Phillis ist alt
Phillis hasste es, im Ritz zu frühstücken. Dafür war sie aber ziemlich oft dort und fand sich immer am selben Tisch mit immer derselben Gesellschaft, sodass es unter den Kellnern und Kellnerinnen schon Gerüchte darüber gab, wer sie war.
Es war nicht schwer, in der Muggel-Welt etwas über ihre Gesellschaft herauszufinden. Er war unter gewissen Kreisen berühmt – besonders unter den Mitarbeitern des Ritz. Einmal hatte er ihr erzählt, dass es im Ballett für den Mann darum ging, nicht aufzufallen, nicht erwähnt zu werden. Er war dazu da, die weibliche Tänzerin so elegant und hübsch wie möglich aussehen zu lassen, mit diversen Hebefiguren und scheinbar federleichten Berührungen mit alles französischen Namen, die Phillis nie aussprechen oder sich merken konnte. Wenn der männliche Tänzer in Ballettstücken erwähnt wurde, war dies meist (oder eher bisher immer) negativ, denn das bedeutete, dass er so schlecht gewesen war, dass es sogar einer Kritik würdig gewesen war. Am besten war es, wenn man als männlicher Tänzer überhaupt nicht erwähnt wurde.
Er hatte es einmal in eine Kritik geschafft, in der er mit seinen blonden (in der Kritik als golden beschrieben) Haaren und majestätischen Figur der perfekte Romeo in Romeo und Julia gewesen war.
Letztendlich hatte er sich die letzten Jahre überhaupt nicht verändert – jedenfalls in Phillis' Augen nicht. Noch immer war er dieselbe Person, nur ein wenig älter und nicht mehr in der Pubertät.
Die blonden Haare trug er nun bis knapp unter den Ohren. Wenn er gerade von einem Training kam, waren sie noch ein wenig zerzaust von einem Stirnband, dass er dann bevorzugt trug. Wenn man ihn auf der Bühne sah, saßen seine Haare perfekt und bewegten sich vor lauter Haarspray kaum, trotz der Bewegungen auf der Bühne.
Er war eindeutig in die Höhe geschossen und überragte Phillis. Einmal hatte er sich darüber beschwert, dass er mit seinen ein Meter neunzig beinahe zu groß fürs Ballett war, aber eigentlich hatte sich noch nie jemand (außer er) sich darüber beschwert.
Seine Statur war die eines Tänzers – elegant, sehnig muskulös und definiert, wie er gerne beschrieben wird. Phillis erinnerte sich gerne daran, wie er früher in seiner Schule dafür ausgelacht worden war, während des Tanzens hautenge Kleidung getragen zu haben. Wenn er nun während eines Training schnell mit Phillis auf einen Espresso wohin ging und sich nicht umziehen wollte, blickten viele Leute zweimal hin, um sein ganzes gutes Aussehen aufnehmen zu können und mehr als einmal war er von Baristas auf den Kaffee eingeladen worden – natürlich hatten diese mit ihm geflirtet, aber er hatte dies immer ignoriert oder – was Phillis für wahrscheinlicher hielt – einfach nicht verstanden, mit den Gedanken einfach woanders.
Normalerweise kannte man Balletttänzer (besonders die männlichen) kaum beim Namen und noch weniger hätten einen von ihnen auf der Straße wiedererkannt, aber unter einem bestimmten Kreis von Künstlern, Tänzern und natürlich Sängern war er schon bekannt – besonders für seine Partys, die er gerne in seiner großen Wohnung in London abhielt.
Neben einem Vollzeit (-und darüber)-job beim Royal Ballett in London nutzte er seine Freizeit gerne dafür, Bücher zu schreiben oder in der Universität in Oxford als Assistenz-Professor zu unterrichten, hatte nebenbei ein paar Doktortitel erlangt und bildete sich immer weiter, sodass Phillis manchmal das Gefühl hatte, zwischen jedem ihrer Treffen wären mehrere Jahre vergangen, obwohl es nur wenige Tage oder höchsten Wochen gewesen waren.
Phillis hatte keine Ahnung, wie er all das schaffte – besonders, weil auch er nur einen vierundzwanzig-Stunden-Tag hatte, aber so war er wohl schon immer gewesen.
Letztendlich hatte Houdini sich nicht verändert.
Seine Kleidung war natürlich noch immer perfekt – jederzeit. Aber statt nur Anzughose und gebügeltes Hemd fand man ihn mittlerweile niemals ohne eine passende Anzugweste und einer Anzugjacke dazu, sowie einem schwarzen Regenschirm, den er immer bei sich hatte, auch dann, wenn es in England ausnahmsweise einmal nicht regnete.
„Ich werde es wohl auch nicht zu deinem nächsten Spiel schaffen", sagte er gerade und nippte an seinem Cappuccino ohne Zucker und verdrehte genervt die Augen. Phillis hatte ihre zwei Kaffee, die sie in derselben Zeit getrunken hatte, schon ausgetrunken und wartete nur noch auf Houdini. „Sie wollen mich in der männlichen Hauptrolle in Schwanensee haben. Das bedeutet wohl noch mehr Proben mit dieser lächerlichen Hauptdarstellerin, Wie-war-gleich-noch-einmal-ihr-Name? Aber sag mir den Termin für das Finale, dann nehme ich mir dafür frei."
„Wir haben noch nicht einmal die Auswahlspiele hinter uns", erinnerte Phillis ihn amüsiert. „Vielleicht gibt es für Irland überhaupt kein Finale."
Houdini musterte sie kritisch über seine Tasse hinweg und stelle sie dann hin. Er sagte nichts, wartete darauf, dass Phillis sich ihrer eigenen Worte bewusst wurde.
Phillis begann zu grinsen.
„Bestimmt planst du schon, wie du deinen Gegner dort besiegen wirst. Wer wird es wohl sein?", fuhr Houdini fort, als hätte Phillis nichts gesagt.
„Wahrscheinlich Bulgarien", antwortete Phillis, ohne lange nachdenken zu müssen. Natürlich hatte sie ihr Spiel gegen diesen letzten Endgegner schon genau durchgedacht und wusste schon jetzt, welche Taktiken sie anwenden würde. Sie trainierte ihr Team schon seit dem Sieg gegen Spanien für dieses letzte Spiel, obwohl die nicht einmal wussten, dass sie es taten.
„Warum Bulgarien? Ich habe gehört, die haben kein so gutes Team", fragte Houdini und obwohl sein Gesichtsausdruck immer gelangweilt aussah, so wusste Phillis doch, dass es ihn interessierte. Ansonsten hätte er nicht gefragt – Houdini hielt keinen Small-Talk, dafür hatte der Tag für ihn zu wenig Stunden.
„Schicksal", antwortete Phillis ihm schulternzuckend. „Jeder weiß, dass die Sucher meine Schwachstelle als Kapitänin sind –"
„Niemand weiß das, deswegen nutzt niemand diese Schwachstelle aus", unterbrach Houdini sie, aber Phillis redete weiter, als wäre nichts gewesen.
„– und Bulgarien hat einen wirklich ausgezeichneten Sucher. Es ist mir vorherbestimmt, diese eine Schwachstelle im letzten Spiel anzutreffen. Anders kann es nicht sein."
„Schicksal", schnaubte Houdini anweisend. „Schicksal kann man nicht berechnen."
„Dann redest du wohl mit der falschen Person", grinste Phillis. „Mein Vater ist noch immer der Gott der Wahrsagerei. Schicksal bestimmt mein Leben."
„Ich bin kein Fan von diesem Konzept", gestand Houdini, nahm seinen Löffel und rührte ein wenig in seinem Kaffee herum. „Das lässt es so aussehen, als hätten wir keine Kontrolle darüber, was uns im Leben passiert."
„Haben wir auch nicht", sagte Phillis locker. „Es ist schon alles vorherbestimmt."
„Leben ist eine Illusion", meinte Houdini leicht spöttisch. „Schon einmal überlegt, Philosophie mit mir zu studieren?"
Philosophie war das neueste Studienfach, mit dem Houdini sich beschäftigte und am Anfang hatte Phillis ihn dafür noch ein wenig ausgelacht, aber Houdini hatte eine ganze Liste mit Gründen, warum er im Moment einen Doktortitel in genau diesem Fach haben wollte. Zum einen war seine göttliche Mutter die Göttin der Weisheit und Philosophie beschrieb die Liebe zur Weisheit. Zum anderen brauchte es einen mathematischen Verstand, um philosophisch denken zu können, also passte Philosophie perfekt zu seinem letzten Doktortitel in Mathematik. Er hatte auch keine Probleme damit, Latein oder Griechisch zu lesen, er konnte beide Sprachen, wie auch ein paar andere, fließend sprechen, lesen und verstehen. Und der Umgang mit Chiron und dem Camp und den antiken Göttern brachte immer eine gewisse Grundausbildung in Philosophie mit sich, also war dieser Titel beinahe noch einfacher für Houdini gewesen als seine bisherigen.
„Ich habe nicht einmal einen Abschluss", erinnerte Phillis ihn.
„Den habe ich auch nicht", winkte Houdini ab. „Ich glaube, dich in der Philosophie zu sehen, wäre sehr interessant. Du bist listig genug, um die Worte anderer zu verdrehen und zu deinem Nutzen einzusetzen."
„Und Zeit habe ich auch nicht", fügte Phillis hinzu. „Aber vielleicht komme ich auf dieses Angebot zurück, wenn ich erst einmal in Pension bin."
„Denkst du jetzt schon an Pension?", fragte Houdini spöttisch. „Ich verstehe, wenn ich an Pension denke, ich bin schon beinahe alt für einen Balletttänzer, aber ich habe nicht gedacht, dass Quidditch gleich ist."
Phillis zuckte mit den Schultern. „Nach meinem letzten Spiel hat ein Reporter in einer Zeitung geschrieben, dass ich trotz meines Alters noch fit wäre. Das hat mich ein wenig getroffen."
„Ich denke nicht, dass du dir deswegen jetzt schon Sorgen machen musst, genauso wenig, wie ich", bemerkte Houdini. „Es gibt natürlich nicht genug Studien, um meine Theorie zu beweisen, weil Demigötter wie wir normalerweise nicht alt genug werden, aber ich vermute, dass das Alter uns viel weniger schnell einholt als andere. Immerhin fließt durch unsere Adern Ichor und unsere Eltern sind unsterblich. Das sollte doch zählen."
„Deswegen rechne ich noch immer durch einen frühzeitigen Tod durch Monster", grinste Phillis.
„Viel wahrscheinlicher, als in Pension zu gehen", stimmte Houdini ihr zu und trank seinen Kaffee aus. Sobald die Tasse leer war, winkte er einem Kellner, um zu bezahlen – das tat er immer. Houdini blieb nie länger als nötig, obwohl ihm die Umgebung gefiel.
Er beglich die Rechnung und ignorierte beinahe schon die Flirtversuche des armen Kellners, bevor er sich seine Anzugjacke überzog und mit Phillis das Lokal verließ.
Ihr Weg führte sie nach einem Kaffee meist in Houdinis Wohnung, die nicht weit entfernt war.
„Manchmal bin ich überrascht, dass die Götter zulassen, dass wir hier einfach in England und Irland unser Leben genießen – es gibt viel weniger Monster, die Chancen zu sterben sind geringer und wir werden jeden Tag älter. Wir alle – nicht nur du und ich, sondern auch Birget und auch deine andere Schwester, Wie-war-gleich-noch-einmal-ihr-Name?", meinte Houdini, während er seinen Regenschirm locker am sonderbar geformten Griff drehte.
„Hana", half Phillis ihm weiter. „Und Atticus." Hana hatte diesen Sohn des Hephaistos geheiratet und mit nach England genommen. Sie lebten ein wenig außerhalb von London mit ihren Kindern, Phillis sah sie hin und wieder, wenn sie beide die Zeit dafür fanden. „Und natürlich ist da noch Marty –"
„Marty ist eine Ausnahme für sich", widersprach Houdini. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass er die Götter so sehr verärgert hat, dass sie ihn dafür bestrafen – mit einem viel zu langen Leben, für seinen Geschmack." Normalerweise hätte man wohl gesagt, dass ein langes Leben ein Segen war, aber wenn man sah, was aus Marty geworden war, war es wohl gerechtfertigt, es einen Fluch zu nennen. „Aber wir haben alle unser Haltbarkeitsdatum schon lange überschritten."
„Ich bin ganz sicher keine abgelaufene Milch", beschwerte Phillis sich.
„Nein, du bist schimmliges Brot", korrigierte Houdini sie. „Ich habe eine Theorie, warum Demigötter dazu verflucht sind, so jung zu sterben."
„Weil wir, je älter wir werden, auch mächtiger werden", vermutete Phillis in einem leicht verbitterten Tonfall.
„Oh, gut", freute Houdini sich, ohne das verbal oder durch Mimik wirklich zu zeigen. „Du hast dir also auch schon Gedanken darüber gemacht und wir sind zum selben Schluss gekommen."
„Ich fühle es", gestand Phillis. „Es macht mir manchmal Angst."
„Weil du Marty als Vorbild dafür hast, wie es enden könnte?", fragte Houdini sie verständnislos.
„Ich weiß nicht", gestand Phillis. „Es ist nur ein Gefühl, ich habe es noch nicht ganz durchschaut. Aber jedes Mal, wenn ich jemanden heile und es mir immer leichter fällt... wenn ich einen Quaffel werfe und er ein Tor trifft... Ich habe im Training vor Kurzem einen Quaffel auf das Tor von Cian geworfen und er ist ausgewichen – hätte er versucht, ihn abzuwehren, hätte er sich wahrscheinlich etwas gebrochen. Die anderen waren begeistert, aber ich... Ich kann es nicht beschreiben..."
„Als wärst du im Besitz einer mächtigen Waffe, die alle deine Probleme lösen könnte, aber es fühlt sich trotzdem falsch an, sie einzusetzen, weil es für deinen Gegner nicht fair wäre?", fragte Houdini.
„Zum Teil", stimmte Phillis ihm zu. „Es ist kein Geheimnis, was mit Marty passiert ist, bevor er beschlossen hat, Pazifist zu werden –"
„Was ist passiert?", fragte Houdini. „Ich habe die Geschichte ehrlich gesagt nie gehört. Alle gehen immer davon aus, dass ich sie kenne."
„Ein Auftrag", erzählte Phillis locker, „ein ganz normaler Auftrag, nur dass er sich dann doch als mehr herausgestellt hat. Laertes, Birget und Marty waren unterwegs und haben entdeckt, dass sich Monster zu einer Armee zusammenschließen, um die Welt der Sterblichen zu überrennen und die Götter so aus ihren Verstecken zu locken. Wahrscheinlich hätte es nichts gebracht – nur einige tausend tote Sterbliche. Und Marty hat einen Pfeil geschossen..."
„Was hat der Pfeil gemacht?", fragte Houdini.
„Sie alle getötet – einen nach dem anderen", erzählte Phillis. „Es war ein Pestpfeil und die Krankheit davon hat sich ausgebreitet. Marty hat schon immer die Fähigkeit gehabt, seine Waffen mit Krankheit zu infizieren, aber davor waren es immer harmlose Krankheiten gewesen – eine Grippe oder nur eine Erkältung. Sie hat seine Gegner geschwächt, nicht getötet... aber dieser Pfeil – er hat sie alle umgebracht, einen nach dem anderen. Danach hat Marty sich geschworen, keine Waffen mehr zu führen, keinen Pfeil mehr zu verschießen. Das war eine zu große Macht, die nur den Göttern vorbehalten sein sollte."
„Es ist nicht wirklich so, als würden die Götter auch sonderlich gut mit ihren Fähigkeiten umgehen", schnaubte Houdini. „Wenn man sich die große Pest im 14. Jahrhundert ansieht –"
„Aber genau darum geht es", unterbrach Phillis ihn und Houdini sah sie beleidigt an. „Sie sind Götter – nicht unfehlbar, aber mächtig. Wenn ein Gott auf die Idee kommt, eine ganze Zivilisation auszulöschen, dann finden wir das natürlich schade, aber irgendwie verstehen wir es auch – sie sind Götter, warum sollten sie sich um Sterbliche kümmern. Aber wenn wir dasselbe tun würden... Es fühlt sich falsch an. Ich stehe zu den Göttern genauso, wie jeder von uns, aber ich finde, dass solche Mächte den Göttern vorbehalten sein sollten."
Houdini musterte sie nachdenklich. „Was ist passiert?", fragte er sie plötzlich. „Was erzählst du mir nicht?"
Phillis hatte niemals Geheimnisse vor Houdini gehabt. Manchmal hatte sie mit Dingen zuerst über Houdini gesprochen, bevor Remus davon hörte und sie hatte immer darauf vertrauen können, dass Houdini einen Rat für sie hatte. Birget hatte einmal gesagt, dass Phillis und Houdini absolut synchron funktionierten, wenn sie zusammen waren. Als hätten sie die Fähigkeit, gegenseitig ihre Gedanken zu lesen.
Das konnte manchmal nervig sein, wenn Houdini redete und erwartete, dass jeder bei seinen Gedankensprüngen mitkam, nur, weil Phillis es tat. Aber so war nun einmal ihre Beziehung – die Anfänge waren schon bei ihrem ersten Treffen gut sichtbar gewesen und mit den Jahren hatte sich das nur verstärkt.
Houdini sagte immer, dass es eine Schande war, dass Phillis absolut nicht tanzen konnte, denn sie wäre die perfekte Tanzpartnerin für ihn auf der Bühne. Das konnte man im Kampf sehen, wenn sie zusammen funktionierten, als wären sie eins.
Aber dieses eine Mal zögerte Phillis. Wie sprach man etwas laut aus, das sie selbst noch nicht verstand oder wahrhaben wollte?
Zu Phillis Glück musste ihre Antwort ein wenig verschoben werden.
Zu Phillis Pech –
Houdini duckte sich und Phillis musste nicht einmal darüber nachdenken, sie funktionierte beinahe schon automatisch. Keine Warnung war notwendig – wenn Houdini sich duckte, tat sie das auch.
Und keinen Augenblick zu früh, denn direkt über ihnen ergoss sich ein Strahl von einer Flüssigkeit, die stattdessen einen Hydranten hinter ihnen traf und diesen sofort auflöste – also Säure.
Phillis fluchte auf Griechisch und wollte nach ihrem Bogen greifen, aber natürlich hatte sie diesen nicht dabei. Sie war einfach nur mit Houdini unterwegs und sie war wahrscheinlich die letzten Jahre ein wenig verwöhnt gewesen – die wenigen Monster auf der Insel, vermischt mit der Tatsache, dass sie durch Remus meistens ihren Geruch ein wenig überdecken konnte, hatten dazu geführt, dass sie sehr selten angegriffen wurde – nur, wenn sie mit Houdini nach Amerika flog, um dessen Familie zu besuchen, traf sie auf mindestes ein Monster. Birget hatte einmal gesagt, dass ihr das nicht guttat – sie würde verlernen, wie man gegen Monster überlebte und unvorsichtig werden.
Birget hatte wohl Recht gehabt, denn Phillis war alles andere als vorbereitet und hatte nicht einmal ihren Bogen dabei, nur das Silbermesser, mit dem sie damals, vor ewig langer Zeit einmal, Lycaon umgebracht hatte.
Houdini war vorbereiteter, denn Athene hatte immer einen Plan.
Er packte seinen Regenschirm und zog den Schirm selbst einfach ab und entblößte damit seinen Degen, immer gut versteckt vor den Augen Sterblicher in der Form des Regenschirmes.
„Womit haben wir es zu tun?", fragte Phillis, aber ihre Frage wurde kurz darauf beantwortet. Autos hupten und man hörte das grässliche metallische Geräusch von Autos, die zerstört wurden und kurz darauf stampfte die Hydra auf sie zu.
Sie war riesig, echsenartig mit neun Köpfen, die sich alle auf Phillis und Houdini richteten, was selten ein gutes Zeichen war... eigentlich niemals.
„Wir haben es hier mit meiner großen Enttäuschung zu tun, denn offenbar bist du unbewaffnet", erkannte Houdini entspannt, in seinem ewig monotonen, gelangweilten Ton, mit einem kritischen Blick auf Phillis.
Phillis hob abwehrend ihre Hände. „Ich wollte mit dir nur einen Kaffee genießen!"
„Zwei mächtige Demigötter, viel zu alt für ihren Beruf, die zusammen unterwegs sind und für Monster bestimmt wie ein ganzes Fünf-Sterne-Menü riechen, und du kommst nicht einmal auf die Idee, dir einen Dolch oder etwas in der Art einzustecken?"
„Sehe ich so aus, als hätte ich in meinen Hosentaschen einen Dolch Platz?"
„Vielleicht solltest du anfangen, eine Tasche mitzunehmen?"
„Ich würde sie nur liegenlassen – ich trage meine Geldtasche immer in meiner Hosentasche."
„Gut, dann kannst du zumindest Charon bezahlen, wenn du ihm gleich begegnest!"
„Ich richte ihm Grüße von dir aus!"
Die Hydra war inzwischen nähergekommen und der mittlere Kopf öffnete sein Maul, während die anderen Köpfe wütend brüllten. Sie schob die Autos auf der viel befahrenen Straße einfach zur Seite, als wäre sie Kieselsteinchen und die Sterblichen rannten schreiend davon. Wer wusste schon, was sie sahen – vielleicht eine Gasexplosion – das war immer eine gute Ausrede für den Nebel.
Aber Phillis sah leider die Wahrheit – ein wirklich gefährliches, hungriges Monster, das sie schon entdeckt hatte.
Der mittlere Kopf spie Säure nach ihnen und Houdini packte sie am Oberarm, zog sie zu sich und sie funktionierten absolut synchron, als Phillis sich, ohne sich ansprechen zu müssen, über seinen Rücken abrollte, den Schwung nutzte, Houdini nun am Arm packte und ihn mit sich zog, hinter ein verlassenes Auto.
Die Säure verfehlte sie und hinterließ nur einen fauligen Geruch in der Luft.
„Zu meiner Wohnung", bestimmte Houdini. „Dort habe ich mehr Waffen."
„Es ist gleich um die Ecke", sagte Phillis in einem spöttisch fröhlichen Ton. „Da kann ich zu Fuß hin spazieren."
Nun war sie es, die Houdini am Arm packte, während sie in der Hocke vorsprang, sich auf dem Asphalt abrollte und hinter einem anderen Auto landete, Houdini dicht hinter ihr, nur kurz bevor die Hydra mit einem ihrer riesigen Pranken direkt das Auto zerquetschte, hinter dem sie sich versteckt hatte.
Sie hatten keine Zeit zum Ausruhen und Phillis zog Houdini auf die Beine, bevor sie zusammen in Richtung von Houdinis Wohnung rannten, aber die Größe der Hydra bedeutete leider auch, dass sie sehr große Schritte machen konnte. Sie verfolgte die beiden Demigötter brüllend und drohte, sie beide einzuholen.
Phillis hörte, wie einer der Köpfe wohl aufhörte zu brüllen und sie kombinierte mit ihren unglaublichen Fähigkeiten, dass –
„Säure!", warnte Houdini sie, einen Moment, bevor sie genau dasselbe sagen wollte. Houdini stieß sie von sich weg, suchte selbst hinter einer Hausmauer Zuflucht fand.
Sie entkamen dem Säurestrahl, aber leider hielt es die Hydra kaum auf und natürlich suchte sie sich Houdini als Opfer aus.
Phillis war bewusst, dass sie manchmal sehr impulsiv handelte. Ihr war auch bewusst, dass es irgendwann ihren Tod bedeuten würde – Remus hatte ihr das schon ein paar Mal gesagt, wenn sie während einem Spiel einen besonders riskanten Spielzug ausführte. Irgendwann, hatte er gesagt, würde sie fallen.
Als Phillis dieses Mal Anlauf nahm, eines der verlassenen Autos benutzte, um an Höhe zu gewinnen und absprang, dachte sie einen Moment lang, Remus' Prophezeiung würde sich erfüllen.
Sie war sich nicht sicher, ob es gut war, als das nicht der Fall war. Sie landete, wie es ihr Plan gewesen war, direkt auf der Hydra und klammerte sich am äußersten Hals dieser fest. Von der Ferne hatte die Hydra riesig gewirkt. Von Nahem erkannte Phillis, dass sie sogar noch größer war.
Ihr ursprünglicher Plan war es gewesen, einen der Köpfe zu erwürgen und sich vielleicht nach vorne arbeiten zu können. Nachdem sie nicht einmal ihre Arme um den Hals bekam, fiel dieser Plan ins Wasser.
Trotzdem lenkte es die Hydra von Houdini ab und nun konzentrierten sich alle Köpfe auf Phillis.
Ein anderer Kopf schnappte nach ihr, aber geschickt wich Phillis aus und der Kopf verbiss sich stattdessen in dem Kopf, an dem Phillis sich festgehalten hatte.
Phillis nutzte den Moment, um sich, wie an Seilen, weiter zu schwingen, um nächsten Kopf.
„Was genau machst du da?", rief Houdini ihr verständnislos zu.
„Ich habe keine Ahnung!", schrie Phillis zurück. „Wohnung! Bogen!"
Houdini verstand den Auftrag und rannte los, während Phillis sich unter einem anderen Kopf ducken musste, damit dieser nicht ihren eigenen Kopf abbiss – das wäre unangenehm geworden.
Leider hatte Phillis für einen kurzen Moment den mittleren Kopf vergessen – der, der auch noch Säure speien konnte.
Er spie direkt auf Phillis und diese verhedderte sich einen Moment zu lang zwischen den ganzen Hälsen, konnte nicht ganz ausweichen. Es waren nur ein paar Spritzer, die Phillis letztendlich erwischten und sie schrie vor Schmerz auf, als sie zu Boden fiel, sie hatte nur für einen Moment den Halt verloren.
Sie rollte sich ab, befand sich nun zwischen den Beinen der Hydra. Diese stampfte auf, wohl in der Hoffnung, Phillis-Mus aus ihr zu machen, aber Phillis wich gerade noch so aus, versuchte auf die Beine zu kommen, rutschte wieder aus – die Säure hatte sie am Bein erwischt.
„Phillis!" Houdini erschien wieder, in seiner Hand ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen. Es war nicht Phillis' goldener Bogen und auch nicht ihr Köcher, in dem sich vielleicht der eine oder andere Spezialpfeil befunden hatte. Er war die Waffe in Phillis Richtung und diese rollte sich ab – zum einen, um einem weiteren Mordversuch der Hydra zu entkommen und zum anderen, um näher an den Bogen und die Pfeile zu gelangen.
Phillis' Hand legte sich um die Waffe, sie spannte einen Bogen.
Die Hydra war direkt über ihr, die neun Köpfe starrten mordlustig auf sie herab. Der mittlere Kopf öffnete sein Maul, Säuretropfen tropften auf Phillis herab. Sie spannte den Bogen, noch immer am Boden liegend und einen Moment lang wurde alles langsamer.
Es war nicht wirklich so, dass wirklich die Zeit angehalten wurde, sie war nicht Kronos. Aber in Momenten wie diesen kam es Phillis immer so vor, als wäre die Welt viel zu langsam für sie, als würde sie zu schnell sein, für alles andere um sie herum. Das ADHS, wie sie vermutete – mittlerweile hatte diese Störung auch einen Namen bekommen.
Der Pfeil in ihren Fingern färbte sich schwarz von der Krankheit, die aus ihr herausströmte, direkt in die Spitze. Phillis wollte diesen Pfeil nicht schießen, aber gleichzeitig hatte sie keine andere Wahl.
Sie ließ ihn los und traf den mittleren Kopf direkt im Maul.
Und normalerweise hätte ein einziger, kleiner Pfeil so ein riesiges Monster niemals umgebracht. Aber die Pest des Pfeiles breitete sich schnell aus. Die Schuppen der Hydra verloren an Farbe und nacheinander verdrehten die Köpfe die Augen, als sie starben, bis sich das ganze Monster in goldenen Staub auflöste und Phillis keuchend auf dem Boden liegend zurückließ.
Ein Teil von ihr erwartete, dass ein Blitz direkt von Himmel sie treffen würde – sie war zu mächtig geworden, um weiterhin am Leben gelassen zu werden. Sie wusste es, die Götter würden sie nicht dulden. Sie hatten kaum Marty geduldet, warum sollten sie ein zweites Mal die Augen zudrücken?
Das hatte sie schon vor ein paar Wochen erwartet, als es ihr das erste Mal passiert war – einfach nur beim Training. Sie würde Remus sagen, dass der Baum, den sie dabei mit der Krankheit umgebracht hatte, bei einem Sturm oder ähnliches umgekippt war.
Aber nun war es ein zweites Mal passiert und das bedeutete bestimmt nichts Gutes. Warum sollten die Götter weiterhin erlauben, dass sie lebte?
„–lis! Phillis!" Weit entfernt hörte sie Houdini, als plötzlich sein unbeeindrucktes Gesicht in ihrem Blickfeld auftauchte. „Bitte sag mir nicht, dass du diese Hydra mit deinem letzten Atemzug umgebracht hast, das wäre viel zu dramatisch für dich!"
Phillis blinzelte. „Nein, ich lebe noch – glaube ich."
„Du bist verletzt", bemerkte Houdini. „Gehen wir in meine Wohnung, dort habe ich Nektar und Ambrosia."
„Was, hast du es nicht mitgebracht?", fragte Phillis spöttisch. Houdini half ihr auf die Beine und stützte sie.
„Dann wäre ich zu spät gekommen, um dir das Leben zu retten", erinnerte Houdini sie. „Das nächste Mal nimmst du bitte deine eigenen Waffen mit."
„Klar", grinste Phillis und begann mit Houdini in Richtung seiner Wohnung zu humpeln, in der Ferne hörten sie die Sirenen der ankommenden sterblichen Einsatzkräfte.
Einen Moment lang war es still.
„Ein Pestpfeil", sagte Houdini schließlich. Es war erfrischend, das in seinem monotonen, gelangweilten Ton zu hören, als wäre es nichts Besonders.
„Ein Pestpfeil", bestätigte Phillis leise. „Ich denke, langsam bin ich zu alt für diesen Job..."
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