28 | ... und das Ende

»Und wenn sie nicht gestorben sind, dann ...«, komme ich zum Ende meiner Geschichte. »Lassen wir das lieber«, entscheide ich. Wir haben es geschafft, was mich lächeln lässt.

Noah starrt mich an. Ich habe ihn wohl verschreckt. Das zumindest kann ich in seinen braunen Augen erkennen. Verübeln kann ich es ihm nicht. Das wäre ich vielleicht auch, nur würde ich es nicht derart zeigen.

Dennoch traut er sich, seinen Mund zu öffnen. »Was war in dem Kästchen?«, kommen dann auch die Worte heraus, die ich mir dachte.

»Trophäen.« Dieses unheilbringende Stück Metall ... Hätte ich es doch nie geöffnet. Meine Hand legt sich auch jetzt auf mein Brustbein. Ich nehme den verfluchten Schlüssel und drehe ihn zwischen meinen Fingern. Das Kreuz, was ich nach wie vor bei mir trage.

»Was meinst du?«, fragt er nach.

»Was glaubst du?«, gebe ich sofort zurück.

Deutlich sichtbar schluckt er. Er kann es sich denken. Ich lehne mich nach hinten an die Rückenlehne des Stuhls, gucke nach links durch das Gitterfenster hinaus. Die Geschichte hat mich selbst erschöpft. Lange ist es her, aber an keinem Tag habe ich das Versprechen mir gegenüber gebrochen.

Der Himmel hat sich verändert. Wolken schieben sich vor die strahlende Sonne. Sicherlich wird es später noch regnen.

»Hast du–«

»Mit wem sprechen Sie?«

Erschrocken drehe ich mich nach rechts. Ich habe die Schritte im Gang zu meiner Verwunderung nicht gehört, sonst vernehme ich sie sogar, wenn sie sich nähern. Ein Wärter steht am Sichtfenster und lugt hinein.

»Mit wem ich spreche?«, frage ich nach, woraufhin er nickt.

»Ja, ich habe Sie schon mehrmals angesprochen, aber irgendwie haben Sie nicht reagiert.«

Verblüfft blicke ich zurück zu dem Platz von Noah. Dann wieder zum Sichtfenster und wieder zurück. Bestimmt wiederhole ich das dreimal. Noah ist nicht da, er sitzt dort nicht mehr. »Wo ist Noah hin?«, frage ich teils verzweifelt, teils schreiend zu Noahs leerem Platz.

Dann blicke ich zum Sichtfenster. Der Wärter verwirrt mich mehr und mehr. Er hat die Zelle offenbar eben geöffnet, zumindest kommt er nun einen Schritt hinein. Die Hände hält er gut sichtbar nach unten. »Ist bei Ihnen alles gut?«

»Ich weiß es nicht«, sage ich ehrlich heraus, was mich selbst erstaunt. Meine Stimme klingt sehr brüchig. »Wo ist Noah?«, hake ich noch mal nach, weil es mir sehr wichtig scheint, die Antwort darauf zu erhalten.

»Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, wer Noah ist«, antwortet er mir, wobei ich spüre, dass er überfordert zu sein scheint.

Was ist hier los? »Der, der hier eben noch saß«, sage ich und zeige auf den Platz.

Der Wärter kommt noch einen Schritt näher. Seine Bewegungen setzt er vorsichtig. Aber in einer Art, die nicht bedrohlich auf mich wirkt. Ich glaube, er will mir helfen. Aber warum und weswegen?

Mein Kopf wird ganz schwer. Es fühlt sich alles so merkwürdig an. Es fängt an, sich alles zu drehen. Um nicht den Halt zu verlieren, fokussiere ich mich auf den Boden. Einen Fleck auf dem Boden.

»Vielleicht kommt er gleich wieder. Ich weiß gerade nicht, wie ich Ihnen helfen kann. Kann ich jemanden für Sie anrufen?«

»Jemanden für mich anrufen?«, frage ich irritiert nach. »Wegen Noah?«

»Nein für Sie. Wenn Sie möchten, kann ich auch so lange hier mit Ihnen warten«, bietet er an, aber ich verstehe nicht, was er damit meint. Ich schaue hoch zu ihm, doch ich begreife es noch immer nicht.

»Mhm«, mache ich lediglich, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll.

Die Strahlen der Sonne blenden mich, sie haben es irgendwie durch die Wolkenfront geschafft. Da es mir zusätzlich zusetzt, senke ich wieder meinen Kopf. Und weil der Schwindel zunimmt, schließe ich meine Augen.

»Wenn das in Ordnung ist, setze ich mich hier erst einmal zu Ihnen.«

Auf Noahs Platz?! »Nein!« Ich öffne meine Augen. »Tut mir leid«, spreche ich schnell aus, denn er sitzt nicht mir gegenüber, sondern rechts von mir.

Nun blendet mich die Sonne von dort – von rechts, nicht von links. Wie ist das beides möglich? Ich fasse mir an die Stirn, schließe erneut meine Augen. Kalter Schweiß klebt mir im Gesicht.

Der Flamingo steht auf einem Bein. Mein Schädel tut ordentlich weh. Mit zwei Flügeln fliegt ein Vogel. Hat mich Noah überwältigt? Aber wieso? Drei Finger hat ein Faultier. Wer ist dieser Wärter? Vier Pfötchen ... Er trägt gar keine Uniform! Vier Pfötchen, ... äh ... tapsender Hund. Fuck! Was zum Teufel ist passiert? Fünf ... Ich werde gleich aufwachen. Fünf ... Augen ... Biene. Ganz sicher. Sechs Beine ... Ich komme nicht weiter.

Ich atme tief ein und aus, dann öffne ich meine Augen. Wo bin ich?

Rechts von mir sitzt nach wie vor der gleiche Fremde, der, sobald ich ihn anschaue, ein unbeholfenes Lächeln aufsetzt. In seiner Hand hält er ein Handy.

Ich bin sicherlich am Durchdrehen, mein Hirn spinnt sich etwas zusammen. Sein Sitzplatz ist ein Baumstamm, einer, der als Bank fungiert. Ich gucke an mir herunter. Ich sitze ebenso da drauf. Ich muss eingeschlafen sein und träumen. Nachdem ich mich kneife, ist es immer noch so. Ist das möglich? Mir wird erneut schummrig.

Diese vielen Bilder vor mir wollen nicht zueinander passen. Meine Zelle. Der Baumstamm. Noah. Dieser Fremde.

Ich zwinge mich dazu, hinzuschauen. Immer wieder schiebt sich das Bild meiner Zelle vor meine Augen; vor dem, was ich sehe. Sehe ich es denn wirklich? Was soll ich glauben?

Rechts von mir, wo die Zellentür sein müsste, befindet sich ein Torbogen oder so etwas in der Art. Es scheint irgendetwas Historisches zu sein. Zu meinen Füßen befindet sich Rasen. Davor ein breiter Gehweg, auf dem Menschen entlanglaufen. Noahs Bett ist ebenso eine Baumstamm-Bank.

Fuck. Mit meinen Händen, die ich zu Fäusten balle, reibe ich mir die Augen. Es ist immer noch eine Art Park?!

Das Bild der Zelle verblasst. Links – mein Fenster mit den Gitterstäben – muss eine komplette Einbildung gewesen sein. Da ist nichts. Immer mehr ruckelt es in mir, wird mir klar, wo ich mich befinde. Ich kenne diesen Ort, glaube ich, irgendwoher.

Ich gucke den Fremden neben mir an, dessen Blick ich bei meiner Beobachtungstour die ganze Zeit gespürt habe, und muss lachen. Ein tiefer Basston.

Obwohl ich bemerke, wie der Fremde Angst bekommt, bleibt er sitzen und ich lache und lache. Das Lachen verändert sich. Es liegt sowohl Schwermut als auch Heiterkeit drin. Ich kann einfach nicht anders – mich vielleicht auch nicht anders ausdrücken – als zu lachen. Über mich und die anderen. Vor allem über mich.

Abseits von Grauen hält das Leben für manche dennoch nichts als Grauen bereit. Märchen sind wahr und es könnte nichts Schlimmeres geben – ich wusste es doch. 

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