2 | Grauen

Es war einmal vor langer Zeit in einem kleinen Ort mit dem Namen Grauen, da geriet ein Junge in einen unheilbringenden Schneesturm.

Ein eisiger Wind stob bereits seit etlichen Tagen durch die Straßen, der immerzu nebst der stacheligen, schmerzenden Kälte den Schnee heran wehte. Ebenso wie der Ort war auch der Junge angepasst und unsichtbar. Für die meisten.

Er geriet nicht zufällig in das Schneetreiben. Er wurde dazu verdonnert, Kohlen aus dem Schuppen zu besorgen, damit der Nachfüllbestand im Inneren des Hauses gesichert war.

Schließlich sei Leon ein zehnjähriger Junge, der auch mal anpacken müsse, um sich im Haus dienlich zu zeigen.

Trotz dessen sich innerlich ein Widerstand aufbäumte, lehnte er sich nicht auf, so klug war er. Er wusste, wann er was sagen konnte und wann es besser war, den Mund zu halten. Außerdem hatte er den Herrschaften vieles zu verdanken. Daher ging er mit gesenktem Kopf und zerlumpter Kleidung hinaus in die verschneite Welt, in der kaum noch etwas zu erkennen war.

Hinter sich verschloss er die Tür unmittelbar, damit es drinnen nicht auskühlte und er nicht dafür den Unmut des Hausherrn und der Hausdame auf sich ziehen würde. Sie waren gütig, doch genauso streng.

Mit den klobigen Schuhen an seinen Füßen versuchte er den richtigen Pfad abzuklopfen, denn seine Augen halfen ihm hierbei nicht mehr. So gut wie es ihm möglich war, schützte er sich vor den herannahenden Böen, die kleinste Körnchen vom Boden aufwirbelten, um sich ihm in die Haut zu bohren, als wären es Kieselsteine.

Sein dünnes Jäckchen wies glücklicherweise einen Kragen auf, sodass sein Hals- und Nackenbereich verschont blieb. Die Arme ließ er schrumpfen. Dadurch konnte er seine Hände zu Fäusten geballt in den Ärmeln verstecken.

Das glänzende Metall führte ihn. Die Schubkarre, mit der er die Kohlen zurückchauffieren musste, stand an dem Eingang zum Schuppen. Ein kleiner Teil war zum Glück noch nicht bedeckt – oder nicht mehr –, sodass es immer wieder aufblitzte und Leon verriet, ob er noch in die richtige Richtung lief.

Zwischen Wohnhaus und Schuppen lagen ungefähr siebenhundert Meter und bei diesem Treiben würde es sich nach wenigstens dem Doppelten anfühlen. Und das zweimal. Ein anstrengendes Vorhaben.

Doch er konnte froh sein, dass der Hausherr, ein Pastor, sich ihm damals annahm. Andernfalls wäre er vielleicht gar nicht mehr unter den Lebenden. Obgleich Leon erst zehn Jahre alt war, wusste er um die grausamen Realitäten in der Welt Bescheid. Ebenso drum, dass er dafür gewisse Opfer bringen musste.

Kleidung mit Löchern und kein ordentliches Bett zu haben, waren das geringste Übel. Die Kohlen zu holen, ohne zu wissen, wie er die Schubkarre über den verschneiten glatten Weg befördern soll, schon eher. Doch normalerweise nicht. Etliche Tage und Nächte unter Hunger zu leiden oder die ewigen wirren Predigten von Pastor Wolfgang anzuhören, das vielmehr.

Du solltest eher dankbar sein, erinnerte sich Leon zum wiederholten Male. Du kostest sie Geld. Wo sollte er sonst hin? Hier hatte er immerhin eine Bleibe.

Leon schob das Vorhängeschloss einfach ab. Es war seit längerer Zeit kaputt. Erneut durchfuhr ihn ein Ruck, sein schlechtes Gewissen meldete sich. Er wollte es Pastor Wolfgang direkt erzählen. Zunächst. Doch dann entschied er sich anders. Hiermit hatte er sich einen kleinen Schutzraum geschaffen. Wenn er einmal nur für sich sein wollte, um seine Gedanken zu ordnen. Hier kam kein anderer her. Sie schickten schließlich immer ihn.

Eilig lief er durch den Innenraum, um zu den Kohlen zu gelangen. Als erstes schuf er sie zu dem Eingang, um sie im zweiten Anlauf auf die Schubkarre zu hieven. Hin und her flitzte er, bis er meinte, eine Karre vollladen zu können.

Wenn ich das getan habe, gönne ich mir noch ein paar Minuten Frieden im Schuppen.

Er trat hinaus, um die Schubkarre von den Massen ringsherum zu befreien und sie dann vor der Tür zu positionieren. Stück um Stück verlud er die dunkle Fracht. Als er den letzten Brocken plumpsen ließ, funkelte ihm etwas entgegen.

Er beugte sich hinunter zu dem, was einst eine Tretmatte gewesen sein sollte, und wischte vorsichtig den restlichen Schnee beiseite. Zwischen Schubkarre und der Matte kam ein kleiner goldener Gegenstand zum Vorschein. Ein Kreuz. Bei genauerem Betrachten erwies es sich zudem als Schlüssel.

Wo ein Schlüssel ist, da gibt es auch ein Schloss, zu dem es passt.

Aufregung durchfuhr ihn. Er suchte den Boden um ihn herum ab, doch fand nichts. Wie fest vorgenommen, ging er in den Schuppen hinein, was er nun noch nötiger hatte. Seine Hände waren ganz rot, er spürte sie kaum noch.

Der Schlüssel ließ ihn jedoch nicht in Ruhe. Mit den Fingern glitt er über die glatte Oberfläche des Kreuzes. Dann nahm er ihn in seine rechte Hand, schritt durch den Schuppen und hielt Ausschau nach einem Gegenstand mit einem Schloss.

In der hintersten Ecke, eine, in die er bisher noch nie vorgedrungen war, stand ein kleines Kästchen. Sein nervöses Gefühl sagte ihm, dass er vor dem richtigen Stück stehen würde. Es war so breit wie sein Schoß, aus Metall und nach dem er es umdrehte, sah er ein Schloss in der Farbe des Schlüssels.

Leon stellte sich vor, was dort in dem Kästchen verborgen sein könnte. Womöglich etwas, das ihm zum Reichtum verhelfen könnte; das ihn nicht mehr hungern lassen würde; saubere, heile Kleidung. Ein Schatz.

Mit geschlossenen Augen betete er zum Allmächtigen, dass sich dort etwas befände, das ihm auf seinem Weg behilflich sein würde. Vielleicht auch eine Antwort auf seine innersten Fragen.

Dann öffnete er seine Lider, steckte den Schlüssel hinein und drehte ihn um, bis es ein Klick-Geräusch machte. 

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