Ein Kirschplunder mit Schokoüberzug
Sie kommen, sie sagen, was sie wollen, sie gehen wieder. Einer nach dem anderen, immer wieder. Von morgens bis abends, sieben Tage die Woche.
Auf den ersten Blick hört es sich vielleicht langweilig an, doch ich liebe es. Alles. Sogar das frühe Aufstehen bereitet mir mittlerweile keine Probleme mehr. Und wenn ich dann erst einmal in der kleinen Bäckerei an der Ecke zwischen Näherei und Antiquitätengeschäft angekommen bin, zaubert sich das morgendliche Lächeln ganz von alleine auf meine Lippen.
Egal ob es das eigenen Formen von Teigwaren, das morgendliche Geplänkel mit den Kunden oder das strahlende Gesichter der Kinder ist, wenn man diesen erlaubt, einmal in die Kekskiste zu greifen, ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen.
Um mich herum herrscht hektisches Treiben. Von gemütlicher Weihnachtsstimmung ist hier hinten in der Backstube nichts zu sehen, obgleich doch wenige Meter weiter – man muss nur um die Ecke und durch den Türrahmen treten – eine nahezu besinnliche Show gespielt wird. ‚Hier war man wohl nicht nur Bäcker, sondern gleichzeitig auch noch Schauspieler.'
Ein bisschen über meinen eigenen Gedanken schmunzelnd richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Teig vor mir. Irgendwo unter einem Haufen vom Mehl müsste sich noch das Notitzzettelchen befinden, auf dem in krakeliger Handschrift steht, was ich da eigentlich zusammengemixt habe. Daran erinnern kann ich mich jetzt schon nicht mehr.
Es ist kein Rezept vom Chef. Um ehrlich zu sein ist es überhaupt kein Rezept. Jedenfalls noch nicht. Aber das ist doch auch das tolle am Backen. Das man einfach mal ausprobieren kann, neue Teilchen kreieren, unterschiedliche Komponente miteinander vermischen.
„Lio, was zum Kuckuck treibst du da schon wieder?!" Meine friedliche nur so von Kreativität sprühende kleine Welt bricht in sich zusammen, als auf einmal eine Hand neben mir auf die Arbeitsfläche saust. „Ich forme den Teig für die-" „Nix Teigformen. Du solltest dich um das Laugengebäck kümmern und schauen, dass die Brötchen nicht verbrennen." Ich wage einen vorsichtigen Blick in Richtung Ofen, um mit Erleichterung festzustellen, dass das Gebäck zwar schon goldbraun jedoch noch keinesfalls verbrannt aussieht. „Was also tust du hier?!" Mein Kopf schnellt zurück zu meinem Chef, der ganz und gar nicht aussieht, als würden ihn die Brötchen groß interessieren.
„Ich dachte..." Ich stocke. Im Prinzip weiß ich schon, was gleich passieren wird. Und doch habe ich wirklich keine große Lust, es wörtlich auszusprechen. „Ich dachte, ich probiere mal etwas Neues aus", gebe ich schließlich kleinlaut zu. Mein Gegenüber, ein kleiner dicklicher Mann mir runder Brille, hofft wohl, seine Nerven zu beruhigen, indem er sich mit Daumen und Zeigefinger gegen die Stirn fasst. So ganz scheint das jedoch auch nicht zu helfen. Jedenfalls hat sich mein Chef ganz und gar nicht beruhigt, als er sich mir wieder zuwendet. „Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst hier nicht groß herumexperimentieren, sondern dich an die bereits bestehenden Rezepte halten. Das kann doch nicht so schwer sein!" Ich zucke zusammen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich nicht an das gehalten habe, was ich eigentlich hätte tun sollen. Und jedes Mal aufs neue verspreche ich mir selber, mich am nächsten Tag, in den nächsten Wochen und eigentlich immer fort an besser zu benehmen. Doch dann kommen die Gedanken, die Ideen und wecken meine Abenteuerlust. Und dann- „Was träumst du jetzt schon wieder herum? Los, geh lieber an die Theke, da kannst du nicht viel falsch machen."
Mit gesenktem Kopf schieb ich mich an meinem Chef vorbei, wasche mir auf dem Weg nach draußen noch das Mehl von den Händen und setzte, sobald ich um die Ecke trete das typische schön-dass-sie-da-sind-Lächeln auf.
Erst stehe ich hinter der Theke, frage die Kunden nach ihren Wünschen und erfülle ihnen diese kurz darauf. Dann aber bittet mich Tina, eine jüngere Arbeitskollegin, die trotzdem viel organisierter und einfach besser in so ungefähr allem ist, mit ihr für einen Moment zu tauschen, sodass ich nun zu den runden Tischen unseres kleinen Cafés laufe, um dort die Bestellungen aufzunehmen. Aus einem Moment wird eine Stunde und spätestens jetzt weiß ich schon, dass ich von dieser Aufgabe für den restlichen Tag wohl nicht mehr wegkommen würde.
„Was kann ich Ihnen bringen?" Lächelnd schaue ich die alte Dame mit der Handtasche auf dem Schoß und der hellbraunen Jacke, die sie trotz der Wärme hier drinnen nicht ausgezogen hat, an. Es ist bereits Mittag und trotz des kalten Wintertages lässt die Sonne ihre Strahlen durch die Wolken, bis zum Fenster neben dem Holzstuhl, auf welchem meine momentane Kundin sitzt, scheinen. „Noch nichts. Ich warte noch." Ich lächle, nicke und gehe weiter an den nächsten Tisch, um kurz darauf den beiden Mädels ihre Cappuccino und ein Stück Kuchen zu bringen.
Während ich einen Moment Verschnaufpause bekomme, sehe ich mich zufrieden im Verkaufsraum der Bäckerei um. Alle sehe glücklich aus, niemand scheint etwas zu brauchen. Kurz huscht mein Blick zum Türrahmen, hinter welchem ich nur um die Ecke gehen müsste, um wieder bei meinem Lieblingsort zu sein.
Ich kann nur hoffen, dass ich morgen wieder den Teig unter meinen Fingern spüren und den Geruch von frisch gebackenen Brötchen einatmen darf. Auch wenn das bedeutet, dass ich mich umso mehr zusammenreißen muss. Ich darf diese Stelle hier nicht verlieren. Ich will sie nicht verlieren. Ich kann sie nicht verlieren. Zu viele Erinnerungen hängen bei diesem Ort, als das ich mir vorstellen könnte, meine Lehre wo anders zu machen.
Mit einem Kopfschütteln hohle ich mich selbst zurück in die Realität. Es hat keinen Zweck weiter darüber nachzudenken. Nicht jetzt. Nicht hier. Stattdessen sollte ich mich um meine Arbeit und um die Kunden kümmern.
Gesagt getan.
Mein Arbeitstag verläuft schneller, als gedacht. Zum Abend hin verlassen der ein oder andere Mitarbeiter bereits früher den Laden, sodass schlussendlich nur noch der Chef höchst persönlich und ich da sind. Der Chef hinten, ich vorne.
Mit einem leisen Klirren lasse ich das Wechselgeld in die Kasse fallen, bevor ich einen Blick durch den Laden schwenke. Der vorletzte Kunde ist soeben gegangen. Nur eine sitzt noch da. Die Tasche hat sie mittlerweile auf den Tisch neben sich gestellt, den braunen Mantel trägt sie noch immer um die Schultern. Kerzengerade, so als sei sie erst vor wenigen Minuten gekommen und sich nicht sicher, ob sie sich auch wirklich an der Stuhllehne anlehnen dürfe.
„Entschuldigen Sie." Wieder schenkt mir die alte Dame dieses leichte unschuldige Lächeln, welches ich vorher zwar bemerkt, mir jedoch nicht wirklich eingeprägt habe. „Ja?" „Sind Sie sicher, dass ich Ihnen nichts bringen kann? Ich meine, Sie warten hier schon ganz schön lange oder nicht?", versuche ich so vorsichtig, wie möglich zu sagen.
Sie geht. Sie geht und lässt mich alleine, mit tausenden Fragezeichen im Kopf stehen. Aber nicht nur das. Unter den vielen Fragezeichen ist noch mehr. Es ist nur ganz klein und doch weiß das Ausrufezeichen ganz genau, wozu es da ist.
Mein Chef ist ebenfalls gegangen. Ich habe gesagt, ich würde noch eben durch die Backstube fegen und dann ebenfalls gehen. Und vielleicht tu ich das auch. Später. Nicht jetzt. Jetzt gehe ich zu meiner Arbeitsfläche, hole mein kleines Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche und schmeiße schon einmal den Ofen an.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top