Ein neuer Freund


„Autos." „Bücher." „Puppen." Leise flüsternd greift Ahiel nach dem Blatt Papier und legt es ordentlich glatt gestrichen zu den anderen in die jeweilige Box. Seufzend greift der Engel nach dem nächsten Brief, öffnet den Umschlag und überfliegt die Zeilen. Auch dieses Mal landet der Brief in der Abteilung Spielzeugautos.

Ahiel will erneut in die die Box mit den noch ungeöffneten Briefen greifen, nachdem seine Finger jedoch auch nach längerem Suchen nichts, außer den kühlen Boden spüren, bemerkt er, dass er soeben den letzten Brief einsortiert hat.

Lange muss der Engel jedoch nicht auf Nachschub warten. Kaum, dass er seine Hand wieder aus der Box gezogen hat, wird diese auf einmal von zwei Klauen hochgehoben und schwebt davon. Dann kommt auch schon der nächste Greifer – ein silbrig geflügeltes Tier mit goldenem Vogelschnabel und einem langen Schwanz – um Nachschub abzuliefern.

Das Augenverdrehen hat sich der junge Briefengel schon längst abgewöhnt. Am Ende bringt es ja sowieso nichts. Ob er jetzt mit schlechter Laune Briefe sortiert oder mit guter, was macht das schon für einen Unterschied. Da kann er wenigstens versuchen, sich nicht bei jedem Brief, welchen er sich mit seinen zarten Fingern herbeiangelt, anmerken zu lassen, wie sehr er es hasst, hier zu sein. Am Ende interessierte es ja auch niemanden.

„Jeder hat mal so angefangen", haben sie gesagt. „Auch du wirst irgendwann machen können, wozu du bestimmt bist, du musst nur Geduld haben", haben sie versucht, ihn zu trösten. Und für den Moment hatte das auch sicher funktioniert, doch im Laufe der Zeit war auch dieser Hoffnungsschimmer erloschen.

Ein paar neue kaum leserliche Schriftzeichen erscheinen vor Ahiels Augen. Dieses Mal muss er sich besonders anstrengen, um erkennen zu können, was sich der Absender des Briefes wünscht. Und als er diese Mission schließlich erfolgreich abgeschlossen hat, schüttelt er traurig den Kopf, bevor er den Brief in die Box ganz rechts legt. Anders, als die Boxen um sie herum, ist diese schwarz. Mit verschnörkelten Buchstaben stachen die silbrigen Worte „Nicht erfüllbar" besonders unschön hervor und der Engel verspürt jedes Mal einen Stich im Herzen, wenn er keine andere Wahl hat, als das schwarze Höllending mit einem weiteren Blatt Papier zu füttern.

Nicht nur einmal hatte er versucht, den Aufsichtsengel davon zu überzeugen, dass der Wunsch erfüllbar sei, doch dieser war jedes Mal hart geblieben. Die Regeln waren klar. Nur materielle Dinge, keine Personen, Eigenschaften oder ähnliche Dinge, die nicht verpackt und verschickt werden konnten. Und so muss auch der Brief mit dem Wunsch nach einem Geschwisterchen ins schwarze Nichts wandern.

Jedes Mal, wenn er das tun muss, braucht Ahiel einen Augenblick, bis er seine Arbeit fortsetzt. Dass er dabei eine Menge an Zeit verliert, ist ihm gleich. Er kann solche Wünsche nicht einfach weglegen und mit einem Schulterzucken weitermachen, als würde er nicht wissen, dass einem weiteren Kind in wenigen Wochen ein Herzenswunsch vorenthalten bleiben würde.

Schließlich reißt sich auch der junge Briefengel wieder zusammen und führt seine Finger abermals in die Briefbox, nur um wenig später den Zettel in die Kategorie „Kreatives" einzuordnen.

Kuscheltiere, Spiele, Kissen, Möbel, Schreibzeug,... immer mehr Briefe finden ihren Weg in die entsprechende Box. Einer hier, einer da. Ein paar wenigen muss der Briefengel schweren Herzens in die schwarze Box legen. Und doch ist er froh, dass diese im Vergleich zu den anderen, recht leer ist, als das helle Glöckchen erklingt, welches der gesamten Abteilung die Information erteil, dass sie für den heutigen Tag erlöst sind.

Im selben Moment fliegen zahlreiche Greifer in die große Halle. Jeder weiß genau, wo er hin muss, welche Boxen sein sind und wo er diese abzuladen hat. Auch die schwarze Box wird von einem der Tiere mitgenommen. Sie ist die einzige, bei welcher Ahiel nicht genau weiß, was mit ihr passieren wird.

Sich einmal streckend, schwingt sich der Engel von seinem Sitzplatz und steuert den Ausgang an. Jedes Mal, wenn er diese Tür durchtritt, hofft er, dass es das letzte Mal ist, dass er diese Räumlichkeiten wiedersehen muss. Und jedes Mal, wenn er morgens aufsteht, wird er abermals enttäuscht.

Kaum hat das geflügelte Wesen das Gebäude verlassen, ist es, als fiele alle Anspannung von ihm ab. Hier draußen, hoch über den Wolken, spürt er die Freiheit in seinem Herzen.

Definitiv besser gelaunt, als vor wenigen Minuten fängt er an, über das weite Wolkenmeer zu hüpfen. Immer weiter springt er durch das weiße Nichts, um sich schlussendlich irgendwo in der watteweiche Landschaft fallen zu lassen. Für einen Moment schließt er die Augen, genießt den Moment, lässt alle Sorgen von sich fallen.

Doch lange währt seine geliebte Stille nicht. Ein hohes, Krächzen ist zu hören. Nur schwach dringt es an sein Ohr. Und doch ist Ahiel augenblicklich auf den Beinen, um den Erschaffer dieses Geräusches ausfindig zu machen.

Lange sucht er in dem undurchdringbaren Meer aus Wolken. ‚Eigentlich müsste es doch leicht sein, zwischen dem ganzen Weiß etwas zu finden', denkt er sich. Und obwohl an diesem Gedankengang sicher etwas dran ist, dauert es noch gefühlte Ewigkeiten, bis der Breifengel schließlich fündig wird.

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen kniet sich Ahiel in die Wolken, als er endlich auf den jungen Greif stößt, welcher so verzweifelt nach Hilfe geschrien hat. Sein silbriges Gefieder ist auch der Grund, wieso sich die Suche des Engels auch so in die Länge gezogen hat.

Erst streicht er dem geflügeltem Tier einmal über den Kopf, bevor er ihm mit zusammengezogenen Augenbrauen den Brief aus dem Schnabel nimmt.

Einen Moment überlegt er. Eigentlich darf er den Brief nicht öffnen. Nur welche, die in der Sortierstation landen, sind für seine Augen bestimmt. Und doch schreit alles in dem jungen Briefengel danach, das Papier aufzureißen und seinen Inhalt zu lesen.

Kurz zögert er noch, dann gibt er sich einen Ruck und reißt den Brief auf. Mit zitternden Finger, faltet er das Papier auseinander und überfliegt die Zeilen.

Lieber Weihnachtsmann,

ich wünsche mir in diesem Jahr kein Spielzeug oder so. Damit kann ich sowieso nichts mehr anfangen. Das du meinen Wunsch vom letzten Jahr nicht erfüllt hast, ist okay. Es war vielleicht auch ein bisschen blöd zu denken, du könntest mich wieder gesund machen. Dazu hast du vermutlich zu viel zu tun oder?

Ich würde so gerne einen Freund haben. Jemand, mit dem ich reden kann, wenn ich einfach nur hier rum liege und nichts machen kann. Geht das?

Viele Grüße,

Dein Timmi

Eine Träne rollt dem Briefengel über die Wange. Er weiß, was er mit dem Brief machen müsste. Er weiß, dass dieser Brief keine Zukunft hat, außer das schwarze nichts der „Nicht-Erfüllbar-Box". Sein Blick wandert von dem Brief, zum Greifer und wieder zurück zum Brief. Dann setzt er sich in Bewegung. Das geflügelte Tier hält er auf seinem Arm. Es wird ihm den Weg weisen, es wird ihm zeigen, wo er wartet. Er wird ihm zu seinem neuen Freund bringen. 

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