Tanz auf dem Eis
Das Jubeln der Kinder war weit bis in das anliegende Dorf zu hören. Es war nicht die große Wiese, die vom Schnee mit einer dünnen weißen Schicht überzogen wurde, die ihnen diesen Spaß bereitete. Viel mehr war es das, was sich im der Mitte der weiten Fläche verbarg. Vor wenigen Monaten noch hatte man hier unter der prallen Sonne ins Wasser springen können. Jetzt aber bietete der See die perfekte Fläche zum Schlittschuhfahren, Pirouetten drehen und kleinen Wettrennen auf dem Eis. Im Sommer bot die einzelne große Tanne wunderbaren Schatten und auch jetzt war es, als wachte sie förmlich über die zugefrorene Wasserfläche mit den spielenden Kindern darauf.
Ein Rascheln war zu hören, dann ein Knacksen. Auf einem Zweig der Tanne war ein Rabe gelandet. Pechschwarz, mit Augen, in denen sich die Mittagsonne wiederspiegeln konnte. Interessiert blickte er auf das Geschehen herunter. Von hier oben hatte er einen perfekten Ausblick auf all das, was sich unter ihm abspielte.
Sei es der Wettkampf der zwei Jungs, der eine mit einer roten, der andere mit einer blauen Mütze oder die Gruppe an Jugendlichen, die gemächlich nebeneinander herfuhren und sich den neusten Klatsch und Tratsch im Dorf erzählten. Etwas abseits fanden sich auch vereinzelt ein paar jüngere Kinder wieder, die offensichtlich in diesem Jahr ihre erste Bekanntschaft mit dem Eis wagten.
Ein Krachen war zu hören. Sogar der Rabe hier oben auf dem Baum drehte seinen Kopf in die Richtung, wo Rotmütze soeben in die Jugendlichengruppe geknallt war, die nun schimpfend am Boden lag, während Blaumütze das Rennen offensichtlich gewonnen hatte. Schnell löste sich aber auch dieses Knäul auf. Bei dem Betrieb hier kam es schließlich nicht gerade selten vor, dass der ein oder andere zusammenkrachte.
Der Rabe blickte von rechts, nach links; auf und ab. Es schien, als sei er völlig zufrieden mit all dem, was er sah. Dann breitete er abermals seine Flügel aus, hopste an den äußersten Rand des Astes, bis dieser sich schon unter dem Gewicht bog und stieß sich vom Baum ab.
Die Kinder unten hatten nichts von all dem mitbekommen. Wie sollten sie auch? Während man von hier oben alles überblicken konnte, war es von unten nicht einmal möglich, die Zweige richtig zu erkennen. Und abgesehen davon, waren die Menschen auf dem Eis sowieso viel zu vertieft auf das, was sich direkt vor ihrer Nase abspielte, als ein einzelner Rabe, hoch oben auf einem Ast, den sie nicht einmal richtig sehen konnten.
„Lyra, komm doch auch her!" Einer der Jugendlichen war zum Rand des Eises gefahren und winkte einem Mädchen in dicker Winterjacke und Bommelmütze zu. Nur die untersten Spitzen ließen darauf erahnen, dass auch ihre restlichen Haare ein einem hellen blond leuchteten. Lyra schüttelte den Kopf. „Wieso denn nicht? Wir sind doch alle hier!" Anscheinend hatte der Junge noch nicht aufgegeben. Doch wieder schüttelte das Mädchen am Rand den Kopf. „Ich hab meine Schlittschuhe vergessen." „Das macht doch nichts, das wirst du schon auch mit normalen Schuhen schaffen." Die Blonde zögerte. Sie warf dem Eis einen abschätzenden Blick zu, dann schüttelte sie abermals den Kopf. „Nein, ist schon okay." Sie schien es mit der Entscheidung ernst zu meinen. Ihren Gegenüber interessierte das nur recht wenig. „Jetzt komm schon." Lachend fuhr er die letzten Meter bis zum Eisrand und wollte auf das Mädchen zugehen, die automatisch einen Schritt zurückging.
Es sah so aus, als wolle der Schlittschuhläufer das Mädchen am Arm mit sich ziehen, doch so weit kam es nicht. Schwarzes Gefieder, ein einzelner Flügelschlag und der Junge lies von Lyra ab. Perplex taumelte er ein paar Schritte zurück, lies das Mädchen dann in Ruhe.
Der Rabe aber ließ sich davon nicht beirren. Schell stieg er auf, um abermals seinen Platz hoch oben auf der Tanne einzunehmen. Er hatte eine Nuss im Schnabel. Ansonsten aber wirkte er genau, wie vorher.
Die Sonne sank immer tiefer und mit ihr verschwand langsam aber sicher auch die einzige Wärmequelle. Die Kleineren waren die ersten, die schließlich ihre Sachen packten, um sich zuhause aufzuwärmen. Die Letzten waren die Gruppe an Jugendlichen, auch wenn man sich bei ihnen nicht sicher seien konnte, ob sie wohl auch wirklich schon nach Hause gehen würden.
Nur noch eine einzelne Person stand alleine am Rand des Ufers und Blickte den letzten Strahlen der Sonne hinterher. Vorsichtig setzte Lyra einen Fuß auf die Eisfläche, dann einen zweiten. Und ehe sie sich versah, war sie auch schon wieder von der glatten Fläche heruntergesprungen.
Das Mädchen hatte ihre Schlittschuhe gar nicht vergessen. Hinter einem Stein kramte sie auf einmal ein paar schneeweißer Stiefel mit silbrig glänzenden Kufen hervor. So, wie die Oberfläche funkelte, schienen die Schuhe noch nicht viel Verwendung gehabt zu haben. Und auch die fehlende Sicherheit des Mädchens auf dem Eis lies darauf schließen, dass sie nicht mit auf den zugefrorenen See gekommen war, weil sie es schlichtweg nicht konnte.
Mit dem Gerüst an den Füßen startete die Blonde einen weiteren Versuch. Interessiert richtete der Rabe seine Augen auf das Geschehen. Konzentriert fokussierte er jede Bewegung, jeden noch so kleinen Schritt. Man konnte es nicht fahren nennen, was das Mädchen da unten veranstaltete. Einen Millimeter nach vorne, um dann doch wieder hinzufallen, traf es wohl eher.
Nach einer Weile lies sich das Mädchen frustriert auf dem Eis nieder. Ein Knacksen ging durch die Oberfläche. Lyra schien das nicht zu stören. Von hier oben war es schwer zu sagen, ob sie das Geräusch überhaupt wirklich gehört hatte oder doch zu sehr in ihrer eigenen Welt versunken war.
Die Sonne war schon lange verschwunden. Und langsam war es der Mond, der dem See noch ein wenig Helligkeit schenkte. Lyra hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Sie hatte ihre Knie an sich gezogen, ihre Arme um ihre Beine geschlungen und ihren Blick in Richtung Himmel gerichtet. Wer weiß, wie lange sie noch dort gesessen hätte, hätte die Natur sich nicht entschlossen, dem Mädchen ein wenig auf die Sprünge zu helfen.
Auf einmal, wie aus dem Nichts bildete sich unter dem Eis, dort, wo das Wasser noch flüssig zu seien schien, ein Schein. Hell leuchtete die Linie aus weißem Nichts durch den zugefrorenen See, lies diesen hell erleuchten.
Nicht nur das Mädchen blickte mit großen Augen auf die leuchtende Linie, die sich unter ihr gebildet hatte, auch der Rabe hatte wieder Interesse an dem Geschehen bekommen. Aufgeregt hopste er an den Rand des Astes, versuchte so einen besseren Blick auf den See zu bekommen.
Bewegung kam in die Blonde. Wie, als hätte sie jemand aufgefordert, kämpfte sie sich zurück auf die Beine. Dann setzte sie, wie zuvor auch einen Fuß vor den anderen. Und wie zuvor auch, verlor sie abermals das Gleichgewicht und fand sich wieder auf dem kalten Untergrund wieder.
Nun war der See beinahe verlassen. Der Rabe hatte sich von seinem Ast abgestoßen und flog in Richtung Boden. Nach unten. Zum See. Und schließlich landete er, auf dem Eis. Suchend tapste er auf der glatten Oberfläche, bis er das Leuchten fand. Und er folgte ihr, folgte der Linie, über das Eis, tanzte mit ihr um die Wette, fühlte sich frei.
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