Leise rieselt der Schnee

Sie fallen. Nicht nur eine. Es sind hunderte, tausende, mehrere Millionen kleinster Geschöpfe, die sich auf den Weg machen. Es ist eine lange Reise. Für manche ist es eine sehr beschwerliche Reise. Für andere weniger. Doch für alle ist es die erste. Und es wird genauso ihre letzte sein. Nie wieder werden sie das Gesehene sehen. Nie wieder werden sie das Erlebte erleben. Nie wieder werden sie sich so frei fühlen können, wie sie es einst waren.

Schneeflocken. Während die einen ein Wettrennen veranstalten, wär es als erster schafft, auf dem Boden anzukommen, trauen sich andere nicht, auch nur einen Millimeter voran zu kommen. Sie haben Angst, wollen lieber weiterfliegen, wissen nicht, was sie erwartet. Und doch können sie am Ende nichts gegen ihr Schicksal machen. Sie werden fallen, eine nach der anderen. Und sie werden aufkommen. Aber wo und wann, das kann ihnen keiner sagen.

Ruhig, ganz still und für sich, kämpft sich eine kleine Schneeflocke durch den Wind. Sie kann den Boden schon sehen, spürt schon förmlich, wie sie von ihm angezogen wird. Sie sinkt. Immer weiter. Und dann kommt sie auf, findet sich bei ihren Brüdern und Schwestern wieder. Alles, was sie jetzt noch will, ist die Ruhe genießen. Die Ruhe und die-

Wusch.

Mit einem Mal werden all die Schneeflocken, die sich so sanft zueinandergesellt haben, aufgewirbelt. Etwas Schweres ist durch sie hindurchgebrettert und hat den Schnee aufwirbeln lassen.

„Nochmal!", schreit eine helle Kinderstimme, während sich der kleine Junge aus seinem Schlitten befreit, nur um abermals den Berg hochzurennen.

Er ist nicht alleine. Viele Kinder aus der Nachbarschaft haben sich zusammengetroffen, um den ersten Schnee des Jahres mit einer kräftigen Schlittenpartie zu feiern. Im Hintergrund wird sogar ein Schneemann gebaut. Noch ist es ein kleiner, doch sollte es tatsächlich noch länger schneien, wird vermutlich auch das Schneegeschöpf wachsen.

Der kleine Junge ist mittlerweile wieder ganz oben angelangt und rauscht ein zweites Mal auf seinem feuerroten Schlitten den Berg hinunter. Das ihm dabei auch der ganze Schnee in die Schuhe fliegt und dafür sorgt, dass er schon bald kalte Füße haben wird, interessiert ihn bislang noch nicht.

„Ich will auch mal!" Ein Mädchen mit zwei geflochtenen Zöpfen und einer rosanden Winterjacke kommt angerannt. Offensichtlich ist sie die Schwester des kleinen Jungen, jedenfalls erinnert die darauffolgende Diskussion die beiden an ein Geschwisterpaar.

Hoch oben, weit entfernt von den Kindern und ihrem Schlittenhügel, sodass diese nicht einmal erahnen können, was sich über ihren Köpfen abspielt, steht eine kleine Schneeflocke am Rand der Wolke und streicht sich noch einmal die Zacken glatt. Nicht mehr lange und es wird auch für sie losgehen. Dann wird sie die große weite Welt entdecken und erfahren, was es bedeutet zu fliegen, sich vom Wind tragen zu lassen, die Freiheit unter sich zu spüren.

Noch einmal atmet sie tief ein und aus, versucht sich mental auf den Sprung vorzubereiten. Dann nimmt sie allen Mut in sich zusammen, überbrückt das letzte kleine Stückchen zwischen sich und dem Abgrund und überschreitet die Grenze ins Ungewisse.

„Mama, ich will auch mal!" Wie es aussieht hat der Ältere den Kampf um den Schlitten gewonnen und nun liegt es bei der Mutter, Gerechtigkeit zwischen den Streithähnen zu schaffen. Diese schüttelt zunächst nur frustriert den Kopf und murmelt etwas von „Ich hab doch gesagt, wir brauchen einen zweiten", bevor sie sich an ihre Tochter wendet, die noch immer nicht glauben kann, dass es ihr Bruder und nicht sie ist, der im Hintergrund über die von den älteren Kindern gebaute Schanze saust. „Du darfst später auch, versprochen", versucht die Mutter ihr Kind zu beruhigen, was diese fürs erste mit einem Grummeln hinnimmt.

Freiheit. Nie hat die kleine Schneeflocke so wirklich verstanden, was es bedeutet, dieses Gefühl zu spüren. Und jetzt, wo sie es endlich kann, kann sie gar nicht genug von dieser Freiheit bekommen. Der Wind pustet sie hier hin, der Wind pustet sie da hin. Wo er gerade will.

Nie hätte das kleine Geschöpf je gedacht, mal so etwas Großes zu sehen. Alles, was sie kannte, waren die zuckerwatteweichen Wolken. Weiß, alles, was sie gesehen hatte, war weiß gewesen. Jetzt konnte sie Farben sehen, Bäume, Städte, riesige Flächen. Die Schneeflocke schien gar nicht mehr aus dem Staunen herauszukommen, so überwältigt war sie von all den Eidrücken.

„Jetzt ist später, darf ich jetzt?" „Du bist doch noch viel zu klein. Du schaffst das eh nicht!" Der Ältere der Geschwister hat es mit seinem Schwung bis zu seiner kleinen Schwester und der Mutter geschafft und sieht nicht so aus, als hätte er vor, den Schlitten abzugeben. „Natürlich kann ich das schon." „Du kommst doch noch nicht einmal mit dem Schlitten den Berg hinauf", protestiert der momentane Besitzer des Schlittens weiterhin. „Doch!" Auch das Mädchen mit den Zöpfen, aus denen schon einzelne Strähnen rausgefallen sind, bleibt stur.

„Jetzt lass sie doch auch mal eine Runde fahren." Die Mutter scheint mit ihren Nerven am Ende. Jedenfalls kann man nicht gerade davon reden, dass sich ihre Stimme beim Sprechen vor Freude überschlägt.

Einen Moment zögert der Junge noch, doch dann übergibt er der Jüngeren unfreiwillig das Gefährt. Das Mädchen ist direkt Feuer und Flamme. So schnell es nur geht, schnabt sie sich die Schnur und zieht den Schlitten hinter sich her.

‚Was mach ich hier eigentlich?' Anfangs noch hatte die kleine Schneeflocke ihre Umgebung bestaunt. Jetzt aber zerreißt es sie innerlich bei dem Gedanken, wie wunderschön und groß alles um sie herum ist und was für ein nichts sie doch im Vergleich dazu darstellt. Sie wird nie jemand bestaunen. Sie ist nur ein klitzekleines Teilchen unter Millionen anderen, für die sich niemand interessiert.

Auf einmal wünscht sich die kleine Schneeflocke zurück in ihre Wolkendecke. Dort war es nicht schlimm, so zu sein, wie sie es war. Dort waren alle so.

Doch die Reise hat bereits begonnen. Einen Rückweg gibt es nicht mehr. Und je näher die Schneeflocke dem Boden kommt, desto bewusster wird ihr dies. Immer trauriger, immer kälter wird ihr ums Herz. So hat sie sich ihre Reise nicht vorgestellt. Was wäre jetzt Schlimmer? Die Reise endlich hinter sich zu haben und damit alles zu beenden oder noch ein wenig fliegen und all das sehen, was sie nie seien wird?

Aufgeregt schielt das Mädchen den Abhang herunter. Das ist tatsächlich höher, als sie es sich vorgestellt hatte. Und auch der Anstieg hatte sie mehr Kraft gekostet, wie in ihren Vorstellungen. Doch aufgeben, einknicken, dem Älteren recht geben, das kommt für die Kleine auch nicht in Frage.

Noch einmal tief ein- und ausatmend setzt sich das Mädchen in ihr feuerrotes Gefährt. Dann nimmt sie all ihren Mut zusammen, überbrückt das letzte Stückchen und stößt sich vom Berg ab.

Wäre da nicht dieser Eisblock gewesen. Und wäre es nicht ausgerechnet ihr Schlitten gewesen, der den Eisblock gerammt hätte. Im hohen Bogen wird das Mädchen aus dem Sitz geschleudert, kugelt ein Stückchen den Berg hinunter und bleibt schließlich im weichen Schnee liegen. Noch immer befindet sich ein Lächeln auf ihren Lippen.

Dann, auf einmal, streckt sie ihre Hand aus und fängt etwas aus der Luft auf. Es ist eine kleine Schneeflocke, die das Mädchen, von dessen Zöpfen mittlerweile nichts mehr zu erkennen ist, mit Bestaunen betrachtet. So etwas Schönes hat sie noch nie gesehen.

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