Absolution

»Vergib mir Vater, vergib mir.«

Sie kniete sich vor das große Kreuz, hielt den Rosenkranz fest zwischen ihren zittrigen Händen. Ihr Kopf blickte starr auf die steinernen Fußbodenplatten, die ihr Grund und Boden darstellten. Der Habit versteckte den Körper einer Frau im mittleren Alter, die vor wenigen Tagen das Mariä Kloster zu Magdeburg erreichte.

»Befreie ihn von meinem Leib, treib ihn mir aus. Es ist ein Dämon, der in mir haust. Ich will ihn nicht mehr, ich kann ihn nicht mehr ertragen. Bitte, ich lege mein Herz in deine Hände. Schütze mich. Rette mich

Die Mohnblumen vor dem Kloster neigten ihre Köpfe in der leichten Sommerbrise, die an den Nasen der Städter vorbeizog. Das Gras verbeugte sich und hieß sie willkommen. Es war ruhig in diesem Moment, als die Sonne auf das kleine Kloster schien. Es war, als hätte das Leben nicht aufgehört, zu sein, als würden alle Menschen, die der Frau in diesem Moment so nahe waren, ihrem Alltag nachgehen. Sie würden einkaufen, lieben, lachen, sie würden nichts davon wissen, dass es in diesem Moment eine Person gab, die sich alles fragte und niemals eine Antwort bekam. Sie war verzweifelt gewesen und sah im Kloster ihre letzte Rettung. Die Frau war an einen Punkt angekommen, dem sie nicht aus Logik, sondern aus Verzweiflung folgte. Das Kloster war ihre letzte Chance gewesen, um sich von dem Leid, das sie so sehr plagte, befreien zu können. Sie hatte so vieles ausprobiert, doch sie fand keine Antwort. Das Leben, das sich vor ihr auftat, zeigte ihr nur noch mehr Fragen, anstatt die eine zu lösen, weswegen sie gekommen war. Sie erblickte das Licht der Welt und hatte nur die Antwort einer Frage im Kopf. Sie irrte umher, aber fand nicht das, wonach sie sich so sehr sehnte. Sie tat alles in ihrem Leben, alles, um endlich Erfüllung zu empfinden. Sie war so schlau gewesen, sie war so mutig gewesen, sie war so heldenhaft gewesen, aber sie war nicht glücklich. Sie war nicht zufrieden. Sie strebte nach so viel Wissen und Möglichkeiten, nach Talenten und Realitäten, doch erreichte sie nie ihr Ziel, weswegen sie eigentlich gekommen war. Was war Zufriedenheit gewesen? War Zufriedenheit, dass man sich mit den Dingen, die einen betrafen, unwiderruflich arrangierte? Sie fand keine Alternative und war unglücklich geworden. Konnte sie denn dann, unter eben jener Definition, jemals glücklich werden? Konnte es ein Mensch? — Ein Lebewesen?

Sie stand im Kreuzgang und blickte auf den kleinen Garten, der sich in der Mitte der Anlage befand: »Ich habe so viel falsch gemacht«, sagte sie dann und fühlte sich plötzlich heimatlos. »Wer bin ich schon, wenn ich ich die Liebe, die ich erlebe, nur sehe, aber nie erreichen kann. Wer bin ich, wenn ich, auch wenn es nur für mich ist, mir diese Liebe abspreche? Ich bin eine Gefangene in einem Körper, der sich darauf verschrieben hat, zu leiden. Was muss ich nur für ein Mensch sein, der andere Leute glücklich sieht und dadurch eine so unendliche Traurigkeit erfährt? Was muss ich für ein Mensch sein, der das Glück der anderen vernimmt und deshalb leidet? Was bin ich für ein Wesen, wenn die Bezeichnung „Menschlich" nicht mehr zutreffend ist? Ich brauche die Erlösung. Ich flehe nach ihr. Es muss etwas passieren, sonst zerreißt es mich. Ich muss wissen, dass mein streben nie vergebens gewesen war. Dass es etwas, einen Ort gibt, wo ich dafür belohnt werde, so gehandelt zu haben, wie ich es getan habe. Schlussendlich kann es nur die Vorstellung eines himmlischen Reiches sein, einer Imagination, die mir die Erfüllung bringt, alles richtig getan zu haben.«

Wieder betete sie und hoffte darauf, eines Tages erlöst zu werden. Sie hoffte, dass sie die Absolution empfangen würde, dass sie den Schmerz, der sie über all die Jahre kleinlichst verfolgte, vergessen würde und in ein neues, bescheideneres Leben treten könnte. Wie das Licht auf das Kreuz fiel, vor dem sie sich wieder einmal hat herniedersinken lassen, da schien das Licht auf sie selbst und bevor sie realisieren konnte, was überhaupt geschehen war, fühlte sie schon eine Wärme, die von nichts anderem als ihrem Erlöser ausstrahlen konnte. Er war bei ihr. Endlich war es soweit. Sie wusste es.

»Bist du es?«, fragte sie, um sich wirklich sicher zu sein.

»Der bin ich.«

»Kannst du mich retten?«

»Vor deinem eigenen Körper? Vor deinem Geist, der begierig all das annimmt, was ihm schadet?«

»Vater, du sagst es, als sei es meine Schuld.«

»Ist es das nicht?«

»Ich weiß es nicht.«

Und so verschwand das helle Licht wieder, das sie sich hat so schön vorgestellt. Sie blickte nach oben doch sah nur das Kreuz, dem sie inzwischen tagtäglich demütig gegenüberstand. War es denn ihre Schuld gewesen, ihre Sünde, dass sie sich einredete, — sie verbot sich den Gedanken. Wieder tat sie alles, was von ihr verlangt wurde, und doch erkannte sie wieder einmal, dass es auch an dieser Stelle ihres kläglichen Lebens nichts brachte. Ihr fehlte der Funken, ihr fehlte Seite dreihundertachtundzwanzig, ihr fehlte das gewisse Etwas, das so klein war, aber dennoch so bedeutsam. Sie kämpfte um eine Selbstverständlichkeit, die man nicht erreichen konnte.

»Ich stehe zwischen den Schwestern, zwischen dem Leben, und doch bin ich alleine. Zwischen so vielen Seelen finde ich niemanden, der sich meiner gleicht, dem ich gleiche, dem mein Wesen gleicht. Ich bin alleine.«

»Weil du es willst?«, diesmal war die Stimme ganz plötzlich aufgetaucht. Im Chorgesang stand sie vor ihr. Über die Fenster der Apsis schien sie herein, beleuchtete den umhüllten Kopf und traf eine mörderisch-verwirrte Frau.

Ein letztes Mal stand sie auf dem hohen Berg mit dem noch höheren Gras und sah unter dem Mondlicht auf die Stadt hinab. Neben ihr befand sich eine kleine Linde, die vor einigen Tagen gepflanzt worden war. Es war ganz angenehm gewesen, sich auf den Boden Gottes zu setzen, unter den Schäfchenwolken die Sterne zu beobachten und zu wissen, dass es jemanden gibt, der ihr zusieht. Unter ihrem Habit fühlte sie sich umhüllt.

»Lange dachte ich, der Tod sei die Antwort. Jetzt bin ich aber am straucheln: ist der Tod wirklich die Lösung? Bin ich bereits das, was ich will, das, was ich sein will? Bin ich ein so guter Mensch, um jetzt zu gehen? Oder ist es mir nur wichtiger geworden, dass mir nicht mehr alles so egal ist, dass ich nicht einfach nur sterbe? Ist das Martyrium, das mich in diese Lage gebracht hat, das, welches vorbei ist, nicht mehr so präsent, dass ich inzwischen tatsächlich abschätzen muss, ob ich tatsächlich bereit bin, zu gehen? Besteht meine Absolution, von der ich immer ausgegangen bin, tatsächlich in meinem Tod - oder steckt hinter ihr eine viel größere Aufgabe, die ich erst jetzt wahrnehme? Ich will mit meinem Leben glücklich sein, damit ich glücklich sterben kann. Ich will in den Himmel fahren und wissen, dass ich ein guter Mensch gewesen bin. Dass ich die Zeit, die ich hatte, sinnvoll genutzt habe, dass ich eben nicht neidisch und eifersüchtig war, nicht voller Hass, weil ich klug genug war, verstanden zu haben, dass es ehrvoller ist, tugendhaft als eigennützig zu sein. Mein Hass, der Hass generell, resultiert nur aus meinen persönlichen Verwürfen mit der mir umliegenden Gegenwart. Ich wäre nicht neidisch, wenn ich mit meinem Leben zufrieden wäre. Ich hätte den Mann, der im Laden arbeitet, nicht verachtungsvoll betrachtet, weil ich mir seine Welt als perfekt vorgestellt habe, wenn ich mit meiner nicht, nicht selbstverschuldet, unzufrieden gewesen wäre. Besteht meine Absolution darin, geliebt zu werden? Oder sollte sie nicht viel mehr das sein, dass ich mich selbst liebe? Dass ich gar nichts anderes als Hass in mein Herz lassen könnte, wenn ich nicht von mir selbst aus bereit wäre, es zuzulassen? Besteht die Absolution dieses Pappelsommers darin, dass ich tatsächlich mit mir umzugehen lernen muss? Ist es die Güte, den anderen zu verzeihen, um mich zu erlösen? Dass ich von der Position eines Richters, des Richters über meine eigene Person, abtrete und verstehe, dass nicht ich, sondern Gott richtet? Wird es getan, damit ich es nicht tun muss? Damit ich selber nicht darüber nachzudenken habe, wer es verdient und wer nicht, dass ich nicht schlussendlich, wie jetzt auch, darauf komme, dass es niemand verdient hat? Schaffe ich die Absolution nur durch die Inszenierung einer höheren Macht, die uns allesamt gleichsam beurteilt? Ich weiß es nicht. Und ich liege unter den Sternen, habe so viele Gespräche im Kopf und Zeilen zu Freunden geschrieben, doch ich habe keine Antwort. Ich habe keine Antwort auf die Existenz eines Gottes, von dem ich ausgehe, dass er nicht existiert. Ich habe keine Antwort auf die Frage, was mich glücklich werden lässt. Ist es das Talent, dass ich all das hier niederschreibe? Ist es mein Wissen, nach dem ich so krankhaft strebe, weil es das einzige ist, was ich irgendwie beeinflussen kann? Oder ist es tatsächlich die Liebe, der Faktor, den ich niemals verändern kann? Die Suche nach dem, was ich niemals erreichen kann, gleicht dem Topf voller Gold. Ich will sie so sehr, doch ich erhalte sie nicht. Ich laufe an allen vorbei, die den Goldtopf in ihren Händen halten und werde traurig, weil ich ihn nicht habe. Der Goldtopf spendet Sicherheit. Er ist Sicherheit, weil er eine solide Grundlage bildet, Rückhalt, ein Haus, eine Heimat, er ist ein Gefühl, das sich nicht beschreiben lässt, weil es von so unterschiedlich-schöner Natur ist. Es ist meine Quintessenz zur Perfektion. — Kein Mensch ist perfekt, weshalb ich einsehen muss, dass ich es nicht erreichen könnte, egal wie sehr ich danach strebe. Egal, wie nah ich meinem Wunsch komme, ich werde ihn nie fassen können. Die einige Möglichkeit, die ich jetzt noch sehe, ist das Mittel, meinen Wunsch mir abzusprechen. Ich muss es schaffen, die Lage zu akzeptieren. Ich muss die Antwort, die mir nicht gefällt, die mir aber schon so früh verraten worden ist, endlich akzeptieren. Ich muss mein Leben aufwiegen. Ich muss akzeptieren, was ich bin, um glücklich zu sein. Ich muss mir meine Liebe selbst schenken, weil ich sie anders nicht erhalten werde. Ich werde keine Absolution bekommen, wenn ich dem Traum, der von so vielen gelebt wird, niemals erreichen kann. Ich bin verzweifelt, das soll man wissen. Den Glauben an ein himmlisches Reich, in dem ich glücklich sein kann, in dem ich die Absolution erhalten habe, habe ich nicht deshalb, weil ich davon überzeugt bin, sondern deshalb, weil es mich die Wahrheit zerrissen hat. Skotos kam und ich konnte ihm nichts entgegen stellen. Skotos ist schrecklich, Skotos ist die Wahrheit, Skotos ist das Resultat eines Menschen, der so viel Leid hat, dass er es nur noch in einer schillernden Figur darstellen kann. Ich brauche ein himmlisches Reich, um mir einreden zu können, dass es wert war, so gelebt zu haben, wie ich es tat. Ich bin es wert, dass das alles hier gelesen wird.«

»Ich suche nach der Befreiung. Ich suche nach meiner selbst. Ich suche einzig und alleine nach denjenigen, der mir sagt, dass ich es wert bin, geliebt zu werden. Es ist meine Verzweiflung, die mich sagen lässt, dass es einzig und alleine Gott ist, der mich schätzt so wie ich bin und mich fühlen lässt, dass ich ein gutes Herz habe, der weiß, dass ich ein guter Mensch bin, der das Richtige tut, der von meinen Idealen weiß und versteht, warum ich sie so hemmungslos verfolge. Er sieht die Welt wie ich, er ist für mich da, weil es kein anderer sein könnte. Er gibt mir eine Heimat, weil ich keine habe. Er gibt mir Schutz, weil mich alle zurückgelassen haben. Er weiß, dass ich gut bin dass ich ein schönes Lächeln habe, einen schönen Körper und das meine Geschichte zu grausam ist, um sie jemand anderem zu erzählen. Er ist bei mir, weil alle mich verlassen haben.«

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top