8 | Stauen

Leons geschwächter Körper war nicht imstande, langfristig wach zu bleiben. Immerzu fiel er in kurze oder längere Schlafphasen. Obgleich er dies nicht wollte. Zu prägnant war seine Furcht, auf Wolfgang zu stoßen oder andere Gräuel, die ihm sein Unterbewusstsein schicken wollte.

Zwar drängten ihn schon immer die Fragen danach, woher er eigentlich stammte, doch zugleich hatte er sich damit abfinden müssen, dies niemals in Erfahrung bringen zu können. Er war ein Waisenkind, das niemand haben wollte, das jeder allein lassen würde. Er gehörte nirgends dazu.

Genauso sehr, wie sich die Fragen anstauten, brauten sich Bilder in ihm auf. Als würde sein Kopf ihm immer eine Antwort geben wollen. Doch seinen verworrenen Gedanken, Glauben zu schenken, damit tat er sich sehr schwer, denn er war noch sehr klein und jung, als er zu Pastor Wolfgang kam. Konnte die Antwort dann wirklich in ihm schlummern? Oder entstanden diese angeblichen Erinnerungen nicht vielmehr lediglich aus der Angst und seinen Wünschen.

Leon war derart geschwächt, dass er den gänzlichen weiteren Tag sowie die folgende Nacht weiterhin im Bett verbrachte. Weitestgehend schlafend. Ab und zu – das bekam er mit – schaute Pastor Hansen nach ihm. Manchmal setzte sich dieser zu ihm und las ihm vor.

Am darauffolgenden Morgen wachte Leon gähnend auf, während Pastor Hansen erneut zu ihm sprach. »Sei getrost und unverzagt. Fürchte dich nicht und lass dir nicht grauen, denn der Herr, dein Gott, wird mit dir wandeln und wird die Hand nicht abtun noch dich verlassen.«

Leon blinzelte ein paarmal und drehte seinen Kopf zur Seite. Zu Pastor Hansen.

»Guten Morgen, mein Kind«, begrüßte er ihn freundlich. Er zeigte auf seine Bibel. »Das war eben aus der Bibel. Fünfte Buch Mose, Kapitel einunddreißig, Vers sechs. Der Herr ist bei dir und ich bin es auch.«

Leon nickte ihm zu, das hatte er sich gedacht, nicht die exakte Stelle, aber dass es aus der Bibel war.

»Geht es dir schon besser?«

Leon fühlte in sich hinein und nickte erneut.

»Gut. Das ist gut. Das freut mich.« Pastor Hansen wandte sich ein Stück zum Tisch, legte dort die Bibel ab und schraubte ein Gefäß auf. »Ich habe hier Suppe für dich. Die wird dich hoffentlich stärken.«

Er füllte sie aus der Thermoskanne in eine kleine Schale, währenddessen sich Leon wankend auf dem Bett aufsetzte. Seine nackten Füße baumelten über dem Rand des Bettgestells in der Luft. Er zupfte sich die Decke zurecht, sodass wenigstens seine Beine weiterhin bedeckt waren. Misstrauisch nahm er das Schälchen vom Pastor entgegen. Als er sah, dass dieser sich selbst einen Becher mit Suppe befüllte, konnte er seinen Hunger nicht mehr bändigen. Er schöpfte den Löffel voll und schob ihn sich in den Mund.

Gier kann schmerzlich sein. Der Dampf hätte Vorwarnung genug sein müssen, doch das war er nicht. Er hätte pusten sollen, doch das tat er nicht.

Die Suppe war brühendheiß, somit stieß Leon einen halberstickten Schrei aus. Besorgt schielte er über den Rand seiner Schale zu Hansen hinüber.

»Du hast lange nichts mehr gegessen, nicht wahr?«, war jedoch alles, was der Pastor dazu sagte. Keine Mahnung, keine Anklage.

Mit einem weniger mulmigen Gefühl widmete sich Leon der Suppe. Der aromatische Duft drang in seine Nase ein und regte seinen Speichel an. Er hatte wahrlich lange nichts mehr zu sich genommen. Die wohltuende Flüssigkeit besänftigte nicht nur seinen Magen, sondern sein gesamtes Inneres, als würde die Wärme bis in den letzten Zeh ausstrahlen.

Ein heilsamer Stau an warmen Gefühlen schien sich aufzutun.

»Wenn es dir gut genug geht, zeige ich dir gleich das Badezimmer«, schlug Pastor Hansen vor, als Leon das letzte Bisschen der Suppe löffelte. »Dann kannst du dich waschen und auch frische Kleidung anziehen.«

Leon sah ihn verwundert an, denn er hatte nichts dabei. Er besaß nichts. Da er nicht wusste, wie er das zeigen sollte, zuckte er lediglich mit seinen Schultern und schaute dann demütig hinab auf den Boden.

»Ich habe ein paar Anziehsachen aus der Spendensammlung herausgeholt, die dir passen sollten«, versuchte Hansen ermutigend weiterzusprechen.

Vorsichtig rückte Leon mit seinem Hintern näher zum Bettende und stand auf. Dabei landete seine Hand in etwas Nassem. Ihm wurde bewusst, dass er lange Zeit in diesem Bett lag und noch kein einziges Mal aufgestanden war. Es konnte sich nur um eines handeln. Seinen Urin. Er zog hektisch die Decke über die Stelle und drehte sich mit rotverfärbten Wangen und einer tiefen Scham in sich zum Pastor um. Er hoffte inständig, dass dieser es nicht gesehen hatte und nicht erblicken würde.

Dann folgte er ihm auf nackten Sohlen zum Badezimmer. Ein kleiner, aber zweckdienlicher Raum. Nur ein paar Schritte entfernt waren vorne links das Waschbecken und dahinter eine Toilette. Sogar eine Dusche befand sich in der rechten hinteren Ecke des Raums.

»Hier habe ich dir ein Handtuch und die Kleidung hingelegt. Wenn du noch etwas brauchst, ich bin dort«, erklärte der Pastor, als er ihm die kleine Ablagefläche vorne rechts zeigte und dann gegenüber auf – wie Leon annahm – eine Bürotür deutete.

Mit einem Nicken verschwand Leon in das Bad und schloss hinter sich die Tür. Tief ausatmend schlich er zur Ablage, als ob er mucksmäuschenstill sein müsste; als wäre er ein kleines schmutziges Geheimnis.

Die Kleidung weniger beachtend, dennoch froh darum, schritt er weiter vor. Mit Zahnputzutensilien, die ebenso bereitgelegt wurden und dem Handtuch in der Hand, das sich himmlisch weich an die Haut schmiegte. Über dem Waschbecken hing kein Spiegel. Demnach konnte er nach wie vor sein abscheuliches, mit Sicherheit verunstaltetes Gesicht nicht betrachten. Er nahm seine neue Kette ab und legte sie auf den Rand des Waschbeckens.

Nachdem er sich auf der Toilette erleichterte und sich die Zähne putzte, wobei sich sein Gesicht noch sehr verspannt anfühlte, schaltete er die Dusche an. Mit dem Fuß erspürte er, ob das Wasser eine angenehme Temperatur angenommen hatte. Die Furcht vor den Wundschmerzen hatte er verloren. Er hatte sie verdient.

Frisch gewaschen und neu eingekleidet sowie dem Kreuz um seinen Hals schlüpfte er aus dem Badezimmer. Unschlüssig stand er mit dem Haufen Zeug in der Hand im Flur und wusste nicht, ob er zurück in den Raum gehen, bei dem Büro klopfen oder lieber ganz verschwinden sollte. Leon entschied sich fürs Erstere. Dann könnte er eventuell noch notdürftig das Bett säubern und sich überlegen, was er mit seiner alten durchgelöcherten Schmutzwäsche anfangen sollte.

Die Tür stand offen. Als er die Schwelle erlangte, setzte sein Herz kurzzeitig aus. Nicht nur, dass der Pastor sein Übel beseitigt hatte, er hatte ebenso seinen Beutel in der Hand. Der platt und eingefallen aussah, als würde sich dort nichts mehr drin befinden.

Die vorhin aufgestauten wohligen Gefühle lösten sich ins Nichts auf und schufen Platz für ganz andere. Mit wildklopfendem Herzen und seiner zum Kreuz wandernden Hand starrte er den Pastor an. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top