4 | Rauschen

Eben noch dankte Leon für den öffentlich zugänglichen Raum, im nächsten Moment verfluchte er sich selbst für seine Dummheit. Wie konnte er seine Augen verschließen? Sodass sich eventuelle Gefahren leicht auf ihn stürzen konnten.

Er blickte einem älteren Mann entgegen, der aus der Richtung des Altars auf ihn zuzukommen schien. Leons Herz pochte, sein Puls raste. Beides drohte entweder gefährlich zu stolpern, um zu fallen oder gar direkt zu stoppen.

Das Rauschen, das erst dröhnend in sein Kopf stieg, um sich dann auszubreiten. Von innen nach außen, um sich wieder einen Weg hinausbahnen zu können. Doch Leon war die Reaktion seines Körpers gewohnt. Wie das Rauschen im Ohr ihm seine Sinne nehmen wollte. Und er kannte ebenso eine helfende Methode. Während der Mann in seiner kirchlichen Robe auf ihn zuschritt, horchte Leon auf sein Herz.

Auf einem Bein steht der Flamingo. Mit zwei Flügeln fliegt ein Vogel. Drei Finger hat das Faultier. Auf vier Pfötchen tapst ein Hund und fünf Augen hat eine Biene.

Es funktionierte. Sein Herz beruhigte sich, wenn auch nicht so sehr wie sonst. Der Mann kam weiterhin auf ihn zu. Unbewusst rutschte Leon noch weiter weg.

»Ich tue dir nichts, mein Junge«, sprach der Kirchliche nun aus, als er an der Bank ankam. Er deutete auf die Sitzreihe und setzte sich selbst hin, blieb dabei jedoch am Rand.

»Sag mein Kind, was treibt dich hierher?«

Obwohl Leon auf der Suche nach Hilfe war, wusste er nicht, was er sagen sollte. Somit blieb er stumm. Sein Blick glitt zwischen dem Geistlichen und der Vorderbank – vielmehr wollte er nach unten schauen, traute sich aber nicht richtig – hin und her. Zunehmend wurde er nervöser und bekam das Gefühl, in eine Falle hineingetappt worden zu sein.

»Schnapp dir deine Sachen und komm mit mir«, sprach der Geistliche sodann, was in Leon ganz unterschiedliche Emotionen hervorbrachte.

Ob er es ehrlich meinte? Oder er hatte ebenso wie Pastor Wolfgang vor, ihn zu locken, um ihn als unbezahlte Arbeitskraft auszunutzen. Leon biss sich auf seine spröde Unterlippe, die sofort aufsprang. Das Blut quoll heraus, was ihn angeekelt den Mund verziehen ließ. Dazu hatte er es gesehen.

»Du musst eine fürchterliche Zeit hinter dir haben. Nebenan ist das Gemeindehaus. Auch ich werde da heute aufgrund des Unwetters übernächtigen. Es gibt ein zusätzliches Gästebett. Das kannst du für diese eine Nacht belegen.«

Misstrauisch und zugleich verwundert schielte Leon nun zu ihm auf. Ein kirchlicher Mensch, der ihm aufrichtig eine Bleibe anbot? Früher hätte er das für gewöhnlich und selbstverständlich erachtet, nur hatte er schon viele andere Erfahrungen machen müssen, die ihm das Gegenteil bewiesen. Erst heute.

Da der Fremde aufgestanden war, rutschte er mit gesenktem Kopf ein kleines Stück näher zum Mittelgang der Kirche, um so seiner Bedürftigkeit aber auch Unsicherheit Ausdruck verleihen zu können.

»Vergiss deine Tasche nicht. Und dann lass uns nichts wie weg rüber ins Warme gehen.«

Leon bewunderte den Mann dafür, dass er ihn nicht auf eine widerliche Weise bedrängte; dass er ihn offenbar nicht für einen ekligen Jungen hielt. Genauso sehr für seine Geduld mit ihm. Er duckte sich, um den Beutel aufzuheben, den er vorhin in der gleichen Eile unter die Bank geschoben hatte, wie er ihn auch beim Aufbruch in Grauen an sich nahm. Alle Gedanken an den Inhalt wollte er bloß wegschieben, nun musste er ihn weiter mit sich herumtragen.

»Ich bin Pastor Hansen«, stellte der Mann sich endlich vor, als Leon sich aufrappeln konnte. »Und wie heißt du, mein Kind?«

Doch Leon entschied sich weiterhin stumm zu bleiben. Weniger ist manchmal mehr, dachte er sich. Welche Rolle spielte es, ob Pastor Hansen seinen Namen kannte oder nicht?

»Sprichst du nur nicht gerne oder bist du des Sprechens nicht mächtig?«, fragte der Pastor Leon und sich selbst vermutlich gleichermaßen.

Doch auch darauf erhielt er keine Antwort. Leon gab ihm ebenso wenig eine Reaktion mittels Gestiken oder Mimiken. Ihm war bewusst geworden, dass dieser Ort lediglich eine Station darstellen durfte. Es war viel zu nah an Wolfgangs Haus und dieser konnte hier jederzeit auftauchen, um nach seinem verlorenen Schaf zu suchen.

Pastor Hansen führte Leon zu einem Seitenausgang, an dem er warten sollte, während er selbst die Haupttüren verschließen ging. Als er zurückkehrte, führte er sie über den Seitenausgang hinaus in einen kleinen Hof, der ebenso wenig vom Wintertreiben verschont geblieben war wie der Rest der Welt. Doch der Windrausch entging ihm hier. Leon konnte sich diesen kleinen Innenbereich sehr gemütlich vorstellen, obwohl zu diesem Moment lediglich die vier begrenzenden Mauern – neben Schnee – zu sehen waren. Doch unter ihm bemerkte er den mit Sicherheit hübschen steinernen Weg, und wenn er aus Versehen daneben trat, spürte er, wie der Boden nachgab. Rasen oder Erde, vielleicht auch Beete. Ein Fleck Ruhe.

Der Weg zum Gemeindehaus war kurz. Als sie es betraten, war es, als würde Leon die Haut ein zweites Mal aufreißen. Er empfing die wohlige Wärme mit offenen Armen, doch seine Haut wehrte sich vehement. Schützend hielt er sich sofort seine Hände vor das Gesicht.

»Was hast du denn?«, fragte der Pastor besorgt von der Seite und wollte ihm seine Hand runternehmen. Doch Leon versuchte Widerstand zu leisten. Nach kurzer Zeit ließen seine Kräfte nach und dem Pastor gelang es, sein Gesicht zu begutachten. »O Herr im Himmel«, stieß er aus. »Das schaut grausamer aus, als ich eben noch erahnen konnte.«

Mit raschen Schritten entfernte sich Pastor Hansen, während sich in Leon bereits das nächste Rauschen anbahnte. 

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