6 | Tauen
Durch die Straßen und Gassen zog sich eine atmosphärische Luft, die sich tief bis in jede Ecke jedes Raums hineinschlich. In ihr lag diese bedrückende Last der vergangenen Tage. Die der kontinuierlichen Wehen, die die unaufhaltsamen Massen mit sich brachte. Doch es verweilte nicht nur diese Schwere dort drin, etwas anderes war ebenso auszumachen. Mit jedem Zug kam es deutlicher zum Vorschein. Sie wurde reiner, kristallklar. Eine Frische, die nicht schmerzte. Der Duft nach Veränderung befand sich in ihren Ausläufen. In der Stille erklangen leise Töne des Schmelzens, die sich anhörten, als würden filigrane Miniaturorgeln bespielt werden.
Eine wunderhübsche Melodie zum Erwachen. Beinahe zu schön, um wahr zu sein. Mit Sicherheit konnte Leon es nicht sagen, nur mutmaßen, doch es wird der nächste Tag gewesen sein, als er zu sich kam. Mit einer wärmenden Decke über seinem Körper und diesem melodischen Klang. In einem karg möblierten Raum.
Er war von vier weißen, mit Raufaser tapezierten Wänden umgeben. An der Stirnseite wies der Raum ein Fenster auf, auf dem sich Dunst abgelegt hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich die Zimmertür. Hellbraun, leicht gesprungen mit einer silbernen Klinke. An der einen Längsseite des Raumes stand ein schmales Bett. Indem lag Leon. Über ihm wurde die Wand auf halber Höhe durch ein Kruzifix unterbrochen. Andächtig betrachtete er es, doch der Bezug war verloren gegangen. Schräg ihm gegenüber versuchte ein kleiner Tisch mit einem Stuhl zum Sitzen einzuladen.
Auf dem unbequem aussehenden Stuhl – maximal einen Schritt entfernt – saß Pastor Hansen. Mit dem Kopf weit im Nacken gelehnt. Auf seinem Schoß lag aufgeschlagen die Bibel. Er schien zu schlafen.
Hatte er sich das doch nicht eingebildet und nicht geträumt; hatte der Pastor für ihn gebetet? Warum für ihn?
Mit jedem Atemzug erwachte sein Verstand und damit ebenfalls sein Empfinden. Aber dennoch konnte Leon es nicht eindeutig einordnen, was geschehen sein mochte. Etwas war anders an ihm. Sein Gesicht schien dicklich, fester und bepackt zu sein. Noch hielt ihn seine Furcht davon ab, sich zu bewegen; sich dem auf die Spur zu begeben.
Weder wollte er den Pastor aufwecken und ihn dadurch womöglich unnötig aufregen, noch wusste er, ob er wirklich wissen wollte, was mit ihm passiert war.
War der Pastor einer dieser Dämonen mit den länglichen Fratzengesichtern? Hatte er ihm etwas Schreckliches angetan und dann um Gnade gebeten? Leon versuchte herauszufinden, was genau geschehen sein konnte, indem er einzelne Gedankenfetzen zusammenlegte.
Fiese Geräusche, widerliches Schrappen auf Haut – auf seiner Haut. Mit jeder verstrichenen Sekunde, mit jeder kleinen Erinnerung stieg Unwohl in ihm auf. Dieses Gefühl breitete sich rasant in ihm aus. Er sah, wie die Decke wackelte und spürte, wie seine Hände und Knie es verursachten.
Mit dem Blick darauf hoffte er dennoch, dass es nicht so laut nach außen drang, wie er es vernahm. Jede kleine Ungewissheit ließ ihn zunehmend nervöser werden. Ebenso die Tatsache, dass er nicht sicher war, ob er Pastor Hansen vertrauen konnte. Woher sollte er es wissen?
War er ein weiterer Teufel, der sich als Geistlicher tarnte? Blenden lassen wollte er sich kein zweites Mal. Sein kindlicher Trotz übernahm die Kontrolle im Inneren. Du bist schon einmal fortgegangen, du schaffst es auch erneut, flüsterte es ihm ein. Keiner fühlt sich für dich verpflichtet, verschwinde, solange du kannst. So war es immer, er musste selbst für sich sorgen.
Sich selbst zustimmend schwang er die Decke von sich weg und drehte sich mit seinen Beinen zum Rauminneren. Unmittelbar flackerten Punkte vor seinem Gesicht auf. Seine stramme Haltung hielt nur für ein Bruchteil einer Sekunde an, bis er sich schwächelnd zurück ins Bett fallen lassen musste, damit er nicht kopfüber auf den Boden landen würde.
Er hörte neben sich aufgeschreckte Geräusche und wappnete sich innerlich.
»Du bist wach«, begrüßte ihn Pastor Hansen mit einer hellen Stimme und sprang dabei auf. »Wie geht es dir? Lass dich ansehen.«
Die freundliche – gar fröhlich – klingende Stimme mit ihm in Einklang zu bringen, schaffte er nicht, er blieb misstrauisch. Mit gemischten Gefühlen ließ Leon es über sich ergehen. Standhaft konnte er nur bei einem bleiben: Nicht zu sprechen. Unwirsch und hibbelig beäugte der Pastor ihn, zupfte hier und da an ein paar Stellen. Den Schmerz dabei blendete er aus, denn durch die Untersuchung erfuhr er zumindest, wo er gekennzeichnet wurde und wie schlimm es womöglich war, neben seinem schwachen Kreislaufsystem.
Pastor Hansen legte eine Pause ein und verschwand. Aus welchem Grund – Eigennutz oder weil er merkte, wie schwach Leon war – konnte Leon nicht beurteilen. Jedoch kam der Geistliche aus dem Nebenraum mit einem Glas Wasser für ihn wieder. Als er es sah, sehnte sich sein ausgedörrter Körper sofort danach, gleichermaßen wunderte er sich, dass er das vorher nicht zu spüren bekam. Leon setzte sich auf. Derweil er die Flüssigkeit gierig in seinen Rachen flößte, erklärte der Pastor ihm, was er im Anschluss vorhabe.
Sein Gesicht war übersät mit Pflastern und Kompressen, die er nun nach und nach abziehen wollte, um das Gesicht mit der Haut im Ganzen begutachten zu können.
Mal schaute der Pastor sichtlich zufrieden aus, im nächsten Moment jedoch wirkte er auf Leon, als würde er nur mit Mühe und Not sein Inneres bei sich behalten können. Der üble Geruch, der sich zum Teil von seinem Gesicht absetzte, stieg auch ihm in die Nase.
Haben meine inneren Narben nun doch einen Weg nach draußen gefunden, um mich zu brandmarken?
Dabei hatte er doch so viele Jahre seine Risse feinsäuberlich verklebt, damit er halten und stabil bleiben konnte. Für das Leben, was ihm geschenkt wurde. Sollte das alles für nichts gewesen sein wegen ... Wegen des Lebens, das mir gegeben wurde, verstand er nun.
Er wartete auf das Urteil. Welches ich ertragen werde, wie ein Mann es tut, nahm er sich vor. Hohn und Spott sollte an ihm abprallen, zumindest äußerlich. Es wurde Zeit, die Hülle des kleinen schmächtigen Jungen abzulegen. Diese durfte mit dem tauenden Schnee sich allzu gerne auflösen.
Doch der Blick des Pastors gab nun nichts mehr preis, er hatte sein ermutigendes Gesicht aufgesetzt.
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