Lichter in der Dunkelheit
Undurchdringlich, nass und kalt. Wie eine steinharte Mauer wirkt der dichte Nebel und doch kann man geradewegs durch ihn hindurchfassen, einen Fuß vor den nächsten setzten, immer weiter gehen. Man wird nicht aufgehalten, da ist nichts, was einen zurückhält. Und doch fühlt sich jeder Schritt ein wenig schwerer an; mit jedem Meter nach vorne fühlt man sich etwas verlorener.
Zu Beginn hatte Rinji noch große, selbstsichere Schritte gemacht und die Meter wie im Fluge hinter sich gebracht, doch mittlerweile hat selbst das abenteuerlustige Herzchen der Kampfgeist verlassen. Wie lange der kleine Troll jetzt schon nichts mehr außer einem weißen Schleier sehen kann, weiß er schon nicht mehr. Wie oft er schon gegen einen Ast oder Baum gestolpert war, weil er diesen aufgrund des weißen Schleiers nichts hatte sehen können, hat er längst vergessen. Nur noch eine Frage hat Platz in seinem kleinen Kopf: Wie lange würde er noch durch dieses Labyrinth ohne Wände irren müssen?
Ein Funken Licht am Horizont, irgendetwas, was ihm den Weg weisen würde – mehr will er doch gar nicht. Er will doch nur ein Ziel, ein Ausblick, etwas, woran er sich festhalten konnte. Umkehren kommt für den Blonden nicht in Frage. Zu viel Mut hat es gebraucht, die elterliche Höhle zu verlassen und sich auf zu machen, in die weite Welt. Weg von zu Hause. Weg von diesem öden Trott aus langwelligen Alltagsgeschehen.
Mitten in der Nacht, als er sich sicher seien konnte, das alles schlief, hatte er sich auf den Weg gemacht. Und noch immer war von der Sonne kein bisschen zu sehen. Wobei der Waldtroll auch bezweifelte, dass er in diesem grauen Gemisch auch nur einen Blick auf die Sonne erhaschen würde.
Immer weiter läuft er geradeaus. Ob er noch in die richtige Richtung geht, kann er nur erahnen. Den Weg hat er schon vor Stunden – oder waren es doch nur wenige Minuten – verloren. Ein bisschen sehnt er sich nach seinem weichen, kuscheligen Bett. Doch kaum verschwendete der junge Troll auch nur einen einzelnen Gedanken an die Heimat und die aufkommenden Zweifel, schüttelt er einmal den Kopf, klopfte sich zudem noch drei Mal dagegen und schreitet dann, für ein paar Meter wieder etwas schneller, weiter nach vorne.
Da! Auf einmal leuchtet in der Ferne ein Licht auf. Gelblich warm kann er den Schein durch sein getrübtes Sichtfeld erkennen. Augenblicklich rennt Rinji los. Das Ziel, auf welches er so lange gewartet hat, scheint ihm für einen Moment zum Greifen nahe.
Je näher der Waldtroll jedoch kommt, je langsamer werden seine Schritte. Schließlich bleibt er ganz stehen, starrt nur noch ausdruckslos auf das, was er als Ziel angesehen hat.
Es ist kein Ziel. Es ist nichts, worüber sich Rinji freuen könnte. Sein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen, als er die Gestalt vor ihm erkennt. Es ist das Abbild seiner Mutter, welche mit einer Laterne in der Hand aus dem Eingang der Höhlentür lugt. Ihr Mund ist weit geöffnet. Offensichtlich ruft sie etwas...
...oder jemanden...
In Windeseile zieht sich Rinji seine rote Kapuze über die strohblonden Haare und verdeckt seine Sicht damit. Er will es nicht sehen. Die ganze Zeit schon zerbricht er sich den Kopf darüber, wie seine Mutter reagieren würde, da braucht er nicht noch die Bestätigung für seine Ängste direkt vor die Augen gedrückt.
Es dauert nicht lange und der kleine Troll ist wieder alleine. Klein Wunder, bei diesem Nebel. Hier verschwindet alles genau so schnell, wie es aufgekommen ist.
Die Augen verschließt der Blonde vor dem, was er gesehen hat. Wenn er könnte würde er es vermutlich komplett aus seinen Erinnerungen streichen. Ob es wohl die Wirklichkeit war, die er da gesehen hat...? Ein schlechtes Gewissen zieht sich einmal durch seinen gesamten Körper. Vom Zipfel der Kapuze, bis in die Spitze seines Schuhs.
Kopfschüttelnd klopft sich der Waldtroll dreimal gegen den Schädel, bevor er, sein Tempo ein wenig anzieht und weiter geradeaus marschiert.
Wieder stapft er über die Blätter und Zweige des Waldes, als ihm im Augenwinkle auf einmal etwas auffällt. Erneut hat er das Gefühl, ein Licht zwischen dem wenigen, was er sehen kann zu erkennen. Nur dieses Mal ist es nicht ein paar Meter entfernt, irgendwo in dieser Welt aus Nichts; dieses Mal kommt es schnurstracks auf Rinji zu.
Vor Schreck macht der Junge einen Satz nach hinten, als etwas direkt über seinem Kopf hinweg fliegt. Erst ist er sich nicht sicher, doch als er schließlich wieder aufschaut realisiert er, dass ihm sein Gehirn wirklich keinen Streich gespielt hat. Tatsächlich sitzt nun auf einem schmalen Ast, nur ein Stückchen über ihm, ein Vogel. Die Laterne hängt dem gefiederten Tier im Schnabel. Doch Rinji hätte kein Licht gebraucht, um das tiefblaue Gefieder seines Freundes zu erkennen. Seines ehemaligen Freundes.
Dieses Mal kann der kleine Troll nicht einfach weiter gehen. Er braucht einen Moment, bis er es schafft, seinen Blick zu lösen. Doch umso schneller flüchtet er daraufhin von dem blauen Vogel, den gold-braunen Augen und dem gelben Schnabel. Er kann ihn nicht sehen, er will ihn nicht sehen. Zu tief hat Rinji der Tod seines treuen Begleiter getroffen, als er diesen von einem Greifvogel verwundet im Gras gefunden hatte.
Eine Träne wischt sich der Blonde aus dem Augenwinkel. Die Kapuze versucht er sich übers gesamte Gesicht zu ziehen, was wohl eher ein kläglicher Versuch bleibt, als eine ausgeführte Handlung.
Weinend schüttelt der Kleine einmal den Kopf, zitternd klopft er sich danach noch gegen diesen. Helfen tut es nicht wirklich viel. Erst nach vielen Minuten, vielen Schritten und einer großen Entfernung, die er zwischen sich und das Licht gebracht hat, hören die Tränen auf, über seine Wange zu fließen.
Stumm, mit einem müden Blick in den Augen und getrockneten Tränen auf der Wange, stapft der kleine Troll weiter durch den Wald. Mittlerweile sind ihm die Sträucher, an denen er hängen bleibt und die Äst, über die er stolpert egal geworden.
Auch, als er in der Ferne etwas erkennen kann, breitet sich weder Freude noch irgendeine andere Emotion in seinem Herzen aus. Er bleibt nicht einmal für eine Sekunde stehen, als er an dem dritten hellen Schein vorbeigeht. Nur einen blitzschnellen Blick schenkt er dem Bild, was sich ihm bietet. Dieser hat ihm schon gereicht. Detailliert will er das sich ihm bietende Szenario gar nicht betrachten. Der Moment, in welchem er sich selbst erkannt hat, hat ihm schon gereicht. Und die traurigen Augen und das viele Geglitzer um ihn herum haben sich sowieso schon viel zu stark in sein Gedächtnis eingebrannt.
Ohne auf irgendetwas um sich herum zu achten, läuft Rinji weiter. Ob er noch geradeaus läuft, interessiert ihn nicht mehr. Auch die Tatsache, dass sich der Nebel lichtet, scheint er gar nicht zu bemerken. Selbst, als er aus dem Wald heraustritt, starrt er lediglich mit dem gleichen kalten Blick in eine ungenaue Richtung, fixiert einen Punkt, den er vermutlich genauso wenig wahrnimmt.
Er weiß es, er spürt es. Würde er links gehen, würde er zurück nach Hause finden. Wählte er den anderen Weg, würde er seinen einstigen Traum verwirklichen. Doch egal, für welchen Weg er sich entscheidet, alles in ihm schreit förmlich nach Einbahnstraße. Da ist kein Rückweg, da ist kein umentscheiden.
Jetzt lächelt der kleine Troll ein wenig. Er hat es verstanden. Er weiß jetzt, wo er lang gehen muss. Und mit neuem Mut im Herzen setzt er einen Schritt nach vorne.
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