Die Musik der Weihnachtszeit
Schon lange ist das schallende Geräusch, der liebliche Klang und der tosende Applaus verstummt. Auch das anschließende Chaos hat sich wie in Luft aufgelöst. Man kann gar nicht glauben, dass vor wenigen Stunden noch eine breite Masse an Menschen den wundervollen Tönen des Orchesters gelauscht hat.
„Wo sind die denn alle hingegangen?" Lange hatte die Stille den riesigen Saal beherrscht, bis auch die letzten Arbeiter ihre Aufgaben beendet hatten und das Gebäude verließen. Nun ist es die hohe, piepsige Stimme der Pikkoloflöte, die den Raum mit ihrem Klang erfüllt und somit endlich das drückende Schweigen durchbricht. „Sie gehen nach Hause, zu ihren Familien", antwortet die erste Geige, ohne sich auch nur zu dem jungen Ding umzudrehen. Doch diese hat jetzt erst recht die Neugier gepackt. „Und was machen sie da?"
Der große Flügel am anderen Ende der Bühne ist besser gestimmt, als das Streichinstrument und lässt sich liebevoller auf das Gespräch ein. „Sie haben einen Tannenbaum in ihrem Raum stehen, der ist bunt geschmückt mit allen möglichen Kugeln und Glitzer-Zeugs. Und-"
„Ein Baum?! Mitten im Raum???" Nun ist auch die ebenso junge Bratsche hellhörig geworden und blickt interessiert zum alten Flügel herüber, welcher leicht schmunzelnd nickt. „Ja, einen Baum. Darunter liegen dann Päckchen. Manche größer, manche etwas kleiner. Und die Päckchen sind alle eingepackt in kunterbunten Geschenkpapieren." „Und was macht man dann mit den Päckchen?", will die kleine Pikkoloflöte aufgeregt wissen. „Na man packt sie aus." Die zweite Geige orientiert sich bei ihrer Wortwahl stark an ihrer großen Schwester. Auch sie hält offensichtlich eher wenig von der gesamten Unterhaltung.
„Aber wieso machen sie das?" Entweder fällt dem kleinen Verursacher der Unterhaltung die fehlende Motivation der beiden Streichinstrumente nicht auf oder aber, sie ignoriert das Desinteresse schlichtweg. „Um sich gegenseitig etwas zu schenken, was dem anderen ein Lächeln ins Gesicht zaubert", erklärt der Flügel geduldig. „Das ist schön." Verträumt blickt die junge Bratsche an die Bühnendecke, an welcher noch immer vereinzelte Lämpchen leuchten, die offensichtlich jemand vergessen hat, auszumachen.
„Woher weißt du das alles?" Die Trompete hatte den Erzählungen des Tasteninstrumentes mit Begeisterung zugehört und meldet sich jetzt ebenfalls zu Wort. Ein raues Lachen überkommt die Lippen des Klaviers, bevor es sich wieder an seine drei kleinen Zuhörer richtet. „Ich habe in meinen jungen Jahren viel Zeit bei einer Familie im Wohnzimmer verbracht. Die jüngste Tochter hat damals auf meinen Tasten Klavier spielen gelernt. Hach, sie konnte so wunderschön spielen", ein leicht verträumtes Lächeln bildet sich auf den Lippen des Flügels, als er sich an die alte Zeit zurückerinnert, „Vor allem an Weihnachten hat sie die allerschönsten Stücke gespielt. Da hat man immer gemerkt, wie viel Herz sie in jede Bewegung ihrer Finger steckt."
„Und wieso bist du jetzt hier", fragt die Pikkoloflöte das Tasteninstrument weiter aus. Dieses seufzt einmal tief, bevor es sich aufraffen kann, die Frage zu beantworten. „Das Mädchen, sie hatte wohl keine Zeit mehr. Erst hatte sie immer weniger gespielt, dann habe ich sie kaum noch gesehen. Am Ende hat mich die Familie verkauft."
Betretenes Schweigen erfüllt den Raum. „Vermisst du sie manchmal? Also dieses Mädchen?" Nun hat das Cello seine Stimme erhoben. Wie auch seine Streicherkollege schaut er das Klavier nicht an. Nur, dass es weder aus Hochnäsigkeit oder Desinteresse kommt. Das etwas tiefere Streicherinstrument war schon immer der Schüchternste aus der Truppe. „Nicht mehr." Das Cello nickt nur. Für ihn ist das Gespräch damit auch schon wieder vorbei. Er rechnet nicht mit einer weiteren Ausführung der Erzählung. Nur leider hat es das alte Klavier, welchem es wohl nie an Redebedarf mangelt, ein bisschen falsch eingeschätzt. „Mich würde nur interessieren, ob sie noch spielt. Sie konnte es so gut. Sie hat solch wunderschönen Melodien erzeugt. Sie-"
„Ich denke, wir haben es verstanden." Das die erste Geige nie sonderlich gesprächig war, war den anderen Instrumente ja bekannt, doch normalerweise hielt sie sich einfach aus den Unterhaltungen raus und kommentierte sie nicht – und vor allem nicht mit so schnippische Kommentaren. „Was ist denn mit dir heute los?" Aus eine der hinteren Reihen meldet sich die Querflöte zu Wort, welcher die Stimmungsrichtung anscheinend auch nicht entgangen ist.
Stille.
Niemand sagt etwas. Alle blicken gespannt zur ersten Geige. Doch auch sie ist stumm. Und es sieht nicht so aus, als würde sie in naher Zukunft eine Antwort geben.
„Du solltest nicht so bedrückt sein", die ruhige Stimme der Oboe erfüllt den Raum, „Nicht heute. Nicht nach einem so wunderschönen Abend. Nicht an Weihnachten." „Weihnachten, wunderschöner Abend?! Mir ist heute zweimal meine A-Seite weggerutscht. Weißt du, was das bedeutet?" Leise hat die erste Geige angefangen. Als sie endet dröhnt ihre Stimme förmlich durch den Saal, erfüllt genau, wie bei ihrem Solo vorhin jede Ecke des Raumes. Mit dem Unterschied, dass die nun wiederaufkommende Stille nicht der Hochachtung und Begeisterung zu Grunde geht. Viel mehr weiß selbst der gesprächige Flügel nicht, was er darauf antworten soll.
„Es ist in Ordnung, Fehler zu machen." Ein Brummen, welches man nur selten in dieser Präsenz hört, bricht schließlich die Stille. Alle Augen – die der ersten Geige ausgenommen – richten sich auf den Ersteller dieses Geräusches. „Ein Fehler? Ein Fehler??? Ich habe damit alles versaut! Ausgerechnet bei dem Höhepunkt des Stückes muss mir die Seite entgleiten." Und zurück wandern sie; die Augen liegen nun wieder auf dem hohen Streichinstrument. „Du hast doch nichts versaut. Ich habe es um ehrlich zu sein nicht einmal bemerkt, bis du es soeben angesprochen hast." Jetzt sind es nicht nur die Augen aller anderen, die sich zurückgedreht haben, auch die erste Geige wirft ihren Blick zum Kontrabass, der sich von der allgemeinen Aufmerksamkeit nicht aus der Rolle bringen lässt. Auch die Skepsis im zentralsten Blick seines Gegenübers macht ihm recht wenig aus.
„Du hast gut reden. Wenn du da unten einen Ton falsch vor dich hin brummst, merkt das keiner, aber wenn ich-" „Jetzt hört doch auf, die ganze Stimmung zu zerstören!" Die Stimme des jeweilig Sprechenden scheint heute wie ein Magnet auf die Augen der Umliegenden zu wirken. Nun ist es die kleine Pikkoloflöte, die alle Blicke an sich kleben hat. Und diese wird bei einer solchen Welle an Aufmerksamkeit wesentlich nervöser, als das alte Streichinstrument.
Sie spricht es nicht aus. Niemand der Anwesenden spricht es aus. Und doch weiß jeder, was er zu tun hat. Stille macht sich breit. Wieder. Doch dieses Mal ist es eine Stille, voller Spannung, voller Aufgeregtheit, voller Zusammenhalt.
Sie alle warten, sie alle warten nur auf einen. Und auch wenn die erste Geige abermals die Augen verdreht, ist sie am Ende diejenige, die den ersten Ton spielt und das Spiel des Lebens beginnen lässt.
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