24. Kapitel

A D A M

Den restlichen Tag über herrschte eine unangenehme Stimmung im Haus. Keiner wusste so recht, was er sagen sollte. Besonders in meiner Anwesenheit hielten sich alle zurück, um nichts falsches zu sagen. Ich wusste nicht, was meine Eltern oder Tessa genau wussten, nachdem Maddy mit ihnen gesprochen hatte, aber es war eigentlich auch nicht wichtig. Hauptsache, ich musste es ihnen nicht erzählen, denn mein Herz würde das nicht verkraften. Ich wollte diesen Tag einfach nur aus meinen Gedanken streichen, als wäre er nie passiert. Aber so einfach war das leider nicht. Ich bekam es nicht aus dem Kopf. Ich bekam sie nicht aus dem Kopf. 

Nach dem Gespräch mit Maddy bekam ich keine mehr zu Gesicht. Mum und Dad zogen sich zurück ins Schlafzimmer und Tessa verschwand im Gästezimmer. Ich war froh darüber. So hatte ich wenigstens für diese Nacht meine Ruhe. Ich musste nicht mit Tessa in einem Bett schlafen oder eine stundenlange Diskussion ertragen, bei der wir dem anderen nur verletzliche Dinge an den Kopf werfen. 

Maddy, Nick und ich saßen unten im Wohnzimmer und sahen uns eine Reality-Show im Fernsehen an. Ich konzentrierte mich nicht wirklich darauf. Meine Gedanken waren ganz woanders. Dort, wo sie eigentlich nicht sein sollten. 

Was Hope wohl gerade durch den Kopf ging? Dachte sie auch an mich? An unsere schöne Zeit zurück? Oder war ich ihr schon wieder vollkommen egal? Allein, wenn ich daran dachte, dass sie wahrscheinlich gerade mit Mr. Chambers, ihrem Chef, in einem Bett lag und sie sich womöglich noch lustig über mich und mein Auftreten machten, drehte sich der Magen um und ich könnte auf der Stelle kotzen. Ich sah, wie sie sich einen winzigen Augenblick vertraut in die Augen gesehen hatten und wie er sie auf der Schläfe geküsst hatte, bevor er Hope und mich alleine gelassen hatte, und spürte schon wieder diesen dicken Kloß im Hals. 

Diese Gefühle würden wohl niemals weggehen . . .

Maddy diskutierte mit Nick darüber, ob dieser eine Typ in der Reality-Show, der immer oberkörperfrei durch die Gegend spazierte, denn nun wirklich gut aussah, wie Maddy die ganze Zeit behauptet. Nick war da nämlich anderer Meinung. »Ich seh viel besser aus als der da«

»Naja ... Wenn du meinst« meinte Maddy, sah ihn an und musste augenblicklich grinsen. Über Nicks Gesicht huschte ebenfalls ein Grinsen, während sie sich tief in die Augen sahen. Sie bemerkten dabei nicht, wie ich sie anstarrte. Mir wurde immer schlechter, nicht weil ich ihnen diese Liebe nicht gönnte, sondern weil ich es momentan nicht ertrug, andere Menschen verliebt zu sehen. Ich musste dann immer an meine Beziehung mit Hope denken. Dass wir uns wahrscheinlich genauso verliebt angesehen haben, wie Maddy und Nick es gerade taten. Dass wir einst auch so glücklich miteinander waren, wie es die beiden gerade waren. 

Ich wandte schnell den Blick von ihnen ab, als sie sich küssten und starrte unbehaglich zumute auf meine Hände. Ich versuchte an alles Mögliche außer an Hope und unsere Beziehung zu denken, doch in diesem Moment dachte ich an nichts anderes außer genau an das, woran ich nicht denken wollte. An Hope und unsere Beziehung. Und an Mr. Chambers. 

Ich hatte ihn eigentlich gemocht. Er war nett und nicht schon wieder einer dieser eingebildeten Geschäftsmänner, die sich wie Gott persönlich fühlten. Aber jetzt hasste ich ihn einfach nur. Weil er Hope haben durfte und ich nicht. Und vor allem, weil er wahrscheinlich besser war, als ich es jemals sein könnte. 

»Ich verschwinde mal nach oben« murmelte ich und stand vom Sofa aus. Die beiden schienen erst jetzt wieder daran zu denken, dass ich neben ihnen saß und dass ich nebenbei bemerkt ein ziemlich großes Wrack bin. 

»Jetzt schon?« fragte Maddy überrascht nach. »Bleib doch noch ein bisschen«

»Ich bin müde« log ich. Ich war hellwach. »Es war ein anstrengender Tag« Ich versuchte, nicht wieder an diesen Tag denken zu müssen und es gelang mir nur halbwegs und mit größter Mühe. Maddy nickte verständnisvoll. Sie wirkte besorgt um mich. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen um mich machte. Also zwang ich mir ein kleines Lächeln auf die Lippen.

»Falls du was brauchst, du weißt ja, wo wir sind« Ich nickte und dann wünschen wir alle noch Gute Nacht, bevor ich die Treppen nach oben verschwand. Durch den unteren Spalt der geschlossenen Tür vom Gästezimmer sah ich Licht durchscheinen. Tessa schien ebenfalls wach zu sein. Und als ich daran vorbeilief, hörte ich ihre Stimme, wie sie wahrscheinlich mit ihrer Freundin via Telefon sprach:  »Aber was, wenn er es wirklich ernst gemeint hatte? Wenn wir nicht länger verlobt sind?« Ihr Stimme klang brüchig. »Ich will ihn doch nicht verlieren« 

Ich lief weiter den Gang entlang, bis ich in meinem alten Jugendzimmer angekommen war. Die Sachen, die ich in meiner Wut runtergeschmissen hatte, lagen noch immer verstreut auf dem Boden herum. Genauso wie die Klamotten, die ich einfach auf den geöffneten Koffer geschmissen habe. 

Da ich sowieso nicht einschlafen könnte, machte ich mich an die Arbeit, hier wieder ein wenig Ordnung hereinzubringen. Ich legte die Sachen zurück auf ihren ursprünglichen Platz und packte die Kleidung von Tessa und mir jeweils in ihre Koffer. Schließlich wollte ich morgen wieder abreisen. Am besten gleich in der Frühe, denn jede Stunde, jede Minute, die ich hier länger verbrachte, ließ mein Herz noch weiter schmerzen. Und diesen Schmerz wollte ich nicht noch länger ertragen müssen. 

Nicht einmal in meinem Zimmer konnte ich vor all diesen schmerzhaften Dingen flüchten, denn alles erinnerte mich an Hope. Da lag dieses Foto von uns in der Nachttischschublade, auf dem Schreibtisch befanden sich ein paar Schulaufgaben in ihrer Handschrift und im Kleiderschrank hingen noch ein paar ihrer Kleidungsstücke. Selbst meine Klamotten erinnerten mich teilweise an sie, besonders der eine Hoodie, den sie sich immer übergezogen hatte und den sie auch ein paar Mal heimlich mit sich gehen gelassen hatte, weil sie diesen so gerne mochte. 

Als ich das Bild von ihr in meinem Hoodie auf meinem Bett sitzen sah, musste ich schwer schlucken. Mein Herz begann erneut zu bluten. Der Kloß in meinem Hals wurde größer und größer. 

Diese Gedanken würden niemals verschwinden, vor allem nicht hier, in meiner alten Heimat, in der alles begonnen hatte. Wo ich mich langsam aber sicher in dieses Mädchen mit den atemberaubenden blauen Augen verliebt hatte. 

Deswegen stand mein Entschluss fest: Ich würde morgen früh sofort von hier verschwinden, zurück nach New York fahren. Ich werde das mit Tessa beenden, endgültig. Ich werde mich in meine Arbeit stürzen, sodass ich gar keine Zeit finden werde, an irgendetwas anderes zu denken, dass in meinem Inneren nur wieder wehtun würde. 

Ich würde versuchen, Hope aus meinem Kopf zu streichen. Sie endgültig zu vergessen. Das würde das Schwerste sein, was ich jemals hätte tun müssen. 

•  •  •

»Und du bist dir sicher?« fragte Maddy mich zum tausendsten Mal. Ich nickte. »Es ist besser so«

Sie drückte mich fest an sich, schien mich gar nicht mehr loslassen zu wollen und fing dann auch noch an, Tränen in den Augen zu haben. »Ich bin ja nicht aus der Welt« murmelte ich und strich mit der Hand beruhigend über ihren Rücken. Nick legte eine Hand auf ihre Schulter und zog sie sanft ein wenig von mir ab. Sie kuschelte sich an ihn und ließ die Tränen über die Wangen rollen. Abschied fiel Maddy noch nie besonders leicht. Vor allem nicht von Menschen, die ihr wichtig waren. 

Dann war Mum an der Reihe. Auch sie wirkte betrübt und traurig. Sie sah mich einen Moment lang mit einer Sorgenfalte auf ihrer Stirn an, dann nahm sie mich fest in die Arme. »Mein Großer« flüsterte sie. »Pass auf dich auf. Und meld dich, wenn du angekommen bist«

Sie löste sich wieder von mir und versuchte krampfhaft, die Tränen zurückzuhalten. »Und diesmal wartest du nicht mehr so viele Jahre, bis du dich wieder bei uns blicken lässt« Ich nickte, auch wenn ich nicht vorhatte, jemals wieder hier zurückzukehren. Aber das musste ich ihr ja nicht sagen. Sonst würden noch mehr Tränen fließen und noch mehr Versuche, mich aufzuhalten, gestartet werden. Ich sah in meinem Blickwinkel Maddy und war mir sicher, dass Maddy das wusste. Sie kannte mich. Und das würde auch ihre Reaktion, ihre Tränen erklären. Weil sie nicht weiß, wann sie mich das nächste Mal sehen wird.

Die Verabschiedung zwischen Dad und mir verlief anfangs relativ emotionslos. Er wünschte mir eine gute Heimreise und schüttelte mir bloß die Hand, als sei ich einer seiner Geschäftspartner, von denen er sich gerade verabschieden musste, nicht sein eigener Sohn. Doch dann schlug er mit der Hand auf meine Schulter und sagte Worte, die ich nie glaubte, von ihm jemals zu Ohren zu bekommen. »Ich bin stolz auf dich, was du alles in deinem Leben erreicht hast« 

Innerlich freute ich mich wie ein kleines Kind, weil ich endlich diese Anerkennung von meinem Dad bekomme, die ich mir schon immer gewünscht hatte, doch gleichzeitig erstickte ich diese Freude, weil er in Wahrheit nicht stolz auf mich sein könnte, wenn er wusste, wie es wirklich aussah. Dass ich Tessa nicht liebte und ihr genau das sagen werde. Dass ich die Verlobung auflösen werde, weil ich meiner alten Jugendliebe nachtrauerte. Dass ich meinen Job nur halb so gerne machte, wie ich es vorgab. Dass ich die Partnerschaft mit Mr. Chambers beenden werde, bevor die Arbeit überhaupt angefangen hatte, weil ich es nicht ertragen würde, die beiden turtelnd in New York herumspazieren zu sehen. 

Ich zwang mir ein Lächeln auf und versuchte, mich wenigstens für den Moment zu freuen. Ich folgte Tessa und Nick zu meinem Auto, der uns mit den Koffern half. Wir verstauten diese im Kofferraum. Nick verabschiedete sich von Tessa mit einer kurzen Umarmung, bevor sie schon einmal in mein Auto einstieg. 

»Du wirst nicht mehr zurückkommen, hab ich Recht?« meinte er und ich nickte nach kurzem Zögern. Er war eines meiner besten Freunde und er schien mich zu verstehen. Er sah kurz in die Richtung, wo Maddy stand. Er wusste ganz genau, dass es ihr das Herz brechen wird, aber er sagte nichts weiter dazu. Stattdessen zog er mich in eine freundliche Umarmung und klopft mir auf den Rücken. »Ich hoffe, du findest dein Glück« 

Wir wechselten noch ein paar Worte, dass er mich mit Maddy mal besuchen kommen wird und dass ich mich immer bei ihnen melden könnte, wenn etwas sei. Dass er mein bester Freund und immer für mich da wäre. Ich wünschte ihm viel Glück mit meiner Schwester und für ihr Kind. Ich sagte ihm, dass ich mich sehr freuen würde, wenn sie mich einmal besuchen kommen. Und dann gaben wir uns noch diesen Handschlag, den wir uns immer zum Abschied gegeben hatten. Aber diesmal fühlte es sich anders an. Vielleicht, weil wir uns nicht wie gewohnt am nächsten Tag sehen werden. Vielleicht, weil wir diesmal nicht wussten, wann wir uns das nächste Mal sehen würden. 

»Oh, ich muss dann auch mal los. Ich hab noch einen Termin beim Juwelier« sagte er beiläufig. Ich sah ihn verwundert an. »Zum Juwelier«

»Dir kann ich es ja schon einmal sagen... ich will deiner Schwester einen Antrag machen« erzählte er mir und strahlte dabei bis über beide Ohren. Ich freute mich für ihn. Für beide. Sie schienen ihr Glück gefunden zu haben. 

»Das freut mich« meinte ich ehrlich. 

»Und hey, nicht den Kopf hängen. Du findest auch noch den passenden Deckel« meinte er aufmunternd und grinste. Ich zwang mir ein Lächeln auf, zuckte aber mit den Schultern. Ich bezweifelte, dass es für mich noch eine andere Richtige gab außer Hope. 

»Machs gut. Und wehe du meldest dich nicht, wenn du zuhause angekommen bist. Ich möchte nicht, dass alle noch einen Herzinfarkt bekommen und sich die schlimmsten Szenarien ausmalen, wenn sie nichts von dir hören« 

Damit verabschiedeten wir uns endgültig. Nick lief zurück zu den anderen und ich stieg zu Tessa in den Wagen. Sie starrte geradeaus, sah mich nicht an und sagte auch nichts. Wir hatten schon viele Auseinandersetzungen, aber keine war so wie gestern. Es standen noch so viele unausgesprochene Worte zwischen uns und ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte. Auf jeden Fall fühlte es sich nicht richtig an, loszufahren und stundenlang im gleichen Auto mit ihr zu sitzen, ohne das vorher geklärt oder zumindest vorher angesprochen zu haben. Ich wollte sie nicht noch weitere Stunden anlügen, was meine Gefühle betraf. So wenig wie ich sie leiden konnte, hatte sie es nicht verdient, noch länger etwas vorgespielt zu bekommen. So etwas hatte kein Mensch auf der Welt verdient. Und auch ich hielt es länger nicht mehr aus, neben ihr zu sitzen und so tun zu müssen, als sei zwischen uns alles perfekt. Als seien wir das perfekte Pärchen, das es gar nicht länger erwarten konnte, vor dem Traualtar zu stehen und sich das Ja-Wort zu geben. 

»Wegen gestern... « fing ich an, doch sie unterbrach mich sogleich, ließ mich nicht weiter zu Wort kommen. »Ich weiß, was du mir zu sagen hast. Und von mir aus können wir das ausdiskutieren, aber bitte ... bitte nicht jetzt« flehte sie mich regelrecht an. Sie drehte das erste Mal wieder ihren Kopf in meine Richtung und sah mir in die Augen. Sie hatte dunkle Ringe unter ihnen und ihre Haut war ein wenig gerötet. Hatte sie gestern Nacht geweint? 

»Lass uns das zuhause besprechen« Ihre Stimme war kratzig und brüchig. Ich nickte. Auch wenn ich sie nicht liebte und sie mir auch in keinster Weise wichtig war, tat es ein wenig weh, sie so zu sehen. Ich wollte nicht noch eine Frau zum Weinen bringen, denn das ist mir schon viel zu oft mit Hope passiert. Vielleicht war ich nicht in der Lage, eine Frau richtig zu behandeln. Vielleicht war ich einfach nicht der Typ für Beziehungen. Vielleicht hatte ich es gar nicht verdient, so wie ich mich all die Jahre aufgeführt hatte.

Ich startete den Motor und sah ein letztes Mal meine Familie im Rückspiegel, wie sie an der Haustüre standen und mir zuwinkten. Dann fuhr ich los. Wir fuhren die lange Straße entlang, in der ich mein halbes Leben lang gewohnt hatte. An der Kreuzung überholte uns ein Motorradfahrer, aber nicht einfach nur irgendeiner, sondern Nick. Er fuhr neben uns her und winkte mir zu. 

»Ha! Ich bin immer noch der Schneller von uns« schrie er und ich musste lachen. Gleichzeitig stimmte es mich traurig, weil ich hier nicht nur mein altes Leben mit Hope zurückließ, sondern auch meine Familie und vor allem meine Freunde, die mir in (fast) jeder Scheiße beistanden. Natürlich hatte auch wir unsere Schwierigkeiten, als es hieß, ich liebe Hope, aber wir hatten schnell gemerkt, dass es für unsere Freundschaft irrelevant war, wen ich liebte. Wir hatten uns schnell wieder zusammengerauft und so viele lustige und tolle Momente erlebt. Nicht nur mit Nick, sondern auch mit Jonas, Damian und Scott. Abgesehen von Jonas und Nick hatte ich die beiden anderen schon lange nicht mehr gesehen oder mit ihnen groß gesprochen. Und ich fühlte mich ein wenig schlecht deswegen, dass ich mich nicht einmal jetzt, als ich hier in der Gegend war, bei ihnen gemeldet hatte. 

Nick fuhr an uns vorbei und rauschte in schnellem Tempo über die Straße, sodass er schon bald wieder aus meinem Sichtfeld verschwand. Ich versuchte, mich wieder vollkommen auf die Straßen und auf das Autofahren zu konzentrieren. Der Verkehr durch die Stadt war schleppend. Immer wieder blieben wir stehen und warteten, bis es weitergehen konnte. Ich lauschte der Musik, die aus dem Radio ertönte, um mich ein wenig ablenken zu können. Besonders, als ich an Orten wie die High School vorbeifuhr, brauchte ich eine Ablenkung, um nicht wieder an Hope und unsere alte Zeit denken zu müssen. 

Tessa tippte auf ihrem Handy herum oder starrte aus dem Fenster. Sie sagt kein Wort und auch ich blieb ruhig. Es herrschte eine unangenehme Atmosphäre im Auto. Während ich mir früher immer gewünscht hatte, sie würde mich nicht ständig ansprechen und versuchen, in ein Gespräch zu verwickeln, wäre ich heute froh darüber, wenn sie mich wenigstens für ein paar Sekunden nerven würde. 

Dieser Streit gestern hatte zwischen uns vieles geändert. Tessa wirkte nicht mehr, wie eine Anhängliche, die alles daran setzte, mich nicht zu verlieren. Heute schien es eher so, als wüsste sie bereits, dass das unsere letzten Stunden sein würden, die wir gemeinsam verbringen würden. 

An einer Kreuzung machte ich Halt, um eine ältere Frau über den Zebrastreifen zu lassen. Ich klopfte mit dem Rhythmus zur Musik auf meinem Lenkrad herum und wartete darauf, bis die Frau auf der anderen Seite angekommen war und ich weiterfahren konnte. Als sie bereits das Ende erreicht, huschte eine jüngere Frau mit schnellen Schritten ebenfalls über den Zebrastreifen. Als ich ihr Gesicht sah, verkrampfte sich jeder einzelne Muskel in meinem Körper. Sie sah mich nicht, aber ich sie. Und das reichte, um erneut diese aufkommende Leere in meinem Inneren zu spüren. 

Ich umklammerte das Lenkrad fest und starrte mit zuckendem Kiefer geradeaus. Ich beobachte, wie eilig über die Straße lief, ohne eine Sekunde lang ihren Blick in meine Richtung zu drehen, wie ihre Haare im Wind wehten und wie wunderschön sie auch heute wieder aussah. 

Meine Anspannung half mir, nicht schon wieder in dieses Loch zu fallen. Ich versuchte, jegliche Träne und jeglichen Kloß fernzuhalten. Ich spürte Tessas Blick auf mir ruhen. Sie hatte mit Sicherheit auch gesehen, dass es sich bei der Frau um Hope handelte und schien nun meine Reaktion beobachten zu wollen. Wahrscheinlich wusste sie es bereits, dass ich Hope nicht vergessen hatte, wollte es nur nie wahrhaben. 

Ich konnte mich nicht mehr bewegen, war vollkommen in den Gedanken an sie versunken. Meine Muskeln schmerzten bereits vor Anspannung, aber ich dachte einzig und allein an Hope. Dass sie mich nicht gesehen hatte. Dass ich ihr egal war. Dass sie mich wahrscheinlich längst aus ihrem Leben gestrichen hatte. In ihrem Herzen war nur noch ein Platz für diesen Mr. Chambers übrig. Ich hatte ihn für diesen Kerl räumen müssen. Ich wurde einfach verdrängt. 

Ein paar Autos hupten ungeduldig und erst jetzt kehrte ich zurück. Ich blinzelte, sah zu Tessa, die mich ausdruckslos ansah und dann den Blick abwendete, als habe sie genug gesehen, und danach auf die Straße, auf der ich wieder freie Fahrt hatte. Hope war verschwunden. 

Ich fuhr weiter, wollte raus aus der Stadt und zurück nach New York, um genau solche Moment verhindern zu können. Doch wir kamen nicht sonderlich weit. Zuerst machten wir einen Halt, weil Tessa sich noch einen Kaffee für die weite Fahrt holen wollte. Und das ausgerechnet in dem Café, in dem Hope und Damian so gut wie jeden Tag nach der Schule gesessen waren. Ich wollte nicht mit hineingehen, weil es mich nur noch mehr an sie erinnern würde. Also wartete ich im Auto, das ich direkt davor geparkt hatte. Ich sah Scott mit einer roten Schürze hinter der Theke stehen. Er schenkte Tessa ein breites Grinsen und sagte etwas, was sie zum Schmunzeln brachte. Ich hatte nicht gewusst, dass Scott in diesem Café arbeitete. Bei diesem Gedanken realisierte ich wieder einmal, dass ich rein gar nichts von seinem Leben wusste. Waren wir überhaupt noch Freunde? 

Und auch danach kamen wir nicht weiter als bis zu übernächsten Kreuzung. Blaulichter flackerten, Polizei- und Krankenwägen standen mitten auf der Straße. Ein Mann in Uniform sperrte eine Unfallstelle ab, während einer seiner Kollegen den Autos mit Handzeichen andeutete, abzubiegen und eine Umleitung zu fahren. Als nur noch ein Auto vor mir war, erhaschte ich zufällig ein Blick. Da stand ein völlig demoliertes Auto auf dem Weg und daneben lag ein ziemlich mitgenommenes Motorrad. Es war genauso eins, wie das von Nick. Moment! 

Bevor ich dem anderen Auto folgte und abbog, hielt ich abrupt an und riss erschrocken die Augen auf. Da lag ein Mann auf der Straße, schwerverletzt. Über ihn beugten sich Ersthelfer, sodass ich ihn nicht richtig sehen konnte, aber die Schuhe, die Kleidung, die Statur ... Alles sah nach Nick aus. 

»Fahren Sie weiter! Hier gibt es nichts zu sehen!« brüllte der Polizist mir entgegen, doch ich hörte ih nicht richtig. Auch Tessa fragte mich, wieso ich denn nicht weiterfuhr, aber als ich dann auch noch mitansah, wie meine Schwester über den Gehweg und direkt auf die Unfallstelle zurannte, da konnte ich mich nicht mehr halten. Ich schnallte mich ab und stieg mit zittrigen Beinen aus. Wenn das wirklich Nick war ... 

Ich ließ mich nicht von dem Polizisten oder von sonst wem aufhalten. Ich lief auf den Mann, der da auf der Straße neben all dem Blut lag, zu und konnte nicht mehr klar denken. Meine Schwester ließ sich ebenfalls nicht aufhalten und stürmte auf ihn zu. Ein Ersthelfer hielt sie auf, indem er sich ihr in den Weg stellte. Sie sagte etwas zu ihm und ich sah selbst aus der Entfernung, wie sie am ganzen Körper zitterte. Ich beeilte mich. 

Der Mann vor ihr verzog mitleidig das Gesicht und schüttelte mit dem Kopf. Das war der Moment, als die Welt meiner Schwester zerbrach. Und meine mit ihr. Aus ihr kam ein erstickter Schrei, dann ließen ihre Beine nach und sie wäre zu Boden gestürzt, wenn ich nicht rechtzeitig bei ihr gewesen wäre und sie in letzter Sekunde aufgefangen hätte. Ich kniete mich zu ihr und sie krallte sich an mich fest, während Schluchzer ihren Mund verließen. Der Ersthelfer teilte sein Beileid mit und sagte noch ein paar Worte, doch alles um mich herum verstummte. Ich sah bloß Nick vor mir, wie er noch vor Kurzem vor mir stand und wie er sich urplötzlich in Luft auflöste.

Mein Blick wanderte zu dem Motorrad und zu dem Mann, von dem sich die Helfer langsam lösten. Er bewegte sich nicht mehr. Es war nur noch eine leblose Hülle von ihm übrig geblieben. Und er sah schrecklich aus. Da war überall Blut. Ich drückte Maddys Gesicht an mich, dass sie diesen Anblick nicht ertragen musste. Das sollte nicht das sein, was sie als Letztes von Nick sah. 

Die Männer legten kurzerhand ein weißes Tuch über ihn. 

Nick war tot. 

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Tags: #romantik