22 | ... eine Unterbrechung ...

So in etwa war das wohl, dachte ich mir weiter und unterbreche meine Erzählung. Eine Pause wäre jetzt kurz angebracht.

»Die Würfel waren gefallen?«, hakt Noah nach nur kurzer Zeit nach.

»Kann man so nennen, ja«, erwidere ich.

»Kommt dann ... äh ... Also ... hm ... Jetzt gleich ... äh kommt ... danach das, ... äh ... Also warum du ... hier bist?«, stottert Noah herum.

Ich zucke mit den Schultern. Was wäre ich für ein Spielverderber, wenn ich verraten würde, wie es weitergeht. Nee, so bin ich ja nicht.

Es entsteht eine Stille zwischen uns. Ich kann ihn schon verstehen, aber hey, ohne Grund ist keiner von uns hier. Okay, er vielleicht schon. Keine Ahnung, da bin ich mir immer noch nicht sicher. Aber warum, wie, was, das wird der Reihe nach erzählt.

Aber mittlerweile scheint Noah mir auch irgendwie schwer in Ordnung zu sein, jedenfalls hört er mir zu. Außerdem versucht er zumindest, mich nicht die ganze Zeit anzustarren. Ein Pluspunkt – definitiv.

»Warst du ...« Mein Blick lässt ihn unterbrechen und beschämt schaut er nach unten. Er weiß genau, warum. Deswegen setzt er auch ganz brav neu an: »War Leon wirklich all die Jahre ganz allein?«, womit er auf einen anderen Aspekt der Geschichte lenkt.

»Ja.«

»Seitdem er von Pastor Hansen fortging?«

»Wenn man mal von ein paar Bekanntschaften, die nicht der Rede wert sind, absieht, dann ja.«

»Bis er ihn wieder besuchte, wenn ich es richtig deute?«

»Besuch klingt zwar sehr niedlich, aber ja, das hast du schon richtig verstanden.«

»Vier Jahre lang?«

»Es waren eher drei, aber ja«, antworte ich nun leicht gereizt. Wie oft soll ich es noch bestätigen?

»Aber wir brauchen doch Menschen um uns.«

»Wen meinst du mit wir

»Menschen«, flüstert er und schaut mich, glaube ich, wehleidig an. »Menschen brauchen Menschen.«

»Sprich bitte nur für dich«, entgegne ich. Habe ich eben noch gedacht, dass ich mich langsam für ihn erwärmen könnte?!

»Es ist eins unserer Grundbedürfnisse«, setzt Noah zu meiner Verwunderung mit Nachdruck nach.

»Was soll das jetzt werden, Noah? Willst du mir jetzt etwas vorpredigen?«, reagiere ich noch gereizter.

»Ich finde, es ist ein Unding, wie Leon behandelt wurde!«, empört er sich. Was ist denn jetzt in sein Hirn quer geschossen gekommen? »Er war ja nicht nur alleine, was schon schlimm genug ist, missbraucht wurde–«

»Stopp, stopp!«, unterbreche ich ihn scharf und hebe eine Hand zur Abwehr. »Er wurde nicht missbraucht!«

»Natürlich!«, ruft er aus. Dabei stützt er sich nach vorne mit beiden Händen auf dem Tisch ab und beugt sich zu mir. Seine Haltung entspricht überhaupt nicht mehr dem anfänglichen Noah. »Es gibt doch nicht nur sexuellen Missbrauch. Der Junge wurde seiner Entfaltung beraubt und auch seiner Menschenwürde; von Institutionen und Menschen gedemütigt und auch – ob du es hören willst oder nicht – missbraucht

Ich starre ihn perplex an, was dazu führt, dass wir uns in einem Blickduell wiederfinden. Ohne aufzugeben – falls er überhaupt an das Gleiche dachte –, spricht er fort: »Und er konnte nicht aufgefangen werden – von wem denn auch?«

Noah ist bei seinen letzten Worten aufgesprungen und fuchtelt nun wild mit seinen Händen herum. »Wo war denn da die allseits beliebte Zivilcourage, das Sozialsystem? Oder was weiß ich? Nicht mal die Grundbedürfnisse eines Menschen konnten gedeckt werden.«

Ich hätte niemals damit gerechnet, dass Noahs Stimme ein solches Organ versteckt hielt. Wie oft hat dich deine Menschenkenntnis schon betrogen?, fällt mir seine Frage von vorhin wieder ein. Wenn er nur wüsste ... Oder vielleicht ist es ihm nun auch bewusst.

Wieder läuft er nun auf seiner merkwürdigen Linie auf und ab. Ich bin viel zu geplättet von seiner Ansprache, als das ich wie gewohnt zynisch und angriffslustig reagieren könnte. Was zur Hölle geht hier ab? Was ist denn mit ihm durchgegangen?

»Sag mir, Leon«, äußert Noah nun wieder beherrschter. »Hat Leon je selbst – ich meine wirklich von sich aus, aus seinem tiefsten Inneren – entschieden, worauf er Lust hat, was er machen möchte?«

»Bestimmt«, antworte ich zugegebenermaßen unsicher.

»Bestimmt?«, fragt er mit hochgezogener Augenbraue. »Das kann ich mir nicht vorstellen, viel eher, dass er nicht wusste, was er sonst tun sollte.«

»Du hast keine Ahnung, was noch kommt«, gebe ich zu bedenken.

»Ich weiß, trotzdem meine ich das alles ehrlich. Fehler kann er ja dennoch gemacht haben oder Taten, die ich nicht für richtig halte.«

»Klingt, als wüsstest du, wovon du sprichst oder vielmehr, als würdest du von dir reden«, äußere ich bewusst mit provokanter Stimmlage. Auch wenn ich den gut gemeinten Anteil erhaschen kann, verunsichert er mich mit seinen Aussagen. Diesen Zustand wollte ich nie wieder zulassen.

Vor mir sitzt nicht mehr der gleiche Noah wie zu Beginn. Ein sarkastisches Grinsen ist seine Antwort auf meine Aussage. Äußerlich schaut er nach wie vor wie der zerbrechliche Kerl aus, doch in ihm scheint weit mehr zu stecken.

Ihn beobachtend nehme ich einen großen Schluck Wasser. Er ist nicht so berechenbar, wie ich vermutet hatte. »Geht es wieder?«, frage ich. Ob ich dabei eher mich oder ihn meine, bleibt mal dahingestellt.

»Ich denke.« Auch bei seiner Antwort bin ich mir unklar, wen er meint.

»Also soll ich weiter erzählen?«

»Ja, bitte.« Er kommt wieder an den Tisch und setzt sich hin.

»Gut.« Ich nicke ihm zu und sehe, wie er kontrolliert versucht zu atmen. »Leon war tatsächlich zu Pastor Hansen aufgebrochen«, bestätige ich ihn in seiner Annahme ... 

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