26. Kapitel
A D A M
Nick ist tot.
Der Gedanke traf mich am Morgen mit voller Wucht.
Gestern hatte ich mich noch in einer Art Schockphase befunden. Ich war so geschockt und hatte nicht realisieren können, dass Nick nun nicht mehr unter uns weilte, doch heute war es soweit. Und deshalb weinte ich erst einmal eine halbe Stunde, bevor ich aufstand und träge die Treppen hinunter schlurfte.
Die Stimmung wurde am Morgen nicht besser. Jeder am Küchentisch wirkte traurig und vollkommen fertig deswegen. Mum saß noch in ihrem Bademantel, hatte struppiges Haar und dunkle Ringe unter ihren Augen. Auch Dad saß nicht wie sonst in einem seiner perfekt sitzenden Anzüge, sondern bloß in seinem Schlafanzug. Maddy ließ sich gar nicht erst blicken. Mum brachte ihr etwas zum Essen nach oben in ihr Zimmer, danach hatte sie sie sofort wieder alleine gelassen. Keiner sagte etwas zum anderen, jeder trauerte stumm.
Auch Tessa sagte nichts. Sie schien sich in dieser Situation sehr unwohl zu fühlen. Kein Wunder, schließlich hatte sie nicht so einen Bezug zu Nick und litt deshalb nicht so stark wie ich und meine Familie. Außerdem war da noch das Gespräch, das wir gestern eigentlich führen wollten, sobald wir bei uns zuhause waren. Ich wollte mich von ihr trennen und sie schien das gewusst zu haben, aber durch die Umstände ist das für den Moment in Vergessenheit geraten und deshalb sitzt sie immer noch als meine offizielle Verlobte mit meiner Familie am Tisch.
Ich dachte nicht länger darüber nach, denn es war in diesem Moment unwichtig. Meine Gedanken galten bloß Nick ... und ein bisschen auch Hope. Ich könnte gerade wieder losheulen, wenn ich nur an diese zwei schmerzlichen Momente in den letzten zwei Tagen dachte. Zuerst hatte ich Hope an einen anderen Mann verloren und jetzt war auch Nick für immer und ewig weg. Ich würde nie wieder einen seiner schlechten Witze und Anmachsprüche hören, nie wieder solche lustigen Momente mit ihm erleben und auch nie wieder über ernste Themen sprechen. Ich würde nie wieder mit ihm auf der Veranda sitzen und locker über das letzte Footballspiel oder etwas dergleichen sprechen können. Wir würden nie wieder in einem der vollen Stadien sitzen, um uns eines der Spiele anzusehen. Wir würden nie wieder Zeit miteinander verbringen. Und das, was mir am meisten das Herz brach, war, dass Maddy und Nick niemals heiraten und er niemals sein Kind aufwachsen sehen können, obwohl er sich darauf am meisten gefreut hatte.
»Ich schau mal nach Maddy« meinte ich dann zu meinen Eltern. Mum nickte. Zu mehr war sie gerade nicht im Stande. Dad verzog seine Lippen zu einem halbherzigen Lächeln. Ich habe ihn noch nie so emotional und mitgenommen gesehen. Der Tod von Nick muss ihm sehr zugesetzt haben.
Oben angekommen klopfte ich zaghaft an Maddys Zimmertür. Sie sagte nichts und ich haderte einen Moment, ob ich einfach hereinkommen oder sie lieber in Ruhe lassen sollte. Letztendlich entschied ich mich für ersteres und öffnete langsam die Türe. Meine Schwester saß auf dem Bett, hatte Tränen im Gesicht, rote Wangen und dunkle Ringe unter den Augen. Vor ihr lagen ein paar Fotos und das erste Ultraschallbild ihres Babys. Das Essen, das ihr Mum nach oben gebracht hatte, lag noch unangerührt auf ihrem Nachttisch.
»Hey« sagte ich bloß, weil mir nichts besseres einzufallen schien. Ich versuchte, ein kleines Lächeln mit meinen Lippen zu formen, doch es fiel mir erheblich schwer. Maddy sah mich bloß an, schien kein Wort herauszubringen. Dann sah sie wieder nach unten auf die Bilder. Eine Träne rollte stumm über ihre Wange und nur krampfhaft konnte sie ein Schluchzen zurückhalten. Mein Herz blutete bei diesem Anblick.
Ich hasste es, meine kleine Schwester traurig zu sehen. Und so gebrochen und verletzt hatte ich sie noch nie zuvor gesehen. Ich überlegte nicht lange, sondern bewegte mich auf sie zu, setzte mich neben sie und nahm sie fest in den Arm.
»Wieso musste er jetzt sterben?« hauchte Maddy und augenblicklich liefen unendlich viele Tränen über ihre Wangen. »Wieso?« brachte sie unter all den Schluchzern hervor, danach brach ihre Stimme ab und sie weinte einfach nur noch in meinen Armen. Ich kniff die Augen zusammen und spürte, wie sich in meinen Augen langsam Tränen bildeten. Ich fragte mich ebenfalls, warum das Leben manchmal so ungerecht und unfair sein muss, dass es uns einen Menschen wegnimmt, wo wir ihn doch gerade jetzt so sehr gebraucht hatten? Wo doch alles so perfekt in letzter Zeit schien?
Wir saßen eine ganze Weile einfach nur da, hielten uns in den Armen und trauerten. Um einen guten Kumpel, der für meine Schwester sicherlich ein guter Ehemann und für deren gemeinsames Kind ein guter Vater gewesen wäre. Irgendwann begannen wir uns Bilder anzusehen und uns an die schönen Momente zu erinnern. Für wenige Sekunden mussten wir sogar lächeln, wenn uns wieder einmal die lustigen Erinnerungen mit ihm einfallen. Doch gleich darauf steigt die Trauer umso mehr, denn wir realisierten, wie langweilig und merkwürdig der Alltag plötzlich ohne ihn sein würde - besonders für Maddy, die seit ihrem Schulabschluss jede freie Minute mit ihm verbracht hatte.
Am späten Nachmittag verabschiedete ich mich dann in mein Zimmer. Sie brauchte auch Zeit für sich alleine und die gab ich ihr. Ich schmiss mich auf mein Bett und starrte die Decke über mir an. Draußen wurde es bereits dämmrig und durch die geöffnete Balkontür strömte ein kalter Wind in den Raum. Die Gespräche mit Maddy hatten mich ein wenig abgelenkt, auch wenn sie die meiste Zeit von Nick gehandelt hatten. Aber kaum lag ich alleine in meinem Zimmer, fast schon im Dunkeln, spürte ich einen dicken Kloß in meinem Hals und diese quälenden Gedanken, dass Nick nicht mehr unter uns weilte und ich deshalb einen sehr guten Freund verloren hatte, kreisten ständig durch meinen Kopf.
Der Abschied gestern am Auto war wirklich wie ein endgültiger Abschied. Nicht, weil ich nicht mehr in meine Heimatstadt zurückkehren wollte, sondern weil Nick dann nicht mehr da sein wird.
Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, die Tränen hinunterzuschlucken. Ich fühlte mich schwach, so unendlich schwach, weil ich die letzten zwei Tage fast nur noch am Weinen war. Erst wegen dem endgültigen Schlussstrich mit Hope und jetzt wegen eines verstorbenen Freundes.
Ich erinnerte mich an die Fotos, die ich mir mit Maddy angesehen hatte, wie wir zum Beispiel alle nach unserem Abschluss in die Kamera gelächelt hatten. Nick, Scott, Damian, Jonas, Hope und ich standen vor dem Gebäude in den Umhängen und Hüten und mit unseren Zeugnissen in den Händen. Wir alle waren glücklich, hatten große Pläne für unser Leben und jetzt ... jetzt fehlte in unserer Gruppe ein ganz bedeutender Mensch.
Was taten eigentlich gerade meine anderen Freunde? Sicherlich hatten sie auch bereits erfahren, was mit Nick geschehen war. Eigentlich sollte ich mich bei ihnen melden, mit ihnen sprechen - vielleicht würde es mir gerade jetzt gut tun, mit ihnen gemeinsam die Trauer zu bewältigen -, aber ich traute mich nicht. Bis auf Jonas hatte ich kaum bis gar keinen Kontakt in den letzten Jahren gehabt. Ich brauchte den Abstand zu all meinen Erinnerungen an Hope, um mit unserer Trennung klar zu kommen und um das alles zu vergessen. Also hatte ich mich auch nicht mehr bei meinen Freunden gemeldet. Jonas war der Einzige, der zu hartnäckig war, um ihm aus dem Weg gehen zu können, genauso wie Nick, dem ich dadurch, dass er mit meiner Schwester zusammen war, nicht als Kontakt meiden konnte. Aber wie es Scott oder Damian ging, davon hatte ich keinen blassen Schimmer. Die paar Nachrichten, die ich mit Damian ausgetauscht hatte, waren so unpersönlich und nur wenig informativ, als wären wir bloß alte Bekannte, die sich in der Schule vielleicht ein paar Mal auf dem Gang gegrüßt hatten.
Ich fühlte mich mies, weil ich meine Freunde fallen gelassen hatte. Vielleicht ging es ihnen nicht gut, hatten mit Problemen zu kämpfen und hätten deshalb einen guten Freund gebraucht, der ihnen durch diese Zeit beistand, aber ich hatte ihnen bloß die kalte Schulter gezeigt, auf keine Nachrichten mehr geantwortet und mich vollkommen aus der Gruppe gezogen. Und gerade jetzt, wo man gesehen hatte, wie schnell das Leben einen selbst oder das eines guten Freundes zu Ende sein kann, hasste ich mich dafür, dass ich diese wertvolle Zeit nicht genutzt hatte, um noch weitere schöne und lustige Momente mit Nick und den anderen zu verbringen. Wer weiß, wann es den nächsten von uns traf. Vielleicht in zehn oder sechzig Jahren, vielleicht aber auch bald. Fakt ist, wir wissen nicht, wann das Leben zu Ende ist, und deshalb sollten wir jede freie Sekunde genießen und das Beste aus allen Situationen machen. Träume erfüllen. Keine halben Sachen machen. Und ganz wichtig: Zeit mit den Menschen verbringen, die einem wichtig sind.
Aber wie sollte ich das bloß anstellen, wo wir doch schon so viele Jahre keinen Kontakt hatten? Sollte ich Scott oder Damian einfach anrufen? Aber was sollte ich dann sagen? Wie fing man ein Gespräch mit Freunden, mit denen man jahrelang keinerlei Kontakt hatte, an? Würden wir überhaupt jemals zu den Freunden werden, die wir einst waren?
Mein Herz zog sich krampfhaft zusammen, als ich wieder an das Bild dachte, auf dem Hope und ich nebeneinander glücklich neben meinen Freunden, die zu diesem Zeitpunkt auch ein wenig ihre geworden sind, am Tag der Zeugnisausgabe standen. Diese Zeit erinnerte mich nicht nur an meine alten Freundschaften, die ich nach dem Studium leider viel zu sehr vernachlässigt hatte, sondern auch an meine Beziehung mit Hope, die ich leider viel zu schnell aufgegeben hatte, weil ich Idiot wirklich geglaubt hatte, dieses wundervolle Mädchen jemals vergessen und durch eine andere x-beliebige Frau ersetzen zu können. Es heißt doch, man soll jede Sekunde in seinem Leben genießen soll, weil man eben nicht weiß, wann dieses zu Ende ist, aber wie sollte ich das können, wenn mir das größte Glück verwehrt bleibt, weil ich zu lange gebraucht hatte, um zu realisieren, dass ich darüber niemals hinweg kommen würde?
Mein Kopf explodierte fast wegen all dieser Gedanken. Ich fragte mich neben all den Fragen, wieso das mit Nick passieren musste, auch was Hope gerade tat. Ob sie auch schon von Nicks Unfall wusste? Oder ob sie sich nichtsahnend mit ihrem Chef, ihr neuer Liebhaber, im Bett herumwälzte und einfach glücklich war? Wenn ich nur an Mr. Chambers dachte, wie er Hope angesehen und ihr einen Kuss auf die Schläfe gegeben hatte, hatte ich das Bedürfnis, mich auf der Stelle zu übergeben. Ich konnte noch immer nicht fassen, dass sich Hope auf so etwas eingelassen hatte. Auf eine Beziehung mit ihrem Vorgesetzten.
Meine Gedanken wurden von einem Klopfen an meinem Zimmer unterbrochen. Kurzerhand öffnete sich die Türe und Tessa streckte vorsichtig den Kopf ins Zimmer. »Ich hoffe, ich störe nicht. Ich wollte nur meinen Koffer holen, der hier noch steht« meinte sie. Ich nickte, dann trat sie in mein Zimmer. Als sie an ihrem Koffer ist, bleibt sie stehen und sah mich an.
»Tut mir leid, was passiert ist« sagte sie. »Ich kannte Nick leider nicht so gut, ... aber er war cool« Ihre Stimme war belegt. Ich sah das Glänzen in ihren Augen und wie sie die Lippen aufeinander presste, als müsse sie sich ebenfalls zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen. So wie ich schon den ganzen gestrigen und heutigen Tag es krampfhaft versuchte, aber immer mal wieder daran scheiterte.
»Also wenn du mal reden willst, ich bin jederzeit bereit, dir zuzuhören« Sie sah hinunter auf ihre Füße und wirkte so schüchtern und unsicher - so kannte ich sie überhaupt nicht. »Ich weiß, wir haben nicht das beste Verhältnis und ..., aber ich wollte nur, dass du weißt, dass ich da bin«
Sie machte bereits auf dem Absatz kehrt, mit dem Koffer in ihrer Hand, doch da hielt ich sie noch einmal auf. »Tessa«
Sie drehte sich um, sah mich verwundert und etwas neugierig an. »Danke« meinte ich ehrlich. Sie schenkte mir daraufhin ein kleines Lächeln. Und ich erwiderte es. Dann verschwand sie wieder und ich war alleine in meinem Zimmer. Ich war verwundert über das Gespräch. So nett waren wir schon lange nicht mehr miteinander umgegangen. Wir hatten uns eher ignoriert, als dass wir auf die Gefühle anderer eingegangen sind. Deshalb hatte ich es auch noch nicht übers Herz gebracht, mit ihr über unsere Trennung zu sprechen. Da war gerade zu viel anderes, mit dem ich erst einmal klarkommen musste, wie zum Beispiel die Verarbeitung von Nicks Tod. Dieses Gespräch sollten wir nicht heute führen, wo schon viel zu viele Tränen geflossen waren und wo jeder sowieso nur mit seinen Gedanken an Nick hing.
Draußen war es bereits stockdunkel, nur der Mond und die Straßenlaternen spendeten ein wenig Licht. Ich versuchte, meine Gedanken abzuschalten und ein wenig zu schlafen. Eigentlich war heute Silvester und deshalb sah man auch schon vereinzelt Feuerwerk am Himmel leuchten, aber nach all den Geschehnissen war weder mir sonst einem anderen in diesem Haus zum Feiern zu Mute. Ich wollte gar nicht ins neue Jahr feiern, weil dieses für mich schon gar nicht gut anfangen konnte, sondern diesen Jahreswechsel lieber verschlafen, aber meine Gedanken wollten einfach nicht verstummen. In meinem Inneren war da diese Leere, die sich unerträglich anfühlte. Meine Luftröhre schnürte sich zu, sodass ich das Gefühl hatte, nicht richtig atmen zu können. Mein Herz zog sich immer wieder krampfhaft zusammen. Ich wollte, dass das aufhört. Dieser Schmerz, diese Gedanken, diese Leere sollten aufhören.
Ich schaute auf mein Handy, scrollte durch Social Media und sah, wie andere fröhlich in das neue Jahr feierten, mit vielen Freunden und reichlich Alkohol.
Ich setzte mich auf und überlegte. Plötzlich fühlte ich mich in diesem Zimmer und im ganzen Haus so eingeengt, als hätte ich nicht genug Raum, zum atmen. Ich kämpfte mal wieder mit den Tränen, aber es war einfach kaum auszuhalten hier, weswegen ich mich dazu entschloss, nach draußen zu gehen. Ich packte mein Handy in die Hosentasche, zog mir unten an der Garderobe Schuhe und Jacke an und verließ anschließend das Haus.
Ich schlenderte durch die Straßen, versuchte tief ein und auszuatmen, um mich ein wenig zu beruhigen, aber selbst das ließ mich nicht weniger aufgewühlt sein. Diese unerträgliche Leere in meinem Inneren wollte einfach nicht verschwinden. Ich sah keinen Ausweg mehr, wie ich diesen Schmerzen in meiner linken Brust ausblenden konnte ... bis ich so weit gelaufen bin, dass ich im Stadtinneren an einer Bar vorbeilief, aus der laute Musik dröhnte. Es hieß "Lonely" und war ein Remix mit lauten Beats, zu denen man sicherlich gut tanzen konnte. Irgendwie passte es zu meiner Situation, denn ich fühlte mich gerade auch einsam.
Ich blieb vor dem Gebäude stehen. »Ey, frohes Neues, Bruder« grölte ein mir unbekannter und völlig betrunkener junger Mann zu mir, als er die Bar mit einem anderen gutgelaunt und schwankend verließ.
»Aber es ist doch noch gar nicht 0 Uhr« wies der andere ihn hin. Die beiden fingen aus unerklärlichen Gründen an zu lachen, dann liefen sie die Straße entlang.
Ich überlegte nicht lange, sondern betrat die Bar. Mir kam sofort der Geruch von Schweiß und Alkohol entgegen. Die Leute tanzten eng aneinander auf der Tanzfläche zum besagten Lied, gingen ab und an an die Bar, um sich ein paar Getränke für sich und ihre Freunde zu besorgen. Die Stimmung wirkte entspannt und ausgelassen. Vielleicht werde ich nach ein paar Shots auch gelassener ...
»Ey, was machst du denn hier?« Ich drehte mich zur Seite, als ich mich an den Tresen stellte, und entdeckte einen alten Studienfreund, den ich seit dem Abschluss nicht wieder gesehen hatte.
»Zwei Shots« rief er dem Barkeeper zu, ohne auf eine Antwort meinerseits auf seine Frage zu warten. Wir stießen gemeinsam mit den Shots, die er kurzerhand über den Tresen schob, an und tranken die Flüssigkeit in einem Zug. Es brannte wie Feuer in meiner Kehle, aber das störte mich nicht. Stattdessen bestellte ich noch einmal welche, nachdem er mir auch seine Freunde, mit denen er hier aufgetaucht ist, vorgestellt hatte.
»Die Runde geht auf mich!« rief ich über die laute Musik hinweg. Sie jubelten und kurz darauf schütteten wir uns die brennende Flüssigkeit in den Rachen. Es folgten mit der Zeit weitere Shots und mit jedem weiteren wurde das Brennen weniger. Ab und an verschwanden ein paar auf der Tanzfläche. Manchmal folgte ich ihnen, manchmal blieb ich stattdessen mit den restlichen an der Bar stehen, um weiter zu trinken und ab und an ein paar Wörter über die laute Musik hinwegzuschreien.
Alles fühlte sich leichter an. Der Schmerz war fast schon vergessen, genauso wie die damit verbundenen Gedanken. In meinem Inneren breitete sich eine wohlige Wärme aus und ich wurde tatsächlich gelassener. So kam es auch dazu, dass ich auf der Tanzfläche nicht nur reglos daneben stand, sondern mich auch ein wenig zur Musik bewegte. Die Beats durchfluteten meinen Körper, über den ich schon fast keine Kontrolle mehr zu haben schien. Eine der Frauen kam mir ab und an etwas näher und mich störte es nicht im Geringsten.
Um Mitternacht standen wir kurz alle draußen und betrachteten das Feuerwerk. Auch einige Gäste der Bar zündeten etwas an. Die anderen fielen sich in die Arme, Paare küssten sich und Freunde stießen an. Kurze Zeit später standen wir aber schon wieder im Inneren der Bar. Der Alkohol floss reichlich, Menschen tanzten wieder zur Musik und genossen die ersten Stunden des neuen Jahres. Es war anders, als wenn ich wahrscheinlich mit meinen eigenen Freunden gefeiert hatte und normalerweise hätte mich dieser Gedanke in depressive Verstimmungen gebracht, aber der Alkohol in meinem Körper hielt mich davon ab.
Zurück am Tresen bestellte ich gleich wieder etwas Alkoholisches und stieß mit den anderen an. Die meisten verschwanden danach wieder auf der Tanzfläche, als Notorious B.I.G. lief, sodass nur noch ich und mein alter Studienfreund dort blieben.
»Wie gehts Hope? Seid ihr noch zusammen?« brüllte er über die Musik, während er den Kopf leicht zur Musik bewegte. In seiner Hand hielt er zur Abwechslung ein Bier. Ich schüttelte den Kopf. Auch wenn der Alkohol mich vieles in diesem Moment vergessen ließ, so hatte diese Frage mich vollkommen aus dem Konzept gebracht. Ich spürte wieder diese schmerzliche Erinnerung daran, dass Hope und ich kein Paar mehr waren und es auch nie wieder sein werden, obwohl ich es mir so sehr gewünscht hätte, wenn wir uns noch einmal eine Chance gegeben hätten.
»Ich geh mal zu den anderen« meinte er dann und ging schwankend auf seine Freunde zu. Diese begrüßten ihn teilweise mit Grölen oder dass sie sich in die Arme fielen. Sie waren bereits vollkommen betrunken, genauso wie ich, nur dass sich der Gedanke an Hope wohl doch nicht so wegtrinken ließ, wie gehofft.
Die Sicht verschwamm immer wieder vor meinen Augen. Die Luft wurde immer stickiger. Mein Kopf dröhnte. Ich suchte den Ausgang der Bar. Als ich diesen gefunden hatte, atmete ich erst einmal tief ein und aus. Ich entschied mich, ein paar Schritte zu gehen. Immer wieder standen Leute in Gruppen auf den Straßen und wünschten sich ein frohes Neues Jahr. Manche riefen auch mir Glückwünsche fürs neue Jahr zu, obwohl man sich gar nicht kannte.
Ich dachte wieder nur an Hope. Normalerweise würde ich mich jetzt einfach in mein Bett verkriechen und mich beklagen, was für ein riesengroßer Idiot ich damals war, als ich sie einfach gehen lassen hatte. Doch der Alkohol verleitete mich zu etwas anderem. Ich holte mein Handy hervor, während ich die Straße entlang lief - wohl eher gesagt schwankte. Ich wollte erst versuchen, eine Nachricht einzutippen, doch daran scheiterte ich kläglich, weil ich immer wieder nur verschwommen sah. Als ich dann in diese eine Straße einbog und das Auto von Mr. Chambers, mit dem er zu unserem Geschäftsessen kam, vor einem Mehrfamilienhaus stehen sah, war der Drang nach Hope viel zu groß, als dass ich jetzt einfach nach Hause gehen könnte. Ich wechselte von Nachrichten zu Telefon auf meinem Handy und suchte in meinen Kontakten nach ihrer Nummer. Ich war mir nicht sicher, ob sie nach den Jahren noch immer die gleiche Handynummer hatte, aber ich dachte darüber gar nicht mehr nach, sondern drückte auf den grünen Knopf und hielt mir das Handy ans Ohr.
Vielleicht war das keine gute Idee, seine Ex kurz nach Mitternacht vollkommen betrunken anzurufen, während man vermutlich vor ihrem eigenen Zuhause stand, aber der Alkohol brachte mich dazu, Dinge zu tun, die ich tief in meinem Inneren brauchte. Ihre Stimme zu hören. Denn das war vermutlich das Einzige, was mich beruhigen könnte.
»Ja?«
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