Altar kamen auf sie zu gerannt, doch die junge Frau wollte sich nicht unterdrücken lassen. Sie wollte von diesem Mann nicht misshandelt werden. Mit einer blitzschnellen Bewegung zog sie das Messer aus der Tasche und richtete ihren Blick nach oben, durch die Glaskuppel in den Himmel. „Ich werde frei sein!" Ihre Worte hallten durch den riesigen Raum und mit einer fließenden Bewegung schnitt sie sich die Kehle durch. Das Glas verschwamm vor ihren Augen, während ihr Körper verzweifelt versuchte, Luft zu holen. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich leicht und ein leichtes Lächeln zierte ihre Lippen. Das Messer fiel klimpernd zu Boden und Blut begann ihren Hals hinabzufließen und das reinweiße Brautkleid in ein schimmerndes Rot zu färben. ‚Wie schön diese Farbe doch ist', dachte Elise, während sie kaum noch ihr Gleichgewicht halten konnte. Den Sturz auf den kalten Boden spürte sie kaum noch, doch sie erkannte die vielen Männergesichter, die auf sie herabsahen und ihr den Blick auf diesen wunderschönen Himmel versperrten. Sie hatte das Gefühl, als würde jemand an ihrer Seele zerren, doch sie wehrte sich. Sie wollte in diesen Himmel aufsteigen und endlich frei sein. Frei von der Last ihres Körpers und von der Bürde, als Frau geboren worden zu sein. Frei von der Herrschaft der Männer.
Ein schwarzer Vogel flog durch ihr eingeschränktes Blickfeld, bevor die Welt um sie herum in undurchdringliche Schwärze versank.
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