Kapitel 11
"...Wie oft hatte ich gehofft, dass er sie einfach getötet hätte."
Gespannt sah ich auf und erhaschte einen Ausdruck auf Bens Gesicht, den ich noch nicht allzu oft gesehen hatte.
Er dachte tatsächlich nach.
Belustigt von meinen eigenen Gedanken begann ich zu schmunzeln und er fing sich schnell wieder.
"Ja diese Überlieferung ist mir gut bekannt. Wie oft haben wir sie in Almonds Lehre durchgenommen. Dabei kam eigentlich immer nur raus, dass die Schwester seelenlos zurück gelassen worden war. Jedoch ist uns dabei nicht bekannt, wie lange sie überlebt hat und ob der geheimnisvolle Mann nocheinmal gesichtet worden war. Es kann sich auch einfach um die Gedanken einer älteren Frau handeln, die die Aufmerksamkeit des Dorfes auf sich lenken wollte."
Am Klang seiner Stimme konnte ich hören, dass er der Quelle nicht viel Wahrheit zusprach. Genervt schlug ich Almonds Theorie zu und lehnte mich zurück im Stuhl.
"Aber wie könnt ihr mir denn garantieren, dass so etwas nicht mit mir passieren wird? Auch wenn nur ein kleiner Funken Wahrheit hinter diesen Worten steckt, möchte ich nicht riskieren meine Prüfungen als seelenloser Jäger abzulegen- auch wenn das sicher eine Premiere wäre."
Die Art wie er seine Augen verdrehte zeigte mir sehr gut, dass ich ihn nervte. Gut so, für mich war das hier auch kein Spaß. Er sollte einfach mal mit all seinen Informatioenen rausrücken.
"Das wirst du nicht. Selbst wenn der Bericht wahr ist, wirst du in der Lage sein der Anziehung zu widerstehen und dafür bist du hier. Genau das werden wir trainieren."
Ich hob eine Augenbraue, denn mir war nicht ganz bewusst, wie man soetwas trainieren würde.
"Aber alles zu seiner Zeit. Ich habe eine Liste für dich zusammengefasst mit Punkten, die wir abarbeiten werden und wichtigen Deadlines für dich."
Wieder hatte Ben den dicken Ordner dabei und blätterte etwas darin herum. Wie gerne würde ich mir das Ding krallen und ihn von vorn bis hinten durchlesen. Er reichte mir ein per Hand beschriebenes Blatt und ich begann zu Lesen.
Es waren eigentlich nur Gedanken-Punkte, wie eine große Mind Map. Ich hasste Mind Maps- meiner Meinung nach immer noch viel zu unübersichtlich. Und diese hier, ja diese hier hatte eine Preis für die wohl chaotischste Mind Map des Jahres verdient. Zweifellos stammte sie von Ben selbst.
"Liest du es bitte laut vor." Verwirrt kam ich seinem Wunsch nach:
"Gabriel Hintergrundinformationen: Geschichtlich, Sichtungenen, Neigungen
Training: Selbstverteifigung, Verschlossenheit."
Diese Worte standen in einem Feld mit der Überschrift : Momentan. Das Einzige was noch in der Liste eingetragen war, war ein Datum in Rot: 1.9. Herbstball. Jedoch war das alles. Keine weiteren Details, was dieser Herbstball zu bedeuten hatte oder besser was ich da zu suchen hatte, ganz zu schweigen was ich da machen würde.
"Was hat dieser Herbstball zu bedeuten." Grinsend nahm er mir wieder die Liste weg und ich fühlte mich weitaus verwirrter als zuvor.
"Natürlich interessiert sich das Mädchen nur für den Ball. Wie klischeehaft. Alles zu seiner Zeit Benton, alles zu seiner Zeit.", schnaupend raufte ich mir die Haare.
Hoffentlich würde ich Extrapunkte dafür bekommen mit so einem Idioten arbeiten zu müssen.
"Wir konzentrieren uns auf den Kasten der uns MOMENTAN etwas angeht. Also schieß los, was kannst du mir alles für geschichtliche Informatioen über Gabriel berichten."
Auch wenn mir Ben unglaublich auf die Nerven ging, musste ich mit ihm arbeiten. Also gab ich all das wieder, was ich gelesen hatte. Die verschiedenen Erzengel zusammen mit ihren unterschiedlichen Aufgaben und Symbolen. Ihre Rollen in den Religionen und Berichte über wahrhaftige Begegungen. Über Engel konnte ich lange reden, sie hatten mich bereits früher fasziniert.
"In vielen Überlieferungen sprechen Augenzeugen von einer Erhellung und einem gewissen Strahlen, das von ihnen ausgeht. Sie bringen oft Wärme und Geborgenheit mit sich und-"
"Okay gut ich glaube das reicht. Alles was du über Engel weißt, stammt aus den Geschichten alter Männer und Frauen. Ja so schön diese Erzählungen auch erscheinen, ist nie die Rede von gefallenen Engeln. Doch genau diesen widtmen wir uns. Sind sie erstmal hier, ist ihr Schimmer weitesgehend erloschen und sie erhalten einen gewissen menschlichen Zug. Wie auch wir wollen sie einfach nur überleben."
Ben schlug seinen Hefter auf einer Seite auf, welche zahlreiche Fotos zierte. Alle bei Nacht oder Dämmerung aufgenommen in den Gassen der Stadt. Bei genauem Hinsehen stockte mein Atem.
"Du musst dir vorstellen: eine Gestalt mit der Kraft eines Erzengels- weitaus größer als wir uns vorstellen können- wird hierher verbannt. Das Schlimmste dabei wird dieser Funken Menschlichkeit sein, welcher gefallene Engel umgibt und sich in ihnen ausbreitet wie ein Waldbrand. Und mit ihm kommet all das Menschliche zurück. Gut oder Schlecht spielt dabei keine Rolle: Lust, Wut, Gier, Neid. Theoretisch kann man jetzt alle sieben Todsünden aufzählen und heraus kommt der perfekte gefallenen Engel."
Gut konnte ich mir vorstellen, wie die dunklen Gassen mit den Blut Gabriels Opfer befleckt waren. Das Töten schien ihm nichts auszumachen. Nein auf den Bildern sah er keineswegs abgeneigt aus, vielmehr war das Gesicht neutral, manchmal sogar etwas zufrieden, als ob er einen Trieb befriedigt hatte.
Das Schlimmste an den Szenen war jedoch, dass Gabriel keine Waffe zu benutzen vermag. Nein seine Hände waren sein Werkzeug. In mehreren Fotos hatte er sie im Oberkörper der Opfer vergraben. Ja grade so, als umschloss er das Herz der Menschen.
"Wieso um alles in der Welt tut er das? Wieso auf so eine Weise."
Ben nahm mir die Bilder wieder weg und diesmal lag nicht der geringste Ansatz eines Grinsens auf seinen Lippen. Auch ihn schienen die Szenen zu verstören.
"Wir können nur Vermutungen anstellen, doch nach allen Überlieferungen ist es am Wahrscheinlichsten, dass er diesen Menschen zuvor die Seele genommen hat und nun hier auf der Suche nach...dem Rest war."
"Dem Rest?"
Ben räusperte sich.
"Nun ja es wird angenommen, dass sich der wichtigste und kostbarste Teil der Seele im Herzen befindet und einen nahezu überirdischen Charakter besitzen soll."
Ich verstand. Er wollte seine gesamte Kraft wieder erlangen. Ben blätterte eine Seite weiter.
"Jedoch scheint er an einem anderen menschlichen Zug auch sehr viel Gefallen gefunden zu haben. Lust."
Noch bevor ich die Bilder sah, wusste ich wie sie aussehen wüden und sofort schoss mir Blut in die Wangen. Ich war geneigt nicht hinzusehen, doch ein kleiner Teil in mir zwang mich die Fotos anzuschauen. Anders als das erste Foto waren diese nicht so intim. Die meisten waren auch wieder in Gassen aufgenommen worden und man sah keine wirkliche Leidenschaft im Ausdruck Gabriels. Seine Partnerinnen schienen die Angelegenheit jedoch sehr zu genießen, so wie sie den Mund geöffnet hatten und die Augen zugekniffen waren. Er jedoch schaute sie noch nicht einmal an.
Alle Bilder schienen gleich. Es wurde die Notwendikeit des Sex beschrieben, doch da war eins das anders war.
Allein der Ort machte einen riesigen Unterschied. Wieder war es durch ein Fenster fotografiert und wieder war es diese atemberaubende Frau mit den langen dunklen Haaren, den vollen geöffneten Lippen, die zu einem Stöhnen geformt worden waren. Doch der eigentliche Unterschied in dieser Szene war, wie sie sich anschauten.
Ja sie sahen sich dabei an und in seinem Blick lag dieses Dunkle und die Leidenschaft, dieser Funken.
"Wer ist sie?"
Fast hatte ich mich erschrocken die Frage wirklich zu stellen, doch es ging mir so leicht über die Lippen. Sie schien mich weitaus mehr in den Bann zu ziehen, als es Gabriel tat.
"Leija. Ihr Name ist Leija und sie ist auch ein gefallener Engel. Du wirst noch in das Vergnügen kommen mit ihr in Kontakt zu treten. Ein bisschen eifersüchtig bin ich ja dann schon auf dich."
Ich verdrehte die Augen und die Ernsthaftigkeit unseres Gesprächs war verschwunden. Den Rest der Zeit redeten wir über gefallenen Engel. Was sie gefährlich machte und was sie verletzte. Das Einzige was mich beunruhigte war, dass es keinerlei Informationen zu gefallenen Erzengeln gab. Ich befand mich mit meiner Aufgabe im kompletten Neuland.
"Die Stunde heute hat mir sehr gut gefallen, du machst ziemlich gut mit, das werde ich mir merken."
Nickend wollte ich aufstehen, die Stunde war vorbei.
"Ich würde gerne morgen mit deinem zusätzlichen Training anfangen. Ich hatte an drei Einheiten pro Woche gedacht- zwei jeweils am Wochenende."
Damit hatte ich gerechnet, doch ging er nicht näher darauf ein was wir genau trainieren würden.
"Sei einfach Morgen um 9 vor der Sporthalle. Und noch was."
Er schlug nocheinmal den Hefter auf und nahm das Foto von Leija und Gabriel heraus.
"Hier nimm du es, du scheinst es mehr zu brauchen als ich und vielleicht kannst du ja noch etwas.. drüber nachdenken."
Mit einem Grinsen drückte er es mir in die Hand und bevor ich etwas erwidern konnte, verließ er den Raum und ließ mich verwirrt mit dem Foto stehen.
Den restlichen Tag trug ich das Bild versteckt in meinem Innenfach der Tasche. Selbst als Amelie mich über die Stunde ausfragte holte ich es nicht heraus, um es ihr zu zeigen. Ich wusste nicht ob es Scham war oder ob ich diesen kleinen Moment in diesem Bild mit keinem anderen teilen wollte.
Erst als es schon längst dunkel draußen war und nur das Klacken auf der Tastatur im Raum ertönte, warf ich einen erneuten Blick darauf.
Ich wusste nicht, ob Ben es ernst gemeint hatte, dass ich noch einmal darüber nachdenken sollte, oder ob es einfach wieder eine seiner Sticheleien gewesen war. Doch fühlte ich mich jetzt weitaus wohler so eine Szene zu betrachten und beurteilen. Ohne den Blick von Ben im Nacken zu haben, der nur darauf wartete, dass ich einmal zu lange gewisse Körperregionen anschaute.
Amelie war vertieft in ihre Materialsammlung und so betrachtete ich das Bild im Schein meiner Schreibtisch Lampe.
Das Paar befand sich auf einem Bett, welches mit weißen Laken bedeckt war, er über sie gestütz. Dabei hatte Gabriel ihren Kopf mit einer seiner Hände umfasst. Ihre Gliedmaßen waren ineinander umschlungen und jeder Muskel im Rücken des Erzengels schien angespannt zu sein.
Und da bemerkte ich zum ersten Mal diese zwei kleinen Schnitte an den Schulterblättern.
Stirnrunzelnd kniff ich die Augen zusammen, um mehr zu erkennen. Doch die Aufnahme war schlecht. Es war dunkel und ein Fenster war zwischen dem Fotografen und dem Paar, so konnte es sich auch einfach um eine Spiegelung des Glases oder eine Reflektion handeln.
Doch stellte man sich einen Engel vor, so wären dort die Ansätze seiner Flügel gewesen.
Hatte man dem Erzengel Gabriel bei seinem Fall etwa seine kostbaren Flügel genommen?
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