8. Das Café

Ich konnte sie nicht mehr verleugnen, ich hatte sie mit eigenen Augen gesehen und mit meinem ganzen Körper gespürt. MAGIE. Einfach unfassbar! Wenn ich darüber nachdachte, wollte ich es eigentlich immer noch nicht ganz glauben. Es gab sie: Zauberer, Hexen, Magier oder wie immer sie sich auch nannten? Heiliger Bimbam!

Obwohl mehrere Tage vergangen waren, seitdem Benjamin mich in die Welt der Elemente wahrlich entführt hatte, bekam ich die Bilder noch lange nicht aus dem Kopf. Immer wieder erschienen diese kleinen Wassertröpfchen, die Benjamin durch die Luft taktierte, vor meinem geistigen Auge. Jedes Mal, wenn die Erinnerungen hochkamen, war ich mir nicht mehr sicher, ob all dies nicht vielleicht ein böser Traum gewesen war, der mir einen Streich gespielt hatte. Die Eindrücke jenes Tagen waren nicht in Worte zu fassen - unmöglich.

Ich wollte noch so viel wissen und hatte noch so viele Fragen. Doch so schnell wie der Mann mit den weißen Haaren mich zu ihm gebeten hatte, so schnell war seine magische Vorstellung auch wieder vorbei gewesen. Benjamin wollte mich damit vertrösten, dass auch Christopher Columbus nicht an einem Nachmittag nach Amerika segeln konnte. Es sei nicht das Ziel, mich mit allen Einzelheiten auf einen Schlag zu konfrontieren, meinte er beschwichtigend. Stattdessen solle ich mich in Geduld üben und das Gesehene in Ruhe verarbeiten. Außerdem müsse ich mich noch von meinem Sturz erholen und er wollte meiner Genesung auf keinen Fall im Wege stehen.

Benjamin stellte mir in Aussicht, dass wir uns schon bald wieder sehen würden und er mir mehr von dieser magischen Welt der Elemente zeigen würde. Zumindest hatte er mir dies versprochen und ich nahm Versprechen sehr ernst.

Wieso hatte er gerade mir gezeigt, dass solch elbischen Zauberkunststücke nicht nur in Fantasyromanen vollführt wurden? Eine Frage, auf die ich keine Antwort hatte. Das Wissen über solche Magie schien mir nicht nur mächtig, sondern auch gefährlich zu sein, abgesehen davon, dass ich damit absolut nichts zu tun hatte. 

Wo war ich nur hineingeraten? Ich war eine von vielen jungen Frauen auf dieser Welt, bloß die Leidenschaft für Pflanzenkunde hob mich etwas von der breiten Masse ab. Aber jemand mit solchen Fähigkeiten? Jemand Besonderes? Ja vielleicht sogar magisch? - Nein, so weit würde ich nicht gehen.

Nie hätte ich mich auch nur zu erwägen getraut, dass Zauberei möglich war. Wie viele Menschen wohl jene Kräfte besaßen? Warum wusste genau ich jetzt davon? Fragen über Fragen, die mir nun fast den Verstand raubten.

Und dann war da auch noch dieser eine aufgeblasene Typ von Mann, Jamiel, oder James oder wie immer er jetzt auch hieß. Ich rollte meine Augen bei dem Gedanken an diesen Proteinpulver schluckenden Bolzen. Es ärgerte mich, dass er so eine einschüchternde Wirkung auf mich gehabt hatte. Keiner hatte das Recht, mich oder andere so unverschämt respektlos zu behandeln. Sollte ich ihm noch einmal begegnen, würde ich mich bestimmt nicht mehr so einfach aus der Ruhe bringen lassen und ihm ordentlich die Meinung sagen. Es würde ein Katz und Maus Spiel werden, da bin ich mir sicher.

Zu meinem Bedauern musste ja auch noch genau er derjenige sein, der mich im Wald gefunden hatte. Deshalb brauchte dieser Mann aber auf keinen Fall glauben, dass ich mich bei ihm bedanken müsse oder womöglich sogar in seiner Schuld stehe - nein, ganz sicher nicht - das würde ihm wahrscheinlich gerade so passen. Mein Stolz war leicht geknickt, das musste ich wohl zugeben. Aber nach der Szene, die er im Gewächshaus abgezogen hat - nein - da brauche er sich höchstens einen Tritt in den Allerwertesten von mir zu erwarten.

Andererseits ...hmmmm, wenn ich ihm schon meinen Dank aussprechen würde, dann wäre es eine gute Möglichkeit, um ihn auszufragen. Schließlich wusste er bestimmt Bescheid und Benjamin hatte mir einiges an Denkmaterial geliefert, dem ich nur zu gerne auf den Grund gehen wollte. Es wäre reiner Selbstzweck - der Kerl hatte sicher nichts gut bei mir.

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Es war Wochenende. Den ganzen Tag über hatte ich mit einem guten Roman auf meiner weichen Polstercouch gelegen, aber nun entschied ich mich doch noch eine Runde spazieren zu gehen, bevor die Sonne unterging. Auf das Laufen war mir erst mal die Lust vergangen, nach ... ihr wisst schon, was ich meine. Also schlüpfte ich in meine bequemen schwarzen Sneaker und zog mir im Vorbeigehen noch meine Denim-Jacke über mein schlichtes weißes Shirt. Das Klimpern der vielen Schüssel auf meinem Bund durchbrach die Stille des alten Wohngebäudes und auch meine flotten Schritte hallten im hohen Altbau-Stiegenhaus wider.

Als ich die dunkle und vor allem schwere Holztüre nach draußen öffnete, kam mir gleich ein kühler Windstoß entgegen und ich schlang den Jeansstoff enger um mich. Der Sommer neigte sich schon dem Ende zu und der Herbst läutete gegen Abend bereits sein feucht-kaltes Wetter ein. Doch ich beschloss, mich deshalb nicht unter meiner Decke zu verkriechen, obwohl ich das wirklich gerne getan hätte. Stattdessen entschied ich mich, meinen Kreislauf durch einen Spaziergang in Schwung zu bringen. Schnellen Schrittes marschierte ich los in Richtung des Brickparks.

Es war viel los auf Newcastles Straßen, die Menschen hupten und schlängelten sich durch den dichten Abendverkehr wie Irre. Ich war froh, auf dem Gehweg unterwegs zu sein und verstand Benjamins Entscheidung, das Lenkrad nicht selbst in die Hand zu nehmen. Ein Auto zu fahren bedeutete hier nur Stress und Aggression. Jeder wollte der Schnellste sein, aber keiner nachgiebig. Ob er überhaupt ein Auto brauchte? Vielleicht konnte er mit einer Welle durch die Stadt reiten? Wer wusste das schon - ich bestimmt nicht. Diese Wassertröpfchen bekam ich einfach nicht mehr aus dem Kopf, langsam machte es mich wahnsinnig. Vielleicht wurde ich wirklich schon irre. 

"Adeline!!", riss mich eine quirlige, mir sehr bekannte Stimme aus meiner kleinen Gedankenblase. Da sah ich auch schon die blonde Lockenmähne von Lilian, die im Takt ihrer Schritte hin und her wippte, während sie freudestrahlend auf mich zu lief. Sofort drückte sie mich an sich und fragte aufgeregt: "Was treibt dich denn hier her?"

Grinsend antwortete ich und war froh, dass sie mich aus meinen wahnwitzigen Gedanken geholt hatte: "Ich kann dir leider keine spannende Story liefern Goldlöckchen, bloß ein unschuldiger Abendspaziergang." Spielend schmollend schob sie ihre Unterlippe vor und beklagte sich: "Jetzt hätte ich mich so auf schlüpfrige Details von meiner ach so extrovertierten Freundin gefreut! Du enttäuschst mich sehr Adeline Kane!".

Doch dann konnte sie ihre Freude, mich zu sehen, nicht mehr verbergen. Aus dem Schmollmund wurde sogleich ein lautes ansteckendes Lachen, und der Lockenschopf vor mir tappte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen: "Na, wenn du schon keine Ausrede hast, um abzuhauen, werde ich dich jetzt ins Coffee schleppen, meine Liebe!"

Jetzt konnte auch ich mich nicht mehr zurückhalten und lachte lauthals mit, weil ihr Versuch, den Ton anzugeben, einfach köstlich war. Denn in Wahrheit wussten wir beide, dass sie viel zu friedvoll war, um irgendetwas anzuschaffen. "Es sei dir erlaubt mich zu entführen, Lilian Holmes!", brachte ich unter meinem Lachen schnaufend hervor und hielt ihr meinen Ellenbogen hin. Sie hakte sich schwungvoll bei mir ein und so liefen wir gemeinsam zu unserem Lieblingscafé, wo wir schon unzählige Nachmittage miteinander verbracht hatten.

Als wir nach ein paar Straßenecken endlich dort ankamen, stieß mir gleich der leckere und süße Duft der vielen bunten Cupcakes, Torten und Kekse entgegen. Das Café war klein, aber genau das machte es so überaus gemütlich und fühlte es sich wie mein zweites Wohnzimmer an. Mags, die Barista, wollte wahrlich jedem, der durch die liebevoll bemalte Schwingtüre trat, den Tag versüßen.

Lilian und ich hatten es damals durch einen mehr oder weniger glücklichen Zufall vor einigen Jahren, noch während unserer Studentenzeit, entdeckt. Damals war tiefster Winter und ein wilder Schneesturm fegte wie aus dem Nichts durch die Straßen von Newcastle. Weil wir nicht vorbereitet gewesen waren, steuerten wir auf das erste Lokal zu, das wir im dichten Schneegestöber finden konnten. Und ja, wie das Schicksal es so wollte, war es das Coffee. In jener Nacht boten sie uns einen wohlig warmen Unterschlupf an und versorgten uns sogar kostenlos mit all ihren Köstlichkeiten, bis das Unwetter sich dann endlich legte.

Auch heute ließen wir uns auf unserem Stammplatz direkt beim großen Fenster nieder und ich bestellte das Übliche: Einen koffeinfreien Haselnusslatte. Jedes Mal aufs Neue war es schwierig sich nur für eine der Delikatessen aus der riesigen Vitrine zu entscheiden, doch heute wählte ich den Waldbeeren-Cheesecake. 

"Wie geht's dir Adeline?", Lilian blickte mir tief und ernst in die Augen, in der Hoffnung etwas aus ihnen herauslesen zu können, "Du hast die letzten Tage so abwesend und nachdenklich gewirkt, aber deine Gedanken alle für dich behalten!", lenke sie das Gespräch ohne Umwege direkt in die gewünschte Bahn. Ein kurzes Lächeln huschte mir über die Lippen, sie war so eine aufmerksame Freundin und kannte mich einfach viel zu gut. Ich konnte kaum etwas vor ihr verbergen.

Und doch fühlte ich mich in einer Zwickmühle: Einerseits wusste ich nicht, ob ich ihr einfach von der Magie erzählen durfte, andererseits wurde sie mir auch ohne jegliche Bedingungen gezeigt. Wer weiß, ob sie mir überhaupt glauben würde - ich konnte es ja selbst kaum. Es war, als müsste ich einer Blume das Fliegen beibringen - schlichtweg unmöglich.

"Ich habe neue Bekanntschaften gemacht, genauer gesagt zwei: Die erste war eine sehr herzliche, aber verwirrende und die zweite eine absolut dreiste und unnötige!", bei dem Gedanken an James Jamiel, verdrehte ich unbewusst die Augen. Lilian begutachtete mich pedantisch, scannte jeden Winkel von mir und grinste dann plötzlich schelmisch übers ganze Gesicht: "Ohh Rotkäppchen, du musst mir alles haargenau erzählen!"

Neuer Lesestoff für euch! :)) Ich habe noch viel geplant und freu mich schon auf die nächsten Kapitel.

evira

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