23 | Staunen
Leon war tatsächlich zu Pastor Hansen aufgebrochen, um ihn zur Rede zu stellen.
Nachdem er zunächst durch Linden umherirrte, sein Gemüt sich etwas beruhigen konnte, blieb er stehen. Auf der Rückseite der Bibliothek.
Ein Glück, dass ich noch rechtzeitig daran dachte. Bevor er aus der Bibliothek hechtete, fiel ihm noch etwas ein. Mist, hatte er sich am Tresen im Empfangsbereich noch gedacht, denn eins vergaß er völlig zu recherchieren. Darum überwand er sich – sonst hätte er noch einmal hineingehen müssen und das wäre sehr unangenehm für ihn gewesen –, den Mitarbeiter freundlich zu bitten, etwas für ihn herauszufinden. »Könnten Sie bitte einmal schauen, wer der heutige Pastor der Kirche St. Nikolai ist?«
Auf die Nachfrage welchen Ortes wusste er erst nicht, was er antworten sollte. Nach kurzem Grübeln sagte er schließlich, dass es der Nebenort von Grauen wäre und er den konkreten Ortsnamen vergessen hatte. Der Mitarbeiter hatte Erfolg und konnte ihm eine Auskunft geben.
Dass auch Pastor Hansen weiterhin seiner Tätigkeit als Pastor nachging, wühlte ihn zusätzlich auf. Als er das hörte, traf ihn das tief.
Erstaunt stellte er nun jedoch selbst seine Entschlossenheit fest, die er noch nie in dieser Art verspürt hatte. Er kannte den Weg; nicht nur seinen neuen inneren Weg, sondern auch den, den er physisch zurücklegen musste, um auf dem kürzesten zu Pastor Hansen und der Kirche St. Nikolai zu gelangen.
Die nächsten Tage verliefen ähnlich. Laufen, essen – wenn möglich – und trinken, schlafen, laufen. An jeder größeren Kreuzung und in jedem Ort gab es Richtungsschilder oder Karten, die er sich kurz anschaute, um sich zu vergewissern, dass er noch dem richtigen Pfad folgte. Seinen Rhythmus hatte er für den längeren Marsch, den der normalen Menschen angepasst. Abends las er meist in der Bibel, bevor er schlief und ließ sich morgens durch die Umgebung wecken. Meist durch Tiergeräusche oder Fahrzeuge, wenn er nah an Landstraßen schlief.
Viele Kilometer lagen hinter ihm, als er an einer bedeutungsvollen Kreuzung ankam. Sich widersprechende Signale strömten durch seinen Körper. Ausgelaugt und erschöpft durch den langen Weg wollte er nur noch ans Ziel ankommen, doch die kürzeste Strecke verweigerte ihm nicht nur sein Körper. Auch sein Geist streikte bei dem Gedanken, dort entlang zu laufen. Somit atmete er tief ein und aus und machte einen Schlenker nach links.
Den Umweg nahm er in Kauf. Er würde sich definitiv abseits von Grauen bewegen und auf keinen Fall durch diesen Ort hindurch. Obgleich das bedeutete, dass er einen Tag länger benötigen würde und dazu nun eine Nacht mehr im Freien an einer befahrenen Straße verbringen musste. Er ging in einen Feldweg hinein und suchte sich dort eine geeignete Stelle, um sich sein Schlaflager aufzubauen.
Am nächsten Morgen konnte Leon es kaum fassen, dass er an diesem Abend die Kirche St. Nikolai tatsächlich erreichen würde. Die letzte Strecke zog sich teilweise quälend langsam, andere Abschnitte bekam er dahingehend kaum mit, weil Aufregung und Nervosität ihn fest im Griff hatten.
Aus einiger Entfernung ragten die Umrisse des vertrauten Ortes auf. Gemischte Gefühle machten sich in ihm breit. Er schloss es nie aus, einmal zurückzukehren, dachte aber nie daran, dass es dieses Anliegen mit dieser Frage sein würde.
Zum ersten Mal nahm er den Namen des Ortes bewusst wahr, als er die Schwelle passierte. Kirchhain. Hier lebte Leon eine lange Zeit. Ohne zu wissen, wie der Ort hieß. Ohne den Ort je kennengelernt, geschweige denn je die Welt außerhalb ernsthaft begriffen zu haben.
Ehrfürchtig bewegte er sich Schritt für Schritt geradewegs auf die Gemeinde und Kirche St. Nikolai zu. Er sah sich um, wollte alles um sich herum aufsaugen, doch nichts verankerte sich in ihm. Nicht wegen der einsetzenden Dämmerung, sondern weil sein Herz ihn daran hinderte. Es pochte wild und erinnerte ihn daran, warum er hier war.
Staunend hielt er vor den großen Kirchentüren inne. Er war da. Ein merkwürdiges Gefühl ergriff Besitz von ihm. Es kroch ihm hinterrücks in den Nacken, breitete sich dort aus und krabbelte zu beiden Seiten in die Schultern, um von dort schauerartig herunter zu rauschen.
Leon schüttelte sich. Wie um sich selbst zu bestätigen, nickte er sich zu und öffnete dann entschlossen die Tür vor ihm. Ein kalter Luftzug kam ihm entgegen, der ihn eilig die Tür hinter sich zuziehen ließ. Nur kurz darauf ergriff er die Klinke der Seitentür und schlüpfte ebenso dort hindurch. Mit langsamen Schritten glitt er über den marmornen Boden des Kirchenschiffs. Obwohl er viele Jahre nicht vor Ort war, hatte er es genauso in Erinnerung. Den langen Mittelgang, der ihn zum Altar bringen würde. Darüber Jesus, den er direkt betrachtete. Es brachte ihn noch immer zum Staunen, warum Gott seinen Sohn geopfert hatte – für sie alle.
Er schritt leise und vorsichtig durch die Halle, bis er an diesem einen Platz ankam. Dort ließ er sich auf der Bank nieder, schaute erneut zu Jesus hoch und bat um Beistand.
Nachdem er sich akklimatisiert hatte, holte er seine Bibel aus seinem Beutel und schlug sie auf. Auf der Seite mit den Zeilen, die sein einstiges Vorbild für ihn unterstrich.
Das gläubige Gebet wird den Kranken retten und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden begangen hat, werden sie ihm vergeben.
Wie so oft schon fuhr er ein weiteres Mal mit seinen Fingern über die Worte, die ihm einst so viel gaben.
»Guten Abend, junger Herr«, hörte Leon eine Stimme, die durch das Kirchenschiff hallte. Eine Klangfarbe, die ihn an alte Zeiten erinnerte; ihn an einen ganz anderen Abend zurückversetzte. Als er überfordert und hilflos an derselben Stelle Platz genommen hatte. Er hatte es wie damals auch an diesem Abend nicht mitbekommen, dass jemand das Schiff – die Arche – betrat.
Damals ein Abend voller Wunder, der ihn auf den Pfad des Vertrauens zurückbrachte, womit er niemals gerechnet hatte. Was er irgendwann zu seinem eigenen Erstaunen außer Acht gelassen hatte, war, dass damit alles erneut zum Einstürzen gebracht wurde.
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