10. Das Schlafzimmer
Ich war so erleichtert und in meinem Kopf herrschte reinstes Chaos, sodass ich mich einfach hinunterbeugte und meine Arme um James Hals schlang. Kurz fürchtete ich, er würde mich von sich stoßen. Doch dann legte auch er langsam und mit Bedacht seine Arme um mich und strich mir beruhigend über den Rücken. Erneut fing ich an zu schluchzen und vergrub mich in seinem weichen Hoodie. "Danke", wisperte ich, so leise, dass er wohl gerade noch erahnen konnte, was ich eben unter Tränen gemurmelt hatte.
"Komm, lass uns von diesem Ort verschwinden.", flüsterte er mir sanft zu und stand mit mir in seinen Armen mühelos auf. Ich klammerte mich wie eine Ertrinkende an ihn, weil er mir die einzige Geborgenheit gab, die ich im Moment kriegen konnte. Kurze Zeit später öffnete James auch schon die Türe seines Wagens und setzte mich behutsam auf dem Beifahrersitz ab. Ich zog die Knie dicht an meine Brust und lehnte meinen Kopf daran. Rollte mich ein, wie eine Kugel. Dann schloss ich meine Augen, weil meine Glieder plötzlich schwer wurden und der Adrenalinrausch abklang. Eigentlich wollte ich mich nur noch unter einer großen Decke vergraben und nie wieder rauskommen.
Als wären meine Gedanken erhört worden, legte sich tatsächlich ein weicher Stoff um meine Schultern und danach über meinen ganzen Körper. Ich öffnete meine schweren Lider und sah James, der mich in eine weinrote, flauschige Decke einwickelte. Er lächelte mir schwach zu: "Ich will nicht, dass du frierst." Ich versuchte ihm noch meinen Dank zu zeigen, aber ich war vollkommen entkräftet, weshalb meine Augen zufielen und ich in einen traumlosen Schlaf sank.
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Die hellen Strahlen der Sonne weckten mich sanft, aber ich wollte noch nicht aufstehen. Stattdessen wälzte ich mich noch ein wenig in meinem Bett herum, das über Nacht anscheinend weicher geworden war, denn ich schwebte hier drinnen wie auf einer Wolke. Ich genoss die Zeit, bis ich mich dazu durchrang, doch aufzustehen, um nicht den ganzen Tag zu verschlafen.
Blinzelnd öffnete ich meine verklebten Lider, verspannte mich jedoch augenblicklich und schreckte hoch. Ich lag gar nicht in meinem eigenen Bett, sondern befand mich in einem völlig fremden Zimmer. Da droschen auch schon wieder alle Erinnerungen des gestrigen Abends auf mich ein. Seufzend vergrub ich mein Gesicht in die silbrige Decke, ließ mich zurück in das weiche Kissen fallen und schüttelte ungläubig den Kopf - wie konnte mir das nur passieren? Still dachte ich darüber nach, warum ich mich nicht besser zu wehren gewusst hatte.
Unruhig versank ich in meinen Gedanken über gestern, heute und das ungewisse Morgen. Schlussendlich fasste ich den Entschluss, dass ich etwas in meinem Leben verändern musste. Es war Zeit, meine körperlichen und geistigen Potenziale auszuloten und vollständig auszuschöpfen. Dieser Vorfall sollte anstelle einer Last meine größte Motivation sein, um besser zu werden. Das Gefühl, nichts tun zu können, ausgeliefert zu sein und keinen Ausweg zu haben - das wollte ich nie wieder fühlen.
Ich blickte hinüber zur großen Glasfront. Der einfallende Lichtkegel der Sonne erlaubte all den kleinen Staubpartikeln im Raum zum Vorschein kommen und erleuchtete schließlich mich und das silberne Laken, auf dem ich lag. Ein warmer, goldiger Film des Sonnenscheins umschmeichelte meine Haut und ummantelte meine Seele mit Stärke. Im Gedanken daran, dass der majestätische Himmelskörper seine schützende Hand auf mich gelegt hatte, entfachte ich neue Kraft. Ich lächelte, denn die Sterne selbst hatten mich illuminiert.
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Als die Sonne weiterzog und die Wärme wich, kam ich mit meinen Gedanken wieder ins Hier und Jetzt zurück. Ich schlussfolgerte, dass ich vermutlich bei James zu Hause sein musste, schließlich erinnerte ich mich nur noch bruchstückhaft an den gestrigen Abend, nachdem ich im Auto eingeschlafen war.
Die Wände dieses Raumes waren mindestens doppelt so hoch, wie normale und die Fläche entsprach fast jener meiner eigenen kleinen Wohnung. Das hellgraue Polsterbett stand mitten im Raum und wurde durch zwei ebenfalls graue Nachtkästchen begrenzt. Minimalismus wurde hier großgeschrieben, wodurch der ohnehin gigantische Raum noch mächtiger wirkte. Es gab hier drinnen weder einen Schrank noch einen Schreibtisch. Verdammt, wie groß war denn das ganze Domizil? Das ausladende bunte Gemälde, das über dem Bett hing, war der einzige Gegenstand, der Farbe und Freude in diese vier Wände bringen konnte.
Ich blickte erneut zur gewaltigen Fensterfront, die sich über die gesamte Seite des Zimmers erstreckte. Der Ausblick war phänomenal. Das Gebäude war direkt am Fluss und ich konnte von hier sogar die berühmte Brücke unserer Stadt erkennen. "Wie kann man in diesem Alter denn so viel Geld haben?", sprach ich laut zu mir selbst, weil ich nicht fassen konnte, dass dies vermutlich James Zuhause war. Ich fragte mich, ob ich nicht doch wo anders gelandet war. Oder wohnte er vielleicht bei seinem Vater, Benjamin?
Neugierig geworden, stieg ich aus dem Bett, bereit, dieses luxuriöse Loft zu erkunden. Da erschrak ich erneut. Ein Blick nach unten verriet mir, dass meine Kleidung von gestern weg war. Meine Jeansjacke lag penibel zusammengefaltet neben meiner Hose und dem weißen Leibchen von gestern auf dem Boden. Stattdessen trug ich ein riesiges graues Sweatshirt, das wie ein Kartoffelsack an mir herunterhing.
"Wann hatte ich mich denn umgezogen? Waren das sein Gewand?", dachte ich völlig empört und mir schoss sofort die Röte ins Gesicht. Doch ich schob diesen Umstand erstmals beiseite, so wie ich mich kannte, hatte ich das Shirt wahrscheinlich in der vornächtlichen Trance übergeworfen und war ins Bett gefallen. James würde ich mir später vorknöpfen, zuerst musste ich ihn überhaupt einmal finden. Sollte meine Vermutung sich bestätigen, würde er sich hoffentlich irgendwo in seiner Behausung herumtreiben.
Barfuß tapste ich über den kühlen weißen Steinboden hinaus aus dem Zimmer. Die dunkle Türe führte mich direkt in einen exorbitanten Wohn-Esszimmer Komplex mit offener Küche. Ja, das Loft war wirklich massiv, wie ich es schon erahnt hatte. Trotzdem konnte ich auch hier niemanden finden, das Einzige, was ich mit freudiger Überraschung entdeckte, war ein reichlich gedeckter Tisch. Frischer Orangensaft, Kuchen, Obst und alles, was der Gaumen noch so begehrte. Konnte das für mich sein? - wunderte ich mich augenblicklich und schnappte mir schulterzuckend eine Weintraube aus der Schüssel.
"Guten Morgen Miss Kane!", sprach mich eine weiche Stimme an und ich wirbelte etwas erschrocken herum. Vor mir stand eine kleine Frau im mittleren Alter, schulterlangem schokofarbenem Haar und lockeren Stirnfransen, die ihre mandelförmigen Haselnussaugen umrahmten. "Ich hoffe, Sie konnten Ruhe finden, nachdem was gestern passiert ist. Ich habe Sie sofort ins Gästezimmer gebracht und Ihnen etwas Frisches zum Schlafen herausgelegt." Also war es doch nicht James, schoss es mir ein. "Mr. Hale hat leider kein Gewand, das Ihnen passen würde, also hoffe ich, dass es so in Ordnung war.", sprach sie zart und strahlte mit ihrem breiten Lächeln und den kleinen Fältchen um ihre Mundwinkel eine besondere Herzlichkeit aus. Die Art, wie sie sprach, ließ mich vermuten, dass ich wohl die Haushälterin angetroffen hatte und es bekräftigte meinen Verdacht, dass es sich um James Zuhause handeln musste.
"Oh vielen Dank, dass Sie sich so liebevoll um mich gekümmert haben! Es geht mir zum Glück gut. James war da, bevor etwas Schlimmeres passieren konnte. Und bitte, machen Sie sich keine Umstände. Sie haben bereits mehr für mich getan, als ich je von Ihnen verlangen könnte, ich bin Ihnen sehr dankbar.", sagte ich ehrlich zu ihr. Ich meinte es äußerst ernst, ich war wirklich froh, dass sie und auch James gestern für mich da gewesen waren. Die Frau lächelte mich an "Dann lasse ich Sie jetzt in Ruhe frühstücken Miss, ich wollte sowieso gerade weg. Auf Wiedersehen, machen Sie es gut!" Ich rief der lieben Frau auch noch einen Abschiedsgruß hinterher, denn sie wuselte mit ihrer bunten Stofftasche schon ums Eck.
Obwohl ich wirklich gerne in die lecker aussehenden Brötchen gebissen hätte, entschied ich mich zuerst den Besitzer dieses Apartments zu finden. Jedoch zum Ärger meines Magens, der bereits laut grummelte und nach Nahrung verlangte. Also machte ich mich rasch auf die Suche nach weiteren Türen und fand auch einige. Sollte ich einfach durch die Räume stöbern, schließlich war ich in einem fremden Zuhause? Ah, pfeif drauf! Ich schau sowieso nur rein - dachte ich mir und drückte die erste Klinke hinunter.
Es war ein Badezimmer. Natürlich, wie sollte es auch anders sein, war es pompös marmoriert und auch die eingelassene Badewanne fehlte nicht. Was für ein Traum. Aber ich schaute weiter, da der kleine Whirlpool nicht das war, wonach ich eigentlich suchte. Auch die nächsten Versuche blieben erfolglos. Ein Abstellraum und eine Vorratskammer. Ich seufzte, machte mich aber auf zur nächsten Türe, die am Ende des Gangs vor mir lag. Gerade als ich nach der Klinke greifen wollte, hörte ich eine tiefe Stimme hinter mir und meine Härchen stellten sich auf: "Das lässt du lieber.", befahl sie streng, und ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass ich fündig geworden war.
Kurz spielte ich noch mit dem Gedanken, einen Blick in diesen verborgenen Raum zu riskieren. Aber ich kam sowieso nicht dazu. Denn James war bereits neben mir, griff sachte, aber bestimmt nach meiner Hand und zog sie langsam zurück. Erneut nahm ich den angenehmen Duft von Zedernholz in seinem Parfum wahr und drehte mich zu ihm.
James dunkle Haare waren wirr durcheinander und leicht feucht, kleine Bartstoppeln umrundeten Kinn und Kieferknochen, was ihn etwas älter aussehen ließ als bei unserer ersten Begegnung. Winzige, kaum merkbare Sommersprossen verteilten sich auf seinen hohen Wangenknochen. Ein kleiner Hauch seines Atemzugs streifte meinen Hals und ich schaute in seine Augen. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass seine eisblaue Iris von feinen braunen und grünen Fäden gezogen war. Faszinierend und wunderschön zugleich.
"Ich habe bloß nach dir gesucht!", sagte ich, so unschuldig ich konnte, um meine Neugierde zu verbergen. Er beäugte mich berechnend: "Na wenn das so ist. Hier bin ich, kein Grund weiter durch meine Wohnung zu spionieren!"
Glaubt ihr daran, dass alles im Leben einen positiven & negativen Aspekt hat und es an einem selbst liegt die guten Stücke herauszupicken?
Hier haben wir einige Charakterzüge von Adeline kennengelernt, ich hoffe, ihr seid gespannt auf die Fortsetzung :))
evira
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