18. Kapitel
A D A M
Ich spürte Tessas Lippen auf meinen. Es war ein flüchtiger, unbedeutender Kuss, doch er löste so Vieles aus.
Ich sah den Schock in Hopes Gesicht. Ihre Augen aufgerissen, der Mund einen Spalt breit geöffnet, als könne sie nicht glauben, was sie da gerade zu Gesicht bekam. Sie starrte uns einen Moment lang an, über ihre Augen legte sich ein trauriger Schimmer, dann verschwand sie mit einer billigen Ausrede Richtung Damentoiletten. Ich sah ihr hinterher und spürte ein Stechen in meiner linken Brust. Ich wollte sie nicht so traurig sehen und ich wollte sie nicht ein weiteres Mal verletzen. Tessa hingegen wirkte zufrieden. Sie schaute ihr mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen hinterher, bevor sie sich Sekunden später wieder Mr. Chambers mit einem Augenklimpern wandte.
Dieser sprach über sein Angebot und versuchte mit größter Mühe mich davon zu überzeugen, wie sinnvoll in dieser Angelegenheit eine Zusammenarbeit mit seiner Firma wäre. Es kostete mich eine Menge Überwindungskraft, ihm dabei zuzuhören, denn meine Gedanken schweiften ständig zu Hope ab. Sie war nach ein paar Minuten immer noch nicht zurückgekehrt. Ich wollte nach ihr sehen, sie in die Arme nehmen und ihr sagen, dass ich Tessa nicht liebte. Dass mein Herz einzig und allein Hope gehörte. Doch ich blieb auf meinem Platz sitzen und hörte dem Jungunternehmer, den ich vor ein paar Tagen noch in der Kirche neben mir sitzen hatte und der danach mit Hope ein kurzes Gespräch geführt hatte, zu. Ich war erleichtert darüber, dass es nur ihr Chef war. Nach dem Kirchenbesuch kreiste ständig der quälende Gedanke durch meinen Kopf, er könnte ihr neuer Liebhaber sein, von dem Damian bereits erzählt hatte.
Ich spürte Tessas Hand, die sich auf meinem Oberschenkel ablegte. Ich ignorierte ihren erneuten Annäherungsversuch, tat so, als würde ich es gar nicht bemerken. Ich warf ein paar Worte in Mr. Chambers' Monolog ein und zeigte Tessa die kalte Schulter.
»Entschuldigen Sie« Mein Blick schnellte zu Hope, die sich nun mit einem aufgesetzten Lächeln zurück an den Tisch setzte. Ich spürte, wie Tessas Blick auf mir lag und wie sie sich kurzerhand verkrampfte. Dann setzte auch sie ein Lächeln auf, das keineswegs ehrlich gemeint war, und rückte näher an mich. Ihre Hand ruhte weiterhin auf meinem Oberschenkel und fuhr auf und ab. Es war mir schon vor ein paar Minuten unangenehm, doch seitdem Hope wieder mit uns am Tisch saß, ertrug ich diese Annäherungsversuche noch weniger. Also umfasste meine Hand ihre und schob sie von meinem Bein. Ich brauchte sie gar nicht erst ansehen, um zu wissen, dass sie wütend und enttäuscht zugleich war. Doch es interessierte mich nicht sonderlich.
In Hopes Gesicht zeigte sich keinerlei Enttäuschung oder Verletzlichkeit mehr. Der traurige Schimmer in ihren Augen war verschwunden und der enttäuschte Gesichtsausdruck wurde von einem Lächeln verdeckt. War ich ihr vielleicht doch egal? War sie einfach nur für ein paar Minuten lang damit überfordert, mir nach all den Jahren wieder gegenüberzusitzen und so tun zu müssen, als würde keine Vergangenheit uns miteinander verbinden?
»Meine Sekretärin Miss Collins wird ebenfalls an dem Projekt mitarbeiten. Sie leistet hervorragende Arbeit« schwärmt Mr. Chambers währenddessen, um mich immer mehr davon zu überzeugen, mich auf den Deal einzulassen. Er legte seine Hand auf ihrer Schulter ab mit einem freudigem Grinsen. Hope hingegen zuckte bei dieser kleinen Berührung zusammen, doch überspielte diese Reaktion sofort mit einem nervösen Lächeln. Sie schaute mir dabei kein einziges Mal in die Augen, als sei es ihr unangenehm, von ihrem Chef in meiner Anwesenheit berührt zu werden. Ich betrachtete sie argwöhnisch, doch wurde sogleich wieder aus meinen Gedanken gerissen, als Mr. Chambers in seinem ewigen Monolog fortführte.
Hope sah aus wie damals. Ihre Wangen waren rosig, die Augen nur mit ein bisschen Mascara betont und die Haare fielen in leichten Wellen über ihre Schultern. Das Kleid stand ihr ausgesprochen gut und hatte noch dazu meine Lieblingsfarbe. Es betonte ihre perfekte Figur und erinnerte mich nur ein weiteres Mal daran, wie schön sie war. Das Blau ihrer Augen strahlte und ich konnte mich nicht widersetzen, nicht darin zu versinken. Alles um mich herum verschwamm und verstummte. Ich sah bloß ihre blauen Augen mit den grauen Sprenkeln darin.
»Also« Mr. Chambers zog das Wort extra lange und ich kehrte wieder zurück in die Realität. »Was denken Sie, Mr. McLane? Kommen wir ins Geschäft?« Er hatte die Hände ineinander gefaltet auf der Tischplatte abgelegt und sah mich abwartend an.
»Ich denke, ja« Seine Mundwinkel zuckten. Dann schüttelten wir die Hände und stießen bei einem Glas Champagner auf unsere künftige Kooperation an. Als sich mein Glas mit dem von Hope berührten, sahen wir einander tief in die Augen. Ich spürte das aufkommende Gefühl von Reue, weil ich zu viele Fehlentscheidungen in meiner Vergangenheit getroffen hatte. Ich hätte sie niemals gehen lassen dürfen. Ich hätte sie nicht von mir stoßen dürfen. So hätte das zwischen uns niemals enden dürfen. So hätten wir niemals auseinandergehen und uns aus den Augen verlieren dürfen. Ich war der festen Überzeugung, dass wir füreinander geschaffen waren und dass unsere Liebe über all die Jahren hinweg anhielt. Wir konnten uns nicht vergessen, sondern höchstens verdrängen. Ich hatte die Hoffnung und hatte gleichzeitig den Glauben längst verloren, dass wir wieder zueinander finden würden. Wir hatten uns ein neues Leben aufgebaut, neue Partner gefunden und gelernt, ohne den anderen zu leben. Sie hatte schon so viele Enttäuschungen in einer Beziehung mit mir erlebt. Wieso sollte sie sich ein weiteres Mal auf mich einlassen?
Den restlichen Abend dachte ich an nichts anderes. Ich fragte mich, ob ich vielleicht doch die Chance ergreifen sollte, mich mit ihr auszusprechen und ihr über meine Gefühle nach all den Jahren klar werden lassen. Doch ich fand nicht den Mut und die Worte für diesen Schritt. Selbst nicht auf dem Weg nach draußen und über den Parkplatz zu unseren Autos. Hope und ich liefen nebeneinander den anderen beiden hinterher. Keiner von uns schien zu wissen, mit dem anderen umzugehen. Tessa und Mr. Chambers hingegen schienen damit keinerlei Probleme zu haben. Sie verfielen so sehr in ihr Gespräch, dass sie uns beiden bereits vergessen zu schienen haben. Tessa lache gekünstelt. Es wirkte fast so, als wolle sie dem Mann schöne Augen machen. Und mich störte es keineswegs. Zwischen all der Desinteresse ihr gegenüber verbarg sich kein einziger Funken Eifersucht. Vor allem in den letzten Monaten und Wochen war es mir so egal geworden, was unsere Beziehung betraf. Ich empfand nichts und ich glaubte, sie wusste davon und versuchte deshalb immer wieder, sich von dem Gegenteil überzeugen zu lassen, indem sie mir näherkommt und darauf hofft, dass ich sie nicht wieder von mir stieß.
Während wir nebeneinander herliefen, betrachtete ich die Dunkelheit um uns. Ein wunderschöner Sternenhimmel erstreckte sich über uns. Ich erinnerte mich dabei prompt an diesen Abend, den wir unter einem so ähnlich schönen Sternenhimmel verbracht hatten. Wir waren damals noch jung und frisch verliebt, haben über unsere Träume und sehnlichsten Wünsche gesprochen. Wir sprachen beide davon, uns niemals aus den Augen verlieren zu wollen, und doch ist genau das getan. Wir hatten einander versprochen, niemals einen anderen Menschen so sehr lieben zu können, wie wir es für einander taten. Auch wenn wir damals verliebte Teenager waren, die oftmals Dinge sagten, die in der Realität nicht immer so funktionierten, hielt ich mich in diesem Moment daran fest.
Es war dieser kleine Hoffnungsschimmer, diese kleine Erinnerung, die mich davon überzeugte, ihr meine Gefühle zu gestehen, sei vielleicht doch keine so schlechte Idee. Doch ich wusste keineswegs, wie ich dies anstellen sollte. Mein Kopf war völlig leergefegt, als ich meinen Kopf in ihre Richtung drehte und sie einen Moment lang - fasziniert von ihrer einzigartigen Schönheit - einfach nur ansah. Ihr leicht welliges Haar wurde von dem leichten Wind ab und an nach hinten geweht.
»Wieso siehst du mich so an?« fragte Hope leise in die dunkle Nacht hinein und warf mir einen Blick zu. Unsere Schritte wurden immer langsamer und ich versank ein weiteres Mal an diesem Abend in diesem Blau ihrer Augen. Ihre Stimme war sanft und wie eine wunderschöne Melodie in meinen Ohren. Ich wollte ihr den restlichen Abend zuhören, so sehr hatte ich diese Stimme und alles andere an ihr vermisst.
»Du bist wunderschön« sprach ich einfach meine Gedanken aus, während ich noch immer wie in Trance ihr wunderschönes Gesicht betrachtete. Sie blieb stehen und sah mir tief in den Augen. Ihre Mundwinkel zuckten, während im selben Moment über ihre Augen ein glänzender Schimmer legte. Ich wusste nicht, was dies zu bedeuten hatte. Machten sie diese Worte traurig oder war das gerade eine Freudenträne, die sich aus dem Auge befreite und über ihre Wange rollte.
»Nicht weinen« flüsterte ich. Ich dachte nicht länger darüber nach, dass Tessa und womöglich dabei sehen könnte, weil sie nur wenige Meter von uns entfernt war, sondern legte meinen Daumen auf ihre Wange und wischte diese kleine Träne fort aus ihrem Gesicht. Sie riss die Augen ein wenig auf, während ich ihr einen sanften, besorgten Blick zuwarf.
»Hope« flüsterte ich, ohne genau zu wissen, was ich als nächstes sagen sollte, und spürte, wie gut es sich anfühlte, ihren Name ihr gegenüber wieder auszusprechen. Ich druckste herum und überlegte, womit ich anfangen sollte. Wir haben uns jahrelang nicht mehr gesehen und zwischen uns stand noch so viel Unausgesprochenes. Doch ich fühlte mich bereit, über meine Gefühle zu sprechen, endlich die Wahrheit aussprechen zu können. Noch nie fühlte ich mich so sicher über meine Entscheidung, wie in diesem Moment, in dem wir gegenüber standen, mein Daumen noch immer auf ihrer Wange verweilend, und uns mit diesem tiefen Blick in die Augen schauten.
Doch wie meistens in solch einem Moment kam uns jemand dazwischen. Tessa.
»Adam« rief sie, als sie sich zu uns umgedreht hatte. Ich nahm meine Hand von ihrer Wange und sah zu Tessa und Mr. Chambers, der sich in diesem Moment ebenfalls zu uns umdrehte. Tessa kam auf mich zugelaufen und lächelte. Dann drückte sie mir einen Kuss auf die Wange und schmiegte sich an meinen Arm. Sie versuchte damit, Hope ein weiteres Mal unter die Nase zu reiben, dass sie von nun an die Frau an meiner Seite war. Sie ließ sich nichts anmerken, doch ich wusste, dass sie diesen magischen Moment zwischen Hope und mir mitbekommen hatte. Sie musste spätestens jetzt, nachdem wir so vertraut gegenüberstanden, ich ihr die Träne aus dem Gesicht gewischt hatte und sie mit diesem verliebten Blick angesehen hatte, wissen, dass diese Gefühle für Hope bei mir niemals schwinden werden. Aber sie war eine gute Schauspielerin.
Auch Mr. Chambers gesellte sich zu uns und fand ein paar abschließende Worte. Ich konnte dabei einzig und allein an Hope denken, die mir noch immer gegenüber stand, doch mit im Gegensatz zu vorhin mit einem deutlich größeren Abstand. Dann verabschiedete sich Mr. Chambers von mir, indem wir Hände schüttelten und dem anderen gegenüber unsere Freude an dem neue, gemeinsamen Projekt aussprachen. Dann wandte er sich an Tessa. Ich hörte noch ihr gekünsteltes Lachen, als ich mich wieder vollkommen auf Hope konzentrierte.
Es war eine verzwickte Situation zwischen uns. Keiner wusste so recht, was er tun oder sagen sollten, vor allem jetzt, nach diesem kleinen Augenblick zwischen uns, der neue Hoffnung in mir aufkeimen ließ. Ich kratzte mich verlegen am Hinterkopf, Hope biss sich auf die Unterlippe und mied meinen Blick.
»Mach's gut, Adam« flüsterte sie und und ich umfasste ihre Hand. Ein Kribbeln breitete sich über meine Haut aus. Ich spürte dieses Herzklopfen in ihrer Nähe und der rasende Puls. Ich wollte nie wieder ihre Hand loslassen, doch Hope zog sie wieder zurück und wandte sich mit Mr. Chambers nach einem letzten Blick in meine Richtung zum Gehen. Machs gut, Adam hallten ihre Worte in meinem Kopf. Es klang wie Abschied. Wie ein endgültiger Abschied. Mein Herz blutete allein bei dem Gedanken.
Tessa hakte sich bei mir unter und ich ließ dies über mich ergehen. In meinem Auto sah ich aus dem Fenster, wie Hope und Mr. Chambers miteinander sprechen und dabei recht vertraut wirkten, wie einst an Weihnachten in der Kirche, als würden die beiden auch über private Dinge sprechen. War Mr. Chambers vielleicht doch ihr neuer Lover?
Ich schüttelte den Kopf. Das klang vollkommen absurd. Ich kannte Hope. Sie würde sich sicherlich nicht auf eine Affäre mit dem eigenen Chef einlassen. Wie konnte ich auch nur einen Augenblick lang so etwas denken?
»Bin ich froh, dass das endlich vorbei ist« meinte Tessa stöhnend, als sie sich auf den Beifahrersitz fallen ließ und die Autotür hinter sich zuschlug.
»Aber zuhause können wir es uns jetzt richtig gemütlich machen« raunte sie, während sie sich zu mir herüberbeugte und mir einen Kuss auf die Wange hauchte. Anstatt mich bei diesem Gedanken zu freuen, verkrampfte ich mich bloß und umklammerte das Lenkrad. Tessa schien dies zu spüren, da sie sich sogleich wieder zurück in ihren Sitz lehnte und sich anschnallte. Sie räusperte sich und dann herrschte für einen kleinen Moment eine angenehme Ruhe.
»Wusstest du, dass Hope dabei sein wird?« fragte sie beiläufig. Ich startete währenddessen den Motor und fuhr auf die Ausfahrt des Parkplatzgeländes zu. Ich bemerkte diese Abfälligkeit in ihrer Stimme, als sie ihren Namen aussprach. Ich befürchtete, dass es dabei nicht bleiben wird, sondern spitze Bemerkungen folgen werden. Tessa schien plötzlich eifersüchtig zu wirken. Ich wusste nicht, woher dieses Gefühl auf einmal kam. Früher hatte es sie auch nicht interessiert, was ich an meinen Abenden trieb, solange sie mit ihren Freunden von einem Club zum nächsten ziehen konnte.
»Nein« antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich war selbst überrascht, Hope plötzlich vor mir stehen zu sehen, in diesem atemberaubendem schönen Kleid, das sie trug, ihren vollen Lippen, die ich so gerne mit meinen berührt hätte, und ihren strahlend blauen Augen, in denen ich selbst nach all diesen Jahren zu versinken drohte. Ich dachte wieder an den Moment, als sich unsere Blicke zum ersten Mal seit Jahren begegnet waren und wie schnell mein Herz deshalb geschlagen hatte. Es war mir noch nie so bewusst geworden, wie sehr ich sie vermisste, wie in diesem Moment. Ich konnte seitdem nicht mehr verstehen, wie ich es all die Zeit ohne sie ausgehalten hatte. Ohne sie fehlte ein riesiger Teil in meinem Leben und keine Frau der Welt konnte diesen Platz einnehmen.
»Ihr Make-Up sah total unprofessionell aus« Tessa rümpfte die Nase. Ich umklammerte das Lenkrad fester. Ich konnte es absolut nicht leiden, andere Menschen schlecht über Hope reden zu hören. Ich hatte es schon zu lange mitbekommen. Vor allem hasste ich es, weil es nicht der Wahrheit entsprach. Hope war wunderschön, egal ob geschminkt oder ungeschminkt. Und das wusste Tessa sicherlich auch. Das wusste jeder. Selbst Ashley, Jonas und Co. hatten es damals gewusst, als wir zur High School gingen. Nur hatte jeder von uns den anderen versucht, das Gegenteil vorzuführen, um von den eigenen Problemen und Makeln abzulenken. Sie hatten ein Opfer gebraucht. Eines, was leicht einzuschüchtern war. Eines, was zu schüchtern war, um sich dagegen zu wehren.
»Und das Kleid hat sie fett aussehen lassen« führte Tessa spöttisch und mit arroganter Stimme fort. Sie reckte überheblich das Kinn und betrachtete ihr Gesicht in dem kleinen Handspiegel, den sie aus ihrer Clutch hervorgeholt hatte.
»Hör auf damit!« zischte ich wütend unter zusammengebissenen Zähnen. Mittlerweile wurde der Griff um meinen Lenkrad so fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten. Ich war so wütend auf Tessa, weil sie genau das tat, was Ashley mit ihren Freundinnen und meine Freunde auf der High School getan hatten. Ich erinnerte mich an den verletzlichen Ausdruck in Hopes Gesicht, wenn sie damals genau solche Worte über sich ergehen lassen musste.
»Womit?« fragte sie provozierend, eine ihrer perfekt gezupften Augenbraue hebend, und sah von ihrem Spiegel auf.
»Hope so schlecht zu reden« erklärte ich ruhig, ohne die aufgestaute Wut in meinem Inneren herausbrechen zu lassen.
»Was ist dein scheiß Problem? Sie ist deine Ex! Sie hat dich auf dem College betrogen –« Sie fuchtelte wild mit den Händen umher und wollte eigentlich noch so viel mehr dazu sagen, doch ich unterbrach sie sogleich.
»Sie hat mich nicht betrogen« stellte ich klar.
»Das weißt du nicht« Tessa verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich herausfordernd an. Ich hätte ihr am liebsten deutlich gemacht, wie sicher ich wusste, dass Hope mich niemals betrogen hatte, doch ich hatte keine Kraft für eine weitere unnötige Diskussion mit Tessa. Also sagte ich dazu nichts weiter, sondern ging auf ihre anfängliche Frage ein, was denn mein ›Scheiß Problem‹ sei.
»Ich mag es einfach nicht, wenn man Lügen über sie erzählt« Es fiel mir zwar immer schwerer, sie nicht anzuschreien, aber ich blieb ruhig. Unwillkürlich musste ich an die Zeit am College denken, in denen viele Gerüchte über sie umher gingen. Alle hielten Hope für eine Betrügerin, obwohl sie nie mit einem anderen geschlafen hatte. Ich fühlte mich noch immer ein wenig schuldig deswegen. Hätte ich damals Cassy nicht Glauben geschenkt, sondern Hope zugehört und vertraut, hätte Hope nicht diesen schlechten Ruf gehabt und es wäre niemals so weit gekommen. Wahrscheinlich müsste ich jetzt nicht einmal mit Tessa in einem Auto sitzen und über Hope streiten.
»Immer verteidigst du dieses Miststück –«
»Nenn sie nicht so!« warf ich dazwischen.
»Wann tust du es endlich einmal bei mir?« fragte sie und ignorierte dabei wissentlich meinen Einwurf. Ihre Stimme war gegen Ende brüchiger. In ihr schwang etwas Verletzliches mit sich. Ich begegnete ihrem Blick und überlegte für einen Moment, ob ich darauf etwas sagen sollte, doch entschied mich dagegen und konzentrierte mich wieder voll und ganz auf die Straßen. Es gäbe nichts, das ich sagen könnte, das sie nicht noch mehr verletzen würde.
Ich schaltete das Radio ein, um dieser über uns ausbreitende Stille zu entkommen, und lauschte dem Moderator, der zurzeit die Verkehrsmeldungen durchsagte. Tessa drehte ihren Kopf weg und schaute aus dem Fenster. Durch die Scheibe spiegelte sich ihr Gesicht wider und ich glaubte, eine einzelne Träne über ihre Wange rollen zu sehen.
Wieder zuhause angekommen schlüpften wir aus Jacke und Schuhen und verschwanden direkt nach oben in mein altes Jugendzimmer. Ich war froh darüber, dabei nicht meinen Eltern zu begegnen, denn sie hätten uns sicherlich in ein ellenlanges Gespräch verwickelt und Tessa und ich müssten dabei weiter heile Welt spielen.
Tessa verschwand im Badezimmer und ich tauschte meinen Anzug gegen eine bequeme Jogginghose und einen warmen Hoodie. Dann trat ich hinaus auf meinen kleinen Balkon. Ich fischte eine Zigarette aus der noch fast vollen Packung heraus, zündete mir diese an und inhalierte kurz darauf den Rauch. Ich ließ mich auf einen der zwei Stühle fallen, schaute durch die Gegend und spürte das wohlige Gefühl in meinem Inneren ausbreiten, als ich den Tabak schmeckte. In kaum einem der Häuser brannte noch Licht, auf den Straßen hielt sich keine Menschenseele mehr auf. Die Autos standen ordentlich geparkt am Straßenrand oder in der Auffahrt. Über deren Scheiben und Dächer lagen große Schichten von Eis und Schnee, genauso wie auf den Häusern, Straßen und kahlen Bäumen.
Alles war still, nur meine Gedanken nicht. Ich ließ den heutigen Abend Revue passieren, die urplötzliche Begegnung mit Hope, ihre Reaktion auf den kleinen, unbedeutenden Kuss zwischen Tessa und mir, diese merkwürdige Situation zwischen uns auf dem Parkplatz und das darauffolgende Streitgespräch mit Tessa im Auto. Ein völliges Gefühlschaos brauste durch mein Inneres. Auf der einen Seite hatte ich mich immer vor diesem Moment gefürchtet, unerwartet vor ihr zu stehen und nicht zu wissen, wie ich damit umgehen sollte, doch auf der anderen Seite hatte es mich gefreut, sie wiederzusehen und ihre Hand für einen winzigen Augenblick halten zu dürfen. Außerdem keimte da die Hoffnung in meinem Inneren, ihr doch nicht so egal zu sein, wie ich die ganze Zeit befürchtet hatte. Sie hatte den Kuss gesehen und hatte sich danach mit einem traurigen und verletzten Gesichtsausdruck auf der Damentoilette verschanzt. Vielleicht empfand sie tief in ihrem Inneren doch noch etwas für mich. Vielleicht hatte ich sie noch nicht ganz verloren. Vielleicht hatte ich noch eine Chance.
Ich beobachtete die Rauchwolke aus meinem Mund, die sich wenige Sekunden später in Luft auflöste. Ich dachte an den weiteren Verlauf des Abends und an Tessa. Sie schien alles darangesetzt haben, Hope unter die Nase zu reiben, dass sie von nun an die Frau an meiner Seite war und wirkte siegessicher, als diese auf der Damentoilette verschwunden war. Im Auto wirkte sie dann plötzlich so unsicher und ängstlich, als würde sie jeden Moment fürchten, ich würde sie wegen Hope oder einer anderen Frau sitzen lassen. Vielleicht hatte sie doch ernste, aufrichtige Gefühle für mich. Sie hatte vor Tagen gesagt, dass sie mich liebt, und reagierte bei einer geschäftlichen Begegnung mit meiner Exfreundin höchst eifersüchtig.
Ich musste mit jemandem darüber sprechen. Ich wählte bereits Jonas' Nummer, als mir einfiel, dass Tessa jeden Moment aus dem Badezimmer kommen und das Gespräch mitanhören könnte. Also legte ich mein Handy wieder beiseite und fuhr mir aufgebracht durch die Haare. Noch immer schwirrte der Gedanke an Hopes Reaktion auf den Kuss in meinem Kopf umher. In mir keimte neue Hoffnung, doch gleichzeitig hatte ich Angst, den Schritt auf sie zuzugehen. Was, wenn sie mich zurückweist? Wenn sie mir deutlich macht, dass sie nicht mehr mich, sondern einen anderen Mann liebte? Würde das mein Herz verkraften? Oder würde ich vielmehr an dem Gedanken, meine Chancen nicht genutzt und deshalb in Ungewissheit leben zu müssen, leiden?
Es war nur ein flüchtiger, unbedeutender Kuss gewesen, doch er hatte so Vieles ausgelöst.
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